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Herr Stein reist

Wo Schopenhauers Stachelschweine Lambada tanzen…

Wie ich persönlich in den Libanon geflogen bin, um den dort ansässigen Großclans zu erklären, wie sich ihre Verwandtschaft hier bei uns gefälligst aufzuführen hat.

Es gibt Aufgaben, die sind nicht für jedermann. Dafür muss man aus einem besonderen Holz geschnitzt sein, mit Wassern besonderen Härtegrades gewaschen, schon als Kleinkind mit der Wurzelbürste geschrubbt worden sein. Mein Sandkasten früher war geschottert.

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Ich will nicht lügen: Dieser Trip stand schon von von der ersten Sekunde an im Zeichen der Gefahr. Mein Flug über Istanbul nach Beirut ging nämlich schon um sieben Uhr früh, was bedeutet, dass ich Samstag nachts um halb vier durch die Obermünstergasse zum Bahnhof gemusst hätte.

Samstag nachts halb vier. Durch die Obermünstergasse. Wo der Wohlstandsmob tobt und seine Sexualfrustrationen zum Tageskurs in Aggressivität umtauscht. Ich hab dann einen Umweg gemacht. Man darf Heldenmut nicht mit Leichtsinn verwechseln.

Vielleicht lässt sich erahnen, worauf ich hinauswill: Das mit der Gefahr ist manchmal ein sehr subjektives Ding, und von Klischees nicht unbelastet. Meine Idee, für eine Reportage über die Barkultur in einer von Katastrophen reichlich heimgesuchten Stadt nach Beirut zu fliegen, wurde nun tatsächlich weder von Freunden noch von der Familie mit großer Begeisterung aufgenommen. Was war denn auch das letzte Gute, das aus Beirut gekommen ist? Keanu Reeves?

Jedenfalls wusste ich von Bekannten aus Zypern, dass sie den kurzen Sprung in den Libanon immer wieder für Ausflüge nutzten. Echt, dachte ich? Da kann man Ausflüge hin machen? Natürlich kannte ich auch den Spruch vom Paris des Nahen Ostens, wo früher mehr Côte d’Azur war als an der Côte d’Azur. Allerdings beginnen meine ersten bewussten Erinnerungen mit den TV-Bildern aus dem Bürgerkrieg Ende der 70er Jahre und enden mit der großen Hafenexplosion 2020, die weite Teile der Stadt in Schutt und Asche legte.

Korruption, Vetternwirtschaft und Bürokratismus bestimmen die Politik der Stadt, in der dem Anschein nach dennoch ein reges Leben stattfindet. Na gut, dachte ich bei mir, halt so ein bisschen Regensburg mit besserem Wetter. Was soll schon passieren.

Natürlich ist so ein Trip in erster Linie ein Realitätscheck, und auch jetzt noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich es eher beeindruckend oder beängstigend finden soll, wie viel in einem Umfeld funktioniert, in dem kaum etwas wirklich funktioniert.

Im Großen gesehen befindet sich der Libanon in einem konstanten Prozess der effizienten Selbstsabotage, und dazu zählt auch, dass man tausende Tonnen Ammoniumnitrat jahrelang in einer Lagerhalle der Katastrophe entgegengammeln lässt, weil niemand die erforderlichen offiziellen und inoffiziellen Mittel aufbringt, um Hafenmeisterei und Zoll zur Pflichterfüllung zu motivieren.

Angeblich gibt es in Beirut 17 verschiedene Religionen; der Begriff „konkurrierend“ wäre da nur tautologisch zu verwenden. Andererseits – eine dominante Religion ist schlimm, zwei bedeuten sicheren Krieg … aber 17? Das wird auch dem dem größten Fanatiker zu anstrengend, und man arrangiert sich halt irgendwie. Meine Theorie ist, dass Religionen im gehäuften Auftreten weniger unerträglich werden, aus ganz pragmatischen Ursachen heraus. 17 scheint da ein guter Ansatz. Es bleiben auch alle ein bisschen unter sich, und mit ein bisschen aktivem Denken weiß man schon, was man wo machen darf. Vom Flughafen weg führt zum Beispiel die Imam-Khomeini-Avenue – möglicherweise die falsche Straße, um nackt Lambada zu tanzen.

Fun Fact: Neuester Chaos-Beitrag der Regierung war eine Verschiebung der Zeitumstellung auf die Sommerzeit, um den Fastenden im Ramadan entgegenzukommen. Daran wollten sich aber die wenigsten anderen halten, was dazu führte, dass nun zwei Zeiten parallel galten. Man kann auch das schlimmste Chaos immer noch ein bisschen weiter anheizen.

Vermutlich ist das Problem da auch die ganz spezielle Form der Demokratie: Das Wahlverhalten bleibt dem eigenen Soziotop entsprechend endemisch. Weniger geschwollen ausgedrückt: Ich wähle meinen Babo und bleibe ihm treu, wurscht, was der gemacht hat.

Auch das ein bisschen wie Regensburg. Plant man nicht auch da irgendwo einen Busbahnhof? Ein Kongresszentrum? Wo soll wohl in Beirut die Stadtbahn verlaufen?

Früher musste man sich in Beirut damit abfinden, dass der Strom eventuell zwei Stunden am Tag abgestellt wurde; heute gibt es maximal für zwei Stunden Strom, was zu der aberwitzigen Situation führt, dass eine Millionenstadt fast komplett an Dieselgeneratoren hängt. An denen dann wiederum auch die steigende Zahl der E-Roller geladen wird. Man wüsste als Aktivist im Zweifel gar nicht, woran man sich zuerst festkleben soll.

Man kann natürlich durch die Straßen Beiruts gehen und sich freuen, wie ordentlich doch im Vergleich dazu alles bei uns abläuft. Man kann aber auch voller Bewunderung anerkennen, wie sehr sich die Menschen dort innerhalb widrigster Umstände zurechtfinden und ihr Leben leben.

Das Carpe Diem, das sich hierzulande jeder zweite Horst und jede dritte Uschi ins Dekolleté tätowieren lassen, wird da der Floskelhaftigkeit ganz gründlich entrissen. Jeder da hat ganz real mitbekommen, dass man sich nicht darauf verlassen kann, das Morgen zu sehen, und die irrsinnige Inflation führt auch nicht dazu, dass die Leute sparen. Wozu auch? Die Clubszene Beiruts, sagen Kenner, sei die beste der Welt.

Gefühlt raucht jeder und überall; Zigaretten sind billig. Es wird auf der Straße geraucht, in der Bar, und auch im Restaurant, vor, während und nach dem Essen. Es ist vermutlich schwierig, in einer Stadt wie dieser das Bewusstsein für die möglichen Gefahren einer langfristigen Gesundheitsgefährdung zu entwickeln. Zukunftsplanung ist hier so gefragt wie Schwangerschaftsgymnastik im Priesterkolleg. Die Riester-Rente wäre hier kein Erfolgsmodell.

Ein Barbesitzer zeigt mir das Handyvideo, das er vom brennenden Silo ein paar hundert Meter gegenüber gemacht hat – bis zur Explosion, bei der ein Mitarbeiter stirbt und die Bar in Schutt und Asche gelegt wird. Mittlerweile ist sie wieder am Start; die Qualität ist ausgezeichnet. Auch mein Gastgeber hat seine Bar verloren und Bilder einer Überwachungskamera, die zeigen, wie plötzlich die Schaufenster ins Lokal geflogen kommen und die Gäste von den Stühlen fegen. Das Haus ist einsturzgefährdet; ich steige nachts mal ein und mache ein paar Bilder von den Resten einer Bar, die einmal zu den 50 Besten der Welt gezählt wurde.

Jad Ballout, der Betreiber, hat einen neuen Laden aufgemacht, ein paar Meter weiter, mit Blick auf Ground Zero im Hafen – auch das ist ein Bekenntnis zu einer Stadt, gerade wenn es von Menschen kommt, denen es nicht aufgezwungen ist, an welchem Ort sie ihren Lebensunterhalt verdienen.

Beirut ist eine Lehrstunde gegen bundesdeutsche Jammerlappigkeit, das steht fest. Man findet sich aber auch erstaunlich schnell zurecht: Ampeln funktionieren meistens nicht, und falls doch, empfiehlt es sich nicht, zu sehr auf das Grün zu vertrauen. Meiner Erfahrung nach ist das Überqueren der Straße vor teuren Autos relativ sicher, besonders als fetter Westler mit ordentlich Karrosserieschadenspotential. Ansonsten fährt jeder da genau so, wie er will, schamlos rücksichtslos.

Allerdings weiß auch jeder, dass alle anderen ganz genauso fahren, und das führt dazu, dass jeder doch ein bisschen darauf acht gibt, was die anderen hinter dem Steuer machen. Aus reinem Eigennutz. Und vielleicht lässt sich daraus eine Allegorie ableiten, weshalb das Leben in dieser Stadt dennoch funktioniert, wie holprig auch immer: Weil die Menschen sowieso immer davon ausgehen, dass ihr Gegenüber komplett irre ist.

Schopenhauers Stachelschweine frieren hier nicht, sie tanzen Lambada. Dennoch spürt man keine Aggressivität, gehupt wird eher pflichtschuldig, und überhaupt scheint es ganz entspannt zu sein, von seinen Mitmenschen einfach mal rein gar nichts zu erwarten.„"

Vielleicht ein Erfolgsrezept, wer weiß. Einfach mal mehr Rücksichtslosigkeit wagen.

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Kommentare (10)

  • Mr. T.

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    jetzt macht der Herr Stein auch noch einen auf Reiseschriftsteller – und steht Goethe, Hemingway und Twain in nichts nach! Hut ab 👏

    Faszinierend wie sich die Menschen im Libanon mit den Umständen arrangieren und trotzdem nicht in einen apokalyptischen Kampf um die begrenzten Ressourcen ziehen lassen. Ob das bei uns auch so möglich wäre? Schon die relativ geringen Einschränkungen durch die Pandemie, ob sie denn sinnlos oder zielführend waren, haben schon gezeigt, dass davon nur bei einigen die Kreativität getrieben wurde, viele andere haben sich mehr oder weniger nur noch in den Tränen der eigenen Lamentierei gesuhlt.

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  • Daniela

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    Bin begeistert, Herr Stein, bravo!

    Es ist von allem ein wenig, mild gewürzt, mit verdaulicher Satire, etwas Selbstironie und Humor. Ich hatte wirklich Spaß beim lesen. Vielen Dank

    Gelegentlich habe ich mich dabei erwischt, wie ich mich an der eigenen Nase rieb. Ein untrügliches Zeichen, dass es Zeit wäre mich einmal wieder selbst zu reflektieren.

    Liest man dies, erkennt man instinktiv, mir geht es doch verdammt gut, mehr als 2 Std Strom am Tag, Nichts fliegt einen abrupt um die Ohren….

    Wir jammern schon auf sehr hohem Niveau.

    Nur das mit der Rücksichtslosigkeit würde ich so nicht unterschreiben.

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  • Günther Herzig

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    “Beirut ist eine Lehrstunde gegen bundesdeutsche Jammerlappigkeit, das steht fest.”
    Ich wollte die Geschichte vorläufig, weil meine Zeit knapp war, nur überfliegen. Dann habe ich meinen Plan geändert, als ich den vorangestellten Satz las. Mehr richtiges und wahres kann ich heute sicher nicht finden. Aufmerksam nun lesend, entdecke ich die Geschichte in ihrer ganzen Breite und, ich bin beeindruckt. Ich habe etwas länger gebraucht, bis sich dieses Gefühl entwickelt hat. Das wird sich nicht mehr ändern.

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  • Luchs

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    Habe früher auch viel zu Barkultur geforscht. Konnte mich am nächsten Morgen immer nur daran erinnern, dass ich abends zu viel recherchiert hatte. Abgesehen davon, sehr lesenswerter Text! Fast das Beste zu einer Reise nach Beirut seit Mike Krüger 1984.

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  • Ben

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    Hr. Stein, meinen Sie das mit den 17 Religionen wirklich ernst? Das es „dem größten Fanatiker zu anstrengend“ werde und: „man arrangiert sich halt irgendwie“ ??

    Sie reisen in ein Land, in dem Bürgerkriege entlang von religiösen Identitäten und Konflikten seit über 60 Jahren zig Tausende Tote gefordert haben und fordern, und sie inspizieren die dortige Barkultur?
    Hr. Stein, ich bin von der Enge ihrer erkenntnisleitenden Fragestellung und Weite ihrer Schreibkunst tief beeindruckt – das Ergebnis ist aber sehr dünn.

    Sie versuchen die gesellschaftliche Realität eines Bürgerkriegslandes zu beschreiben und verlieren kein Wort darüber, dass alle Groß- und Regionalmächte im Libanon seit Anbeginn ihre geopolitischen Interessen verfolgen und die religiösen Vertreter und Autoritäten vor Ort dabei benutzt werden, diese ihrerseits aber auch hetzen.

    Sie verlieren kein Wort darüber, dass das kleine Libanon über 1,5 Mio Geflüchtete aus Syrien aufnahm und ein Viertel seiner Bevölkerung aus Geflüchteten besteht.
    Kein Wort über die gescheiterte Zedernrevolution von 2006 und den seitdem anhaltenden Staatkrisen.

    Stattdessen wollen sie aber stets Regensburger Verhältnisse sehen!?

    Vielleicht hätten Sie besser ihre Gesprächspartner aus Beirut mit nach Regensburg nehmen, mit ihnen eine Sauftour durch die Regensburger Bars unternehmen und die soziokulturellen Verhältnisse hier und dort zunächst erörtern sollen.
    Dann hätten Sie vielleicht ihren baristischen Blick über die Thekenkante hinaus weiten etwas können.

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  • Radler33

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    Das schöne an dem Artikel ist ja gerade, dass das von Ben vermisste nicht drin vorkommt, sondern einfach nur der “Bar-Alltag” des ganz normalen (Ausgeh-)Bürgers beschrieben wird, der vermutlich vom ‘geopolitischen’ und ‘religiösen’ Gestreite auch nichts zu tun haben will. Ein Artikel aus dieser Perspektive ist etwas besonderes. Was hier nicht drin ist lässt sich per google mit “libanon gesellschaft” in Hülle und Fülle finden.

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  • Mr. T.

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    Das ist eine Erlebniserzählung über die Eindrücke der Bar- und Ausgehkultur in Beirut. Nichts mehr und nichts weniger. Es wird aus subjektiver Sicht in griffigen Worten dargestellt, wie sich die wohlhabenderen Bewohner Beiruts mit dem Chaos arrangieren und sich das Ausgehen nicht verleiden lassen. Hier geht es nicht um die Analyse der Gründe für das Chaos.

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  • Daniela

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    Eben, ich habe den ‘Erlebnisbericht’ jetzt drei mal gelesen und entdecke für mich immer wieder neue Nachdenkansätze, zwischen ‘Carpe Diem’, dem ‘ Tanz auf einem Vulkan ‘, und eben ‘ Schopenhauers Stachelschweine’. Ein Leben, das abhängig ist, die richtige Nähe und Distanz für sich zu wählen, sich zu arrangieren mit allen Widrigkeiten und Nützlichem , geradezu paradox wirkend, in alledem Lambada tanzend…

    Dem gegenüber, das beschauliche Regensburg, mit seinen im Vergleich zu Beirut, klitzekleines Problemchen….

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  • Paul

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    Bleibt mir nur noch ihnen allen und ihrem Team ein frohes Osterfest zu wünschen.

    Endlich ist es soweit,
    willkommen in der Osterzeit.

    Der Hase nun die Eier bringt
    und fröhlich durch die Gärten springt.

    Ich wünsche zum Osterfeste
    alles Liebe und das Beste!

    (Katharina Anders)

    Paul

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  • Daniela

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    Allen, dem rd – Team, den Forumsteilnehmern und jedem der es sonst so liest..

    Ich wünsche ein gesegnetes Osterfest, hervorragendes Wetter, viel Freude mit Familie, Verwandten und Freunden.

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