Das Prinzchen schlief zum letzten Mal…
„Schlafe mein Prinzchen“: Trotz guter Besuchszahlen wurde das Stück des ehemaligen Domspatzen Franz Wittenbrink vom Spielplan des Berliner Ensembles genommen. Am Dienstag fand die letzte Aufführung statt. Ein Eindruck aus Berlin.
„Naa, do host scho recht, des is nochher dennert…“ – man hört viel bayerisches Stimmengewirr auf den Gängen und vor den Garderoben an diesem Januarabend im Berliner Ensemble. Manche scheinen extra angereist, manche ehemaligen Domspatzen leben schon länger im „Exil“ in Berlin und trotz des bestimmt hohen Anteils an „nativem“ Hauptstadtpublikum herrscht die Stimmung eines seltsamen, morbiden Klassentreffens. Ein sich in breitem Oberpfälzer Dialekt unterhaltender Mann mit runden Brillengläsern tauscht sich lauthals mit einem Bekannten aus. Es ist Michael Sieber von der Betroffeneninitiative intern-at. Auf seinem T-Shirt steht: „Gegen das Verdrängen, Vergessen, Verleumden“.
Das Bild einer Hauptstadt der katholisch-konservativen Verdrängung
Eindrücklich wird einem bewusst, dass Regensburg und seine Domspatzen dieser Tage wieder zu zweifelhafter, landesweiter Berühmtheit gelangt sind. Die neuesten Enthüllungen zum Missbrauchsskandal zeichnen von Regensburg das Bild einer Hauptstadt der katholisch-konservativen Verdrängung.
Regisseur Franz Wittenbrink, selbst ehemaliger Domspatz, hat sein Stück „Schlafe, mein Prinzchen“ schon lange vor dieser neuen Welle der Aufmerksamkeit inszeniert. Seit Juni 2015 im Programm, ist dies nun die letzte Vorstellung des knapp zweistündigen „musikalischen Abends“. Dieser gestaltet sich als Schauspielstück in zwei imaginären Akten (eine Unterbrechung gibt es nicht), dessen zentrales Element jedoch Liedpassagen sind, die von der zwölfköpfigen Besetzung manchmal im Chor, manchmal solo vorgetragen werden.
Da sind auf der einen Seite die Opfer, neun Jungen, die zum größten Teil von jungen Frauen gespielt werden, auf der anderen Seite steht die Täterfraktion – deutlich männlicher, erwachsener und vor allem bewusst ekelerregend. Thomas Wittman spielt den schmierigen, sadistischen Präfekten Fortner, dessen pomadiges Haar zu seiner drakonischen Strenge passt, die er gleich in der ersten Szene des Abends unter Beweis stellt.
„Wenn ich ein Vöglein wär…“
Die Kinder singen ihrem Lehrer um das Klavier versammelt eine liturgische Chorpassage vor – wieder und wieder versingen sich Einzelne bei dem schwierigen Gesangsstück. Was zunächst noch mit einem lauten Fallenlassen des Klavierdeckels seitens des Präfekten sanktioniert wird, artet bald in Gewaltexzesse aus. Nach der obligatorischen „Kopfnuss“ folgen Ohrenverdrehen, verbale Demütigungen und handfeste Watschen. Doch damit nicht genug, muss einer der Schüler nach Beendigung der regulären Unterrichtseinheit auch noch zur einzelnen Begutachtung bleiben. Er solle doch „schön brav durch den Bauch atmen“ wird ihm zuerst gesagt und dann „gezeigt“.
Es folgen weitere Episoden, in denen die Knaben von den Beteiligten der Schule systematisch schikaniert und gequält werden. Unter den schwertragenden Domsäulen und vor dem Glasfenster des Bühnenbilds, wird die Internatswelt mit all ihrer bedrückenden Bigotterie und Perversion abgebildet. Die Kinder können in ihrer Ausgeliefertheit nichts anderes als „Wenn ich ein Vöglein wär…“ singen und wieder und wieder ihrer Verzweiflung durch Tränen und Wutanfälle „Ich hasse ihn, ich bring ihn um…“ Luft machen.
Im Saal herrscht bei diesen Szenen beklemmende Stille. Nicht auszudenken, was diese Visualisierungen in den Opfern hervorrufen. Als sich Anderas Lechner (bekannt vor allem durch Zusammenarbeit mit Herbert Achternbusch und Josef Bierbichler) mit seinem geschätzt dreifachen Körpergewicht in das zarte Gitterbett eines Jungen presst und dazu das Agnus Dei erklingt, wird es auch für die Unbeteiligten schmerzhaft.
Auch Georg Ratzinger wird nicht verschont
Man mag dem Plakativen dieser Darstellungen im theatralen Rahmen vielleicht nicht die völlige Absolution erteilen, mit letzterer scheinen sich allerdings die realen Vorbilder der Frömmigkeit gerne selbst abzufinden. Deswegen bekommt auch der ehemalige Domkapellmeister Georg Ratzinger, recht eindeutig als „Radinger“ verkörpert, sein Fett weg. „Zu feminin“ sei ihm der Messwein, erklärt er in leiernd-tuntiger Rhetorik. So schließt auch die erste Hälfte des Stücks mit einer „offiziellen“ Ansprache zum neuen Schuljahr, durch ihn, den ideellen Vater.
Ein an sich cleverer Moment, als das Publikum zur Elternschaft wird, die die Erziehungspredigten, „ganz im Geiste des Humanismus“ selbst beklatschen dürfen/ müssen – leider lässt die doch eher schablonenhafte Darstellung und Überzeichnung der Figuren wenig Raum zur glaubhaften Ambivalenz. Diese funktioniert eher in Verknüpfung mit den Elternszenen, die eine weitere Dimension der Machtlosigkeit der Kinder ausarbeiten. Geschickt wird hier herumgeredet, Glaubwürdigkeit angezweifelt und mit finanziellen, sowie Konsequenzen bei der persönlichen Karriere gedroht: „Wir wollen doch, dass der Bub was wird… Schließlich hat er ja das Stipendium…“
Dieser „schwarzen Pädagogik“ des bayerischen, reaktionären Katholizismus steht im zweiten Teil des Abends die „reinweiße“ Reformpädagogik der 60er-und 70er-Jahre gegenüber. Dass es auch in diesem hermetischen System voller Ideologie und perfider Abhängigkeiten zu sexuellen Übergriffen kam, scheint logisch und in seiner Darstellung wichtig. Im Kontext des Abends nimmt hierbei die Qualität der Inszenierung leider deutlich ab. Die Lieder werden noch ein Stück plakativer und stark im Sinn gedoppelt eingebunden, doch der Missbrauch bleibt auch zum zehnten Mal Missbrauch – ob nun im Knabeninternat oder im sozialistischen Ferienlager.
„I did it my way“
Dennoch wartet besonders der Schluss noch mit einem unerwarteten Blickwinkel auf – dem der Täter. Als der schwer traumatisierte, aber unbeugsame Ex-Schüler nach Jahren seinem Peiniger auf der Bühne gegenübertritt, ihn anklagt und eine Stellungnahme fordert, entgegnet der ihm zunächst mit lakonischer Nostalgie, dann mit Anflügen milder Reue und aber zuletzt mit einem zynisch geträllertem „I did it my way“.
Im Saal scheint man bei dieser zweiten Hälfte etwas gelöster. Das mag zum einen an den eher leichter verträglichen Popsongs liegen, andererseits vielleicht auch am weniger direkten Bezug. Es gibt deutlich mehr Zwischenapplaus und bei Songs wie „Sympathy for the Devil“ nickt man beschwingt mit. Trotz der ebenso beklemmenden Missstände und Bigotterie in der anti-autoritären Musterschule, dem verworrenen Chaos der biertrinkenden Kinder und offensiv sexualisierender Lehrer, drängt sich ein Relativismus auf: wenigstens kein gewalttätiges, freudloses, und abgeschirmtes Gefängnis wie in der Welt des Knabenchors.
Warum gibt es so ein Stück nicht in Regensburg?
Am Ende gibt es stürmischen Applaus, eine Zugabe, Ovationen. Dramaturgisch ist der Abend eher durchwachsen, musikalisch brillant, schauspielerisch teilweise stark, teilweise inszenatorischer Einschränkungen unterworfen. In seiner Gesamtwirkung entfaltet „Schlafe, mein Prinzchen“ jedoch eine Wichtigkeit, die eben besonders für die Selbstgefälligkeit der bayerischen Provinz, das besagte Internat, die Täter und die bisherige Verhöhnung ihrer Opfer relevant wäre. Warum für so einen Abend wieder Berlin herhalten muss, wo schon einst Christoph Schlingensief in der Volksbühne die Verhältnisse in der Domstadt entblößte und wieso dieses Stück nicht eben in Regensburg gemacht wurde, oder dort zumindest aufgeführt wird, wo es bisher nur für gefällig-überzogene Satire-Schnipsel („Sommernachtsalbtraum“) bei diesem deutschlandweit bekannten Skandal reichte, wieso das Stück gerade jetzt, trotz gut besuchter Vorstellungen abgesetzt wird und wieso stattdessen noch kein Termin für ein Gastspiel im Wolfgang-Saal der Domspatzen angekündigt ist – zum Schluss bleiben viele Fragen, wie leidlich bisher fast immer in der Historie dieses Themas und seiner Aufarbeitung.
Angelika Oetken
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Das Stück ist exzellent. Ich habe es im vergangenen Sommer gesehen. Dass die beiden Tatorte “Regensburger Domspatzen” und “Odenwaldschule” durch Franz Wittenbrink parallel gestellt wurden, finde ich einfach genial. Damit ist es ihm gelungen, deutlich zu machen, dass die sexuelle Ausbeutung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen keine Frage der Gesinnung ist. Sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
Bisher ist, was die Dimensionen des Missbrauch bei den Domspatzen, an der Odenwaldschule und vielen anderen Tatorten betrifft, allen voran Familien, nur vergleichsweise wenig an die Oberfläche und damit in die Öffentlichkeit gedrungen. Die Odenwaldschule wurde geschlossen, in Regensburg geht es gerade hoch her. Einigen routinierten Kinderfallenstellern schwimmen die erbeuteten Felle genauso weg, wie sie ihre vollkommen unangemessene Reputation verlieren.
Insofern:
Angelika Oetken
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Insofern: ich rechne damit, dass es schon bald ein reges Interesse am schlafenden Prinzchen geben wird. Eine Tournee in den deutschsprachigen Ländern ist das mindeste, was ich diesem großartigen Stück wünsche.
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick
P.S. wer die Berichte von ehemaligen SchülerInnen der OWS (Odenwaldschule) aufmerksam liest oder sogar die Gelegenheit hat, mit ihnen zu sprechen, stellt fest, wie viel Gewalt an dieser Schule ausgeübt wurde. Der einzige wirkliche Unterschied zu den Einrichtungen der Domspatzen ist, dass sie sich dort ausschließlich gegen Jungen richtete. Während an der OWS auch viele Mädchen misshandelt und ausgebeutet wurden
menschenskind
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Schlafe, mein Prinzchen – Berliner Ensemble
https://www.youtube.com/watch?v=7W101ImhyK4
https://www.youtube.com/watch?v=rhI6JNolUWg
https://www.youtube.com/watch?v=_-MPhyyQC2Q
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[…] Doch für Wittenbrink ist sexueller Missbrauch kein exklusives Thema der Kirche. „Das gab es in reformpädagogischen Einrichtungen, in Sportvereinen und vor allem in Familien.“ Entsprechend ist sein Stück zwischen Theater und Musikrevue keine Anklage gegen die Kirche. Während es im ersten Teil offensichtlich um die Domspatzen geht, folgt im durchaus notwendigem zweiten Teil, der inhaltlich aber leider merklich abfällt, das reformpädagogische Pendant Odenwaldschule. Und wenn Wittenbrink hofft, „dass das Publikum ein bisschen nachempfinden kann, wie man sich als Kind da fühlt“, dann ist ihm das vor allem (aber nicht nur) im ersten Teil vollends gelungen. Die bedrohliche Atmosphäre wird zum Beispiel greifbar, wenn zwei Präfekten zum Agnus Dei die Schlafräume der Buben abschreiten und sich dann einer nach dem anderen zu zwei Kindern ins Bett legen, um es sich „richtig schön“ zu machen (Eine ausführliche Rezension gibt es hier.). […]