Vor zehn Jahren enttarnte sich der NSU
Als am 11. Juli 2018 nach fünf Jahren das Oberlandesgericht München das Urteil im NSU-Prozess sprach, stand eines bereits fest: Einen Schlussstrich wird es damit nicht geben. Zehn Jahre, nachdem der NSU am 4. November 2011 aufflog, fordern Hinterbliebene, Prozessbeobachter sowie antifaschistische und zivilgesellschaftliche Initiativen weiterhin eine intensive Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Zu viele „Le_rstellen“ seien geblieben.
Welches Ausmaß hatte der NSU tatsächlich und wie viel von ihm existiert bis heute fort? Neben der Hauptangeklagten Beate Zschäpe wurden mit Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger vier Personen verschiedener Beihilfehandlungen zu Freiheitsstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Zschäpes Antrag auf Revision wurde im August vom BGH zurückgewiesen. Im September beantragte die 46-Jährige dann in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde. Die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Rechtsterroristin beschäftigt die Justiz somit noch eine Weile. Ebenso der Fall Eminger, dessen Revisionsantrag zugelassen wurde. Das Hauptverfahren soll noch diesen Dezember über die Bühne gehen.
Das NSU-Urteil ein „Scheinriese“?
Doch waren das alle Unterstützer des Kerntrios aus Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt? Viele zweifeln daran und üben Kritik am Münchener Prozess (hier ein Vortrag eines Prozessbeobachters von 2019). Von einem „Scheinriesen“ sprach die Zeit 2020, nachdem die über 3.000 Seiten fassende Urteilsbegründung veröffentlicht wurde. Die Richter hätten „kein Interesse an einer Aufklärung” gehabt, zitierte die Zeit zudem die Opferanwälte. Eine Kritik, die schon während des Prozesses laut wurde. Ebenfalls in der Zeit beklagte Gamze Kubaşık schon am 27. Oktober 2017:
Ihr Vater Mehmet Kubaşık wurde 2006 in Dortmund vom NSU ermordet. Der Kioskbetreiber war bereits das achte Opfer. Zwei Tage später, am 6. April 2006, ermordete der NSU Halil Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel – im Beisein des Verfassungsschützers Andreas Temme.
Welche Rolle spielte Verfassungsschützer?
Der befand sich zur Tatzeit im Hinterraum des Ladens wie Forensiker der Goldsmith University of London 2017 nachweisen konnten. Er galt selbst kurzeitig als möglicher Täter, hatte sich zunächst aber nicht bei der Polizei gemeldet. Bis heute konnten seine Rolle sowie mögliche Verbindungen in die rechtsextreme Szene nie vollständig aufgeklärt werden – auch weil die hessischen Behörden dies erschwerten.
Nicht das einzige Mal, dass Kritik am Vorgehen der Ermittlungsbehörden angebracht wurde. Auch dass die insgesamt neun Morde an Menschen mit Migrationshintergrund bis zur Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 von Beginn an als Folge von Clan- oder Drogenkriminalität angesehen, die Opfer und deren Angehörige somit selbst im Fokus der Ermittlungen standen, wird heute als gesamtgesellschaftliches Versagen angesehen.
Auf der Suche nach dem „Dönerkiller“
Anstatt ein rassistisches Motiv zu vermuten, verstiegen sich Behörden und auch Medien selbst in rassistische Interpretationen. Am 31. August 2005 bezeichnete die Nürnberger Zeitung die bis dahin geschehenen Morde als „Döner-Morde“. Der Begriff wurde schnell von anderen Medien übernommen und die Suche nach dem „Dönerkiller“ (BR) von der SoKo Bosporus und Medien vor allem in einer angeblich „schwer durchdringbaren Parallelwelt der Türken“ (Hamburger Abendblatt) vorangetrieben. Beweise gab es dafür keine.
Und so konnten das NSU-Kerntrio und seine wohl zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützer jahrelang im Verborgenen agieren. Neben den neun Morden an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, folgte die 22-jährige Polizistin Michelle Kiesewetter im April 2007 als zehntes Opfer. Ihr Kollege überlebte schwer verletzt einen Kopfschuss.
NSU verübte bereits 1999 einen Anschlag
Bereits 1999 verübte die rechtsextreme Terrorzelle in Nürnberg einen Bombenanschlag auf ein türkisches Restaurant. Da die zur Rohrbombe umgebaute Taschenlampe fehlerhaft war, wurde niemand schwer verletzt. Anfang 2001 explodierte eine Rohrbombe in einem Kölner Lebensmittelgeschäft. Die Tochter des iranischen Ladenbesitzers wurde dabei schwer verletzt, überlebte allerdings. Auch hier wurde vor allem das Umfeld der Familie erforscht, ihre Telefone, Geschäfte und Finanzen überwacht und auch der iranische Geheimdienst verdächtigt. 2012 geriet dann ein V-Mann des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen in den Verdacht einer Tatbeteiligung. Da er dies bestritt, sahen die Ermittler von einer Vernehmung ab.
Auch den Nagelbombenanschlag 2004 in der Kölner Keupstraße konnte die Polizei erst mit Hilfe der von Beate Zschäpe am 4. November 2011 verschickten Bekennervideos dem NSU zuschreiben. Ebenso insgesamt 15 Banküberfälle, vorwiegend in Chemnitz und Zwickau, wo das Trio zuletzt eine Wohnung hatte.
Was wäre wenn … ?
Es stellt sich aus heutiger Sicht die Frage: Was, wenn am 4. November 2011 Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall nicht von der Polizei in ihrem Wohnmobil in Eisenach gestellt worden wären und daraufhin Selbstmord begangen hätten? Ihre Komplizin Zschäpe hätte in der gemeinsamen Wohnung in Zwickau keine Beweise vernichtet, die Bekennervideos wären nicht veröffentlicht worden und der Nationalsozialistische Untergrund nicht aufgeflogen.
Womöglich hätten sie weitere Taten verübt. In der ausgebrannten Wohnung konnten Ermittler Beweismaterial sicherstellen, worauf sich unzählige Namen und Adressen befanden. Darauf fanden Ermittler auch den Namen des a.a.a., ein Verband zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergund in Regensburg. Wie später herauskam, hatte sich Zschäpe wohl auch in der Regensburger Altstadt umgesehen. Der Besitzer des Zara-Grills schilderte 2013 wie Zschäpe wenige Monate vor dem Auffliegen des NSU mehrfach seinen Laden besucht und die Räumlichkeiten inspiziert habe. Auf den Titelseiten habe er sie dann sofort wieder erkannt und sich bei der Polizei gemeldet.
Verbindungen nach Ostbayern bestanden schon früh
Ob es tatsächlich zu Anschlägen gekommen wäre, bleibt heute nur Spekulation. Ostbayern spielte für das Trio aber schon vorher eine gewisse Rolle. 1994 war Mundlos etwa in Straubing bei einem Grillfest der rechtsextremen Szene zu Besuch. In Regensburg lebte Mitte der 1990er Jahre eine Zeitlang auch der 2001 enttarnte V-Mann des Verfassungsschutzes in Thüringen, Tino Brandt.
Von Regensburg aus war er für die rechtsextreme Partei “Nationaler Block” aktiv und zudem Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“. Dem rechtsextremen Zusammenschluss „freier Kamreadschaften“ gehörten mit dem „Nationalen Widerstand Jena“ auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe an.
Ausgangspunkt Jugendtreff
Die drei lernen sich 1992 in einem Jugendtreff im Jenaer Stadtteil Winzerla kennen. Als sich damals einige Jugendliche mit einem Sozialarbeiter über Zukunftspläne und Berufswünsche unterhalten, soll eine 17-jährige junge Frau gesagt haben: „Zuerst einmal müssen die Ausländer weg.“ Eine Reaktion des Sozialarbeiters bleibt aus. Die junge Frau ist Beate Zschäpe.
In der Folgezeit radikalisieren sich die drei immer weiter und werden fester Teil der rechtsextremen Szene in Thüringen. 1997 legen sie am Jenaer Theater einen Koffer mit einigen Gramm Sprengstoff, jedoch ohne Zünder ab, der außen mit einem Hakenkreuz versehen ist. Auch an anderen Stellen tauchen Bombenattrappen auf. Auch mehrere antisemtische Vorfälle werden heute dem Trio zugerechnet.
Polizei erkennt Zschäpe nicht
Mehrfach geraten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ins Visier der Polizei. 1998 kommt es zu Durchsuchungen von Garagen in Winzerla. Dabei werden vier funktionsfähige Rohrbomben sowie rechtsextremes Material gefunden. Doch bevor eine Festnahme erfolgen kann, taucht das Trio in den Untergrund ab.
Zschäpe sollte in den kommenden Jahren den Augen der Polizei aber nicht vollständig verborgen bleiben. 2007 kommt es in einem Haus in Zwickau zu einem Wasserrohrbruch. Die Polizei klingelt auch in der darunterliegenden Wohnung. Susann E. öffnet die Tür. Gegenüber den Beamten macht sie widersprüchliche Angaben zu ihrer Person. Susanne E. alias Beate Zschäpe – die zu der Zeit bereits längere Zeit gesucht wird – weist sich mit dem Personalausweis einer Freundin aus. Die Beamten lassen sie gehen.
Rechte Frauen passten nicht ins Fandungsraster
Als die Polizei 2007 kurzzeitig doch ein rassistisches Motiv hinter der NSU-Mordserie vermutet, kommt es zu einer Rasterfahndung in der rechten Szene. Da jedoch alle Frauen von der Überprüfung von vornherein ausgeschlossen werden, wird eine zentrale Helferin der ersten Stunde, Mandy G., nach dem Abtauchen des Trios nicht überprüft. Laut der Amadeu-Antonio-Stiftung ist es eine von zahlreichen Leerstellen der Ermittlungen zum NSU, dass die Rolle von Frauen verkannt wurde.
„Eine geschlechterreflektierte Perspektive hätte eine frühzeitige Intervention oder die Chance auf Aufklärung zumindest wesentlich begünstigt“, heißt es in einer Broschüre der Stiftung. Das Ende des NSU-Prozesses dürfe „nicht das Ende der gesellschaftlichen Aufklärung bedeuten“. Zu viele Fragen seien offen geblieben.
Viele Fragen bleiben weiterhin unbeantwortet
Nach wie vor kommen auch immer wieder neue Details hervor. So veröffentlichte das Recherche-Netzwerk Exif im März 2020 einen umfangreichen Artikel, der mögliche Verbindungen zwischen dem Mord an Halit Yozgat und der Ermordung an Walter Lübcke aufzeigt. Der NSU-Komplex ist auch drei Jahre nach dem Urteil von München und zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des Trios noch immer nicht gänzlich aufgearbeitet und dient mittlerweile Sympathisanten zur Nachahmung, wie die Drohmails des selbstbzeichneteen „NSU 2.0“ gezeigt haben. Auch hier stehen die Sicherheitsbehörden im Fokus.
Mr. T.
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Eigentlich kann das gar nicht verwunder. Die deutschen Ermittlungsbehörden stehen deutlich weiter rechts als der Durchschnitt der Gesellschaft. Regelmäßig fallen neue rechtsextreme Chat-Gruppen unter Polizist*innen auf. Wie oft fallen linke (nicht mal linksextreme) Chat-Grppen auf? Wie viele Richter und Staatsanwälte haben einen Burschenschaftshintergrund und wie viele waren bei den Falken? Viele rechtsextreme Strukturen wurden durch den Verfassungsshutz nicht nur infiltriert, sondern sogar aufgebaut und am Leben erhalten.
Rüdiger
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Es ist nun mal Tatsache, dass die Mörder am Tatort keine verwertbaren Spuren hinterließen. Weder zur Identifikation geeignete, noch solche, die auf einen rechtsextremen Hintergrund hingewiesen hätten. Bis 2011 gab es keine Stimmen in der Öffentlichkeit, die aufgrund der Herkunft der Opfer auf einen solchen Hintergrund geschlossen hätten. Noch nicht mal dann, als die BAO Bosporus in Nürnberg ab 2006 neben der sog. Organisationstheorie eine Einzeltäterthese in den Blick nahm und damit an die Öffentlichkeit ging.
2007 gab es hierzu eine ZDF-Dokumentation, die den Blick nach Rechts ganz weit öffnete – aber es gab keine Hinweise und der Fall wurde beerdigt.
https://youtu.be/GCZBJbh0DRk
Erst nachdem dieser Hintergrund im November 2011 offenbar wurde, gab es plötzlich massenhaft die, die es schon immer geahnt oder gewusst haben wollten. Und Hohn und Spott über die dämlichen Sicherheitsbehörden kübelten, die nicht gecheckt hatten, dass hier ein paar Nazis ihr Unwesen trieben.
Natürlich verhalten sich unsere Sicherheitsbehörden gegenüber Familien mit Migrationshintergrund anders als gegenüber Bauernfamilien aus dem Bayerischen Wald oder die großbürgerliche Arztfamilie. Das kann man “rassistisch” nennen, es kann aber auch kriminalistisch absolut sachgerecht sein, das Opferumfeld zu durchleuchten. Vor allem, wenn man keine anderen Ansatzpunkte für ein Motiv hat. Und die Ermittler mussten sich durch Finanz- und Unternehmensstrukturen arbeiten, die nicht immer transparent waren. Wie wenig aber der “Rassismus”-Vorwurf erklärt, warum die Morde so lange unaufgeklärt blieben, zeigt der letzte Fall, der der ermordeten Polizistin in Heilbronn. Eine junge Frau aus Thüringen. Da wurde alles getan, um die Täter zu finden. Viel mehr als bei einem ermordeten Döner-Verkäufer. Es half auch nicht.
Wenn eine Behörde einen Weg nach Zwickau bzw. Chemnitz hätte aufweisen können, wäre es der Verfassungsschutz gewesen. Er hätte das Tatbild anders interpretieren können, er hätte Personen im Fokus gehabt, denen eine solche Tat zuzutrauen gewesen wäre. Aber das hätte bereits mit dem Untertauchen ab 1998 eine konsequente Analyse erfordert, was die drei Nazis so treiben könnten. Der Thüringer Verfassungsschutz war aber ein Totalausfall und das Bundesamt hatte weder Phantasie noch Erkenntnisse über Einzelpersonen. Man war – dem gesetzlichen Auftrag entsprechend – ganz auf die Beobachtung von Bestrebungen fixiert. “Phänomenbereiche” nennt das Amt. So hat man sich dem gewaltbereiten Rechtsextremismus gewidmet, in der irrigen Annahme, die Polizei hätte Straftaten im Griff.
Am Ende hat die ganze Gesellschaft versagt. Auch die “Antifaschisten”, die auch nichts merkten und dann eine Verschwörungstheorie nach der nächsten aus der Tasche ziehen. Auch die Medien, die jeder Verschwörungstheorie hilfreich zur Seite standen. Und natürlich die Ermittlungsbehörden, die ihre Ermittlungen so durchzogen, wie sie es immer gemacht hatten.
Heiter_Weiter
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Es ist für mich nicht besonders erstaunlich, dass rechtsgeneigte autoritäre Charaktere in der Polizei und der Armee gehäuft auftreten und sich vernetzen, die Elemente Kasernierung, Uniformierung, Befehl und Gehorsam, Ausübung des staatlichen Machtmonopols, Waffengebrauch und Korpsgeist wirken ja gerade auf diese Gruppe anziehend.