Vom Opfer zum Täter
Am Mittwoch verurteilte das Landgericht Regensburg einen 30-Jährigen wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und drei Monaten Haft auf Bewährung. Er hatte im Sommer 2021 in der Asylunterkunft am Weinweg einen Mitbewohner mit dem Schraubenzieher attackiert. Das Gericht ist überzeugt, dass dem Angriff zahlreiche Demütigungen durch den Geschädigten vorangingen.
Die Besonderheit in diesem Falls sei, so der Vorsitzende Richter Dr. Michael Hammer, dass sich die Rolle der beiden Beteiligten ändere, je nachdem, welchen Zeitraum man betrachte. Schaue man nur auf die wenigen Minuten der Tat, dann ist der Angeklagte Goran K. (30) der Täter und der angegriffene 27-jährige Salar H. das Opfer. Doch blicke man auf einen Zeitraum von mehreren Monaten, dann seien die Rollen vertauscht. Und dabei ist im Täter-Opfer-Verhältnis auch ein qualitativer Unterschied zu erkennen: „Die Wunden von Salar H. sind schon verheilt, die Wunden des Angeklagten werden vielleicht nie verheilen“, so Hammer am Mittwoch in der Urteilsbegründung.
Kein versuchter Totschlag
Goran K. (30) ist schuldig der gefährlichen Körperverletzung, weil er am Abend des 21. Juni 2021 in der Gemeinschaftsunterkunft am Weinweg seinen Kontrahenten H. angegriffen hatte. Im Zuge der körperlichen Auseinandersetzung benutzte K. auch einen Schraubenzieher, um den Gegner zu verletzen. Doch anders als Staatsanwalt Denis Biermann kann die Zweite Strafkammer des Landgerichts Regensburg trotz des „gefährlichen Werkzeugs“, das zum Einsatz kam und eines unstrittig vorhandenen Motivs, keinen Tötungsvorsatz feststellen. Biermann sah einen versuchten Totschlag in einem minder schweren Fall und forderte dafür eine Strafe von zwei Jahren und vier Monaten – die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könnte.
Das Gericht erkennt lediglich eine gefährliche Körperverletzung, die mit einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung bestraft wird. Denn gezielte Stiche gegen den Hals, wie sie der Geschädigte später schilderte und auch die Staatsanwaltschaft glaubte, konnten nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Auch weil Salar H. eine eher halbseidene Person und ein insgesamt unglaubwürdiger Zeuge ist.
Kompromittierendes Video
Denn der Angriff hat eine längere Vorgeschichte, in der K. das Opfer und H. der Täter ist. Über Monate hat der Mitbewohner den Angeklagten beleidigt, gedemütigt und verhöhnt. Das Gericht glaubt, dass Salar H. heimlich durchs Fenster filmte, wie sich K. selbst befriedigte. Ganz sicher wirkte er jedenfalls an der Verbreitung der Videoaufnahmen mit, die nicht nur in der Geflüchtetenunterkunft kursierten, sondern auch an K.s Familie und seine Verlobte in Kurdistan geschickt wurde.
Für den nach eigenen Angaben sehr gläubigen Muslim war dies eine besondere Schmach. Seine Familie soll ihm deswegen nicht nur den Tod gewünscht haben, sondern ihm sogar gedroht haben, ihn selbst umzubringen. Als über diesen familiären Bruch im Gerichtssaal gesprochen wird, weint Goran K.
Salar H. streitet vor Gericht eine Beteiligung an der Verbreitung des Videos ab. Niemand glaubt ihm das. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Für alle Beteiligten steht fest, dass H. den Angeklagten über eine längere Zeit immer wieder provozierte. Auch am Tatabend saß er in einer Bier- und Shisharunde vor der Unterkunft am Weinweg. Er sang Lieder, in denen er K. mit Bezügen auf die Videoaufnahmen schmähte.
Angriff mit einem Schraubenzieher
Da platze Goran K. der Kragen. Er ging die Außentreppe der Unterkunft hinunter, beschimpfte H. und griff ihn körperlich an. Zwischenzeitlich konnten beide von weiteren Anwesenden getrennt werden, doch es kam zu einem weiteren Zusammenstoß. Der nahezu erblindete K. zog den Schraubenzieher gegen den überlegenen Gegner. Dieser trug nur leichte Verletzungen davon. Ein anderer Bewohner nahm dem Angreifer den Schraubenzieher weg und konnte die Polizei verständigen. Den Schraubenzieher-Angriff selbst konnte keiner der Anwesenden so richtig beobachten.
Der Angeklagte beteuerte in einem letzten Wort, unschuldig zu sein. Er habe sich lediglich gegen einen Angriff H.s gewehrt. „Ich bin bereit zu schwören. Gott ist mein Zeuge“, so der tief gläubige Kurde. Er möchte eigentlich Imam werden und dürfe deshalb nicht lügen.
Sieben Monate in U-Haft
Sein Verteidiger Julian Wunderlich plädierte in der Verhandlung auf Freispruch und bezeichnet den Mandanten als „klassisches Mobbingopfer“, der schon in einer früheren Unterkunft in Teublitz gehänselt und schikaniert worden sein soll. So stellten ihm andere Personen etwa Hindernisse in Weg, die er nicht sehen konnte.
Wunderlich stellt in seinem Plädoyer besonders auf die geringe Sehkraft K.s ab, der nicht nur dadurch seinem Kontrahenten deutlich unterlegen sei. Die Vorstellung, dass K. auf den „übermächtigen Angreifer“ H. gezielt eingestochen und ihn sogar über den Boden geschleift haben soll – wie es in der Anklage steht – „geht zu weit“, so der Verteidiger. Goran K., der seit Ende Juni in Untersuchungshaft beziehungsweise in Unterbringung saß, kommt jetzt nach sieben Monaten erstmal wieder auf freien Fuß. Die Bewährungszeit dauert drei Jahre.