Unbehelligt, nicht unbeschwert
Am Samstag gab Eva Mattes mit einer Lesung aus Astrid-Lindgren-Tagebüchern den Auftakt zur Reihe “Große Namen – große Texte” des Stadttheaters.
Als Tommy und Annika Pippi davon erzählen, dass es ganz toll in der Schule sei und dass sie schon bald Ferien haben werden, da ist die sonst so lustige Pippi ernsthaft empört. Denn schließlich sei es nicht fair, dass sie, die sie gar nicht zur Schule gehe, keine Ferien habe, die anderen Kinder aber schon. Nur deshalb beschließt sie, ab sofort auch in die Schule zu gehen. Doch früh um acht Uhr, da habe sie keine Zeit. Sie komme dann später nach.
Es sind diese unbeschwerten, eine kindlich-anarchische Weltsicht feiernden Episoden, die wohl jeder kennt und sofort mit dem Namen Astrid Lindgren konnotiert. Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga und die Kinder aus Bullerbü sind nur die bekanntesten ihrer zahlreichen Protagonistinnen und Protagonisten, die noch heute in fast jedem Bücherregal ein Zuhause haben.
Die Zeit, aus der “Pippi Langstrumpf” entspringt
Oftmals gerät da in Vergessenheit, in welcher Zeit die Kinderbücher Astrid Lindgrens ihre Wurzeln haben. Die ersten Geschichten von Pippi Langstrumpf erzählte Lindgren ihrer kranken Tochter Karin am Kinderbett 1941, als der zweite Weltkrieg gerade im vollen Gange war.
Von diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund, von den Gedanken Lindgrens zur Barbarei auf der Welt, erzählte der Samstagabend im Theater Regensburg. Eva Mattes, bekannt aus Fassbinder- oder Werner-Herzog-Filmen sowie als Tatort-Kommissarin Klara Blum, eröffnete die Reihe „Große Namen, große Texte“ mit einer Lesung aus Astrid-Lindgren-Tagebüchern, die in den Kriegsjahren verfasst wurden. Doch beim Lesen sollte es nicht bleiben – begleitet von Jakob Neubauer am Akkordeon und Irmgard Schleier am Klavier sang, erzählte und rezitierte sich Mattes durch einen kurzweiligen Abend.
Entrüstung über die Vorgänge in Europa
„Die Menschheit hat den Verstand verloren“, dieses Zitat aus Lindgrens Tagebüchern fungiert als Übertitel für die Lesung. Und tatsächlich spiegelt sich in den Tagebuchzeilen, die Eva Mattes liest, vor allem großes Unverständnis, Entrüstung, Verzweiflung wider. Es entsteht das Bild einer Astrid Lindgren, die einerseits nichts als Verachtung für die nationalsozialistischen Verbrecher von Gestapo, SS und Co. übrig hat, die sich andererseits sicher ist, dass „nicht alle Deutschen“ schlechte Menschen sein können.
Immer wieder scheint durch, dass Lindgren gleichzeitig froh und vom schlechten Gewissen geplagt war, darüber, dass sie ihr Leben in Schweden verhältnismäßig unbehelligt von den Kriegsgräueln führen konnte. Unbehelligt, aber eben nicht unbeschwert.
Virtuos und stimmungsvoll
Diese Stimmung wird in den musikalischen Teilen des Abends hervorragend wiedergegeben. Der virtuos aufspielende Jakob Neubauer und die meist dezent im Hintergrund begleitende Irmgard Schleier lassen mal Kinderlieder aus Schweden oder Island, mal Chanson-Dauerbrenner wie „Lili Marleen“, mal Kompositionen von Kriegsopfern wie Hirsch Glik („Still, die Nacht ist voller Sterne“) erklingen. Dazu singt Eva Mattes, die dank ihres beachtlichen Stimmumfangs problemlos nach Marlene Dietrich oder eben der kleinen Pippi Langstrumpf aus den bekannten Verfilmungen klingt.
Letzteres ist übrigens kein Zufall – lieh Mattes doch Inger Nilsson in den deutschsprachigen Fassungen der „Pippi“-Fernsehserie ihre Stimme. Auch die Ohrwürmer „Drei mal drei macht vier“ und „Seeräuberopa Fabian“ dürfen am Samstag in Regensburg deshalb nicht fehlen. Und hier ist sie dann, die kindliche Unbeschwertheit, mit der Lindgren einst die Antwort fand auf einen Zeitgeist, der von Gewalt, Krieg und Unterdrückung geprägt war, und die auch für ihre spätere Literatur maßgeblich werden sollte.
Hans Albers und A capella zum Abschluss
Das vollbesetzte Theater am Bismarckplatz quittiert die Vorstellung von Mattes, Neubauer und Schleier schlussendlich mit langanhaltendem, beigeistertem Applaus. Als Zugabe schmettert Mattes stilecht mit Elbsegler eine Hans-Albers-Imitation des Titelliedes von „…und über uns der Himmel“, der erste deutsche Film, der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in der amerikanischen Besatzungszone gedreht wurde.
Dann schlägt sie den Bogen zum Hier und Heute. A capella, solistisch, ganz pur stimmt Mattes ein afrikanisches Lied an, dass sie „den Kindern unter den 65 Millionen Menschen, die heute weltweit auf der Flucht sind“ widmet. Die Melodie mutet unschuldig an, frei, und, ja – unbeschwert.
Roland Hornung
| #
Danke für diesen sehr guten Artikel.
Gerne, und dankbar las ich selbst vor vielen Jahrzehnten in meiner Kindheit (und später auch immer wieder) die Bücher von Astrid Lindgren. Weder unbehelligt noch unbeschwert. Mein Opa hatte ja auch recht Schlimmes durch Nazi-Schergen erlebt. Wie viel Können, wie viel Nachdenkliches und Nachdenkenswertes liegt in den unverges. senenen Büchern von Astrid Lindgren. Danke.