Am interessantesten und aufschlussreichsten sind oft die Dinge, die einem nicht gesagt werden. Wenn das Objekt der Begierde bei einer Liebeserklärung stumm bleibt. Wenn ein Geburtstagskind ein liebevoll ausgesuchtes und freudestrahlend überreichtes Geschenk nicht kommentiert. Wenn ein Angeklagter die Aussage verweigert.
Dann kann es sein, dass das Herz des mit Liebe Bedachten vor Freude springt, er um Worte ringt, sie aber vor lauter Adrenalin in der Blutbahn nicht äußern kann. Dass der Jubilar vor Freude ganz verwirrt ist. Dass der Angeklagte einem taktischen Schachzug seines Anwalts folgt. Das ist Möglichkeit eins. Möglichkeit zwei ist: Die Antwort, die dem Befragten auf der Zunge liegt, entspräche nicht den Erwartungen des Fragestellers, würde Enttäuschung, Entrüstung, Empörung hervorrufen, oder die Entgegnung wäre für den Inquirierten nachteilig.
Von der Wichtigkeit der richtigen Fragestellung
Nun lautet die Fragestellung eines Jahresberichts ja traditionell: „Was haben wir bzw. was haben unsere Leute im betreffenden Jahr so getrieben?“ Auch das Kulturreferat stellt sich jährlich diese Frage und veröffentlichte erst vor wenigen Tagen den „Jahresbericht 2011 des Kulturreferats mit seinen Dienststellen“. Schließlich ist die moderne Stadtverwaltung transparent, den Bürgern eine Antwort schuldig, und für die Selbstkontrolle und das Qualitätsmanagement lässt sich so ein Jahresbericht obendrein nutzen.
In dem Geheft erfährt der Leser beispielsweise, dass die Mitarbeiter der Restaurierungswerkstatt für Gemälde und Skulpturen am 12. Mai 2011 an einer Photoshop-Fortbildung teilgenommen haben, dass die Sing- und Musikschule im vergangenen Jahr 448.768 Euro an Unterrichtsgebühren eingenommen hat oder dass das Kulturamt ein- bis zweimal im Monat einen Kulturnewsletter verfasst und diesen per E-Mail an Kulturinteressierte versendet.
Zweite Seite des Inhaltsverzeichnisses des Jahresberichts des Kulturreferates
Eine Information, die nicht so eindeutig ausfällt und die dem „Leser“ möglicherweise erst mit etwas Hintergrundwissen oder Interpretationsfähigkeit zugänglich wird, ist die Seite über die „Stabsstelle Zentrale Koordination Museen und Galerien“. Im März 2010 versetzte Oberbürgermeister Hans Schaidinger recht unvermittelt den damaligen Direktor der Städtischen Museen Dr. Martin Angerer auf die bis dahin nicht existente „Stabsstelle“. Angerer sollte das tun, was PR-Manager gerne allen möglichen undefinierbaren Stellen andichten: „Synergien“ bündeln, irgendetwas „optimal ausrichten“, Dinge „koordinieren“, sich ein „Gesamtkonzept“ ersinnen und „Kooperationen“ anleiern. Er sollte als „Promoter des angestrebten Entwicklungsprozesses“ der hier ansässigen Museen und Galerien öffentliche und private Häuser zusammenführen, Defizite aufspüren, Verschwendung, Fehlplanung und diesen ewigen Aneinander-vorbei-Planungen ein Ende bereiten.
Der Rest: Bilder, Tabellen und ein wenig Prosa
Soweit die Theorie. Angerers Stabsstelle hat im Jahresbericht des Kulturreferats sogar eine rote Überschrift bekommen. Rot heißt hier: wichtig. Die Stabsstelle ist ein Gliederungspunkt der zweiten Ebene, gleichwertig mit dem Kulturamt, dem Amt für Weiterbildung, den Museen der Stadt Regensburg, der Sing- und Musikschule und dem Amt für Archiv und Denkmalpflege. Die Berichte der anderen fünf Dienststellen sind mehr oder weniger interessant und ausführlich, zwischen zweieinhalb (Amt für Weiterbildung) und 25 Seiten (Kulturamt) lang, bebildert, wortreich, mit Tabellen, Statistiken und Grafiken gespickt.
Das große Nichts
Schaut man aber im Inhaltsverzeichnis nach, dass sich der Bericht über die Tätigkeiten der Stabsstelle Zentrale Koordination Museen und Galerien auf Seite 32 befindet, und blättert man schließlich zur besagten Seite, steht man vor dem Nichts. Statt Text, Bildern, Tabellen und Grafiken strahlt einen eine weiße Seite an, lediglich die Seitenzahl ist unten serienmäßig und korrekt vermerkt. So kann man wenigstens sichergehen, dass man sich nicht verblättert hat.
Links: Der Jahresbericht der “Stabsstelle für Koordination Museen und Galerien”, Seite 32. Rechts: Erste Seite des Jahresberichts des Amts für Weiterbildung. (Foto: hb)
Angesichts dieses unschuldigen Blattes Papier stellt sich die altbekannte Frage: Was wollte uns der Autor damit sagen? Ein erster interpretativer Ansatz geht nicht weit über die deskriptive Ebene hinaus: Er führt zu dem Schluss, dass es sich bei Martin Angerer um ein unbeschriebenes Blatt handelt. Der Kenner überlegt kurz und verwirft diese Möglichkeit.
Eine zweite Interpretation bezieht soziokulturelle Hintergründe ein und verknüpft musikgeschichtliche Ideen mit dem Vorhandenen (bzw. Nicht-Vorhandenen): Möglicherweise teilt der Zuständige für die Seite 32 des Jahresberichts dasselbe Schicksal wie der Texter der Musikgruppe „Relax“, der 1985 große Zustimmung für seine Ausführungen zum Thema „A weißes Blattl Papier“ erhielt. Vielleicht saß auch der designierte und gescheiterte Verfasser des Jahresberichts der Stabsstelle vor dem weißen Blatt und hegte ob unbeschreiblicher Ergriffenheit Gedanken wie der Sänger des Liedes: „I bin ganz schee im Wald und merk, dass i nimmer rausfind. Ois is zu wenig für di, denn des, was du bist für mi, kriag i mit Worten ned hi.“
Philosophie für Fortgeschrittene: Fehlt da etwa etwas?
Der dritte Interpretationsansatz greift philosophische Ansätze auf. Viele Philosophen vertreten die Ansicht, der Gegensatz zum Nichts sei das Etwas: etwas, das ist, das Seiende in seiner konkreten Form – bei Aristoteles wären das die Substanzen. Der aristotelisch geprägte Gegensatz zwischen dem Nichts und dem Etwas drängt sich dem kundigen Betrachter der Seite 32 des Jahresberichts des Kulturreferats förmlich auf: Macht die Stabsstelle Zentrale Koordination Museen und Galerien überhaupt etwas? Oder macht sie nichts? Handelt es sich dabei um ein so genanntes Nihil privativum, also um ein Nichts, das sich durch die Abwesenheit von einem speziellen Etwas (etwa etwas nachweisbarer Arbeit) definiert? Wenn das Etwas im aristotelischen Sinne – also die Substanz – fehlt: Ist die Arbeit der Stabsstelle dann substanzlos? Oder ist sie schlicht nicht?
„Vergiss es, es war nix“
Ohne genau nachzuforschen, bejahen viele Beobachter aus einschlägigen Kreisen die letzte Frage. Deshalb muss der Ansatz, der am meisten Erfolg verspricht, die philosophische und die soziokulturelle Interpretation zusammenführen und im Schlusssatz der letzten Strophe des Liedes „A weißes Blattl Papier“ kumulieren, der da heißt: „Vergiss es, es war nix.“