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Beiträge mit Tag ‘Geistheiler’

Geistheiler in Lederhosen

Nikolaus und das weinende Mädchen

Normalerweise bringt Nikolaus die Kinder zum Strahlen. Für den üblen Teil hat er den Krampus. Doch bei dem Geistheiler Nikolaus fängt eine 12jährige an, vor 60 Leuten zu weinen. Trotzdem finden das alle irgendwie gut oder zumindest tolerabel, denn niemand unterbricht die “Heildemonstration”. Stattdessen halten fünf Erwachsene Menschen mit chronischen Schmerzen Alu-Bällchen in der Hand und an die 60 Leute lauschen gespannt, wie man rausfindet, dass ein Arm auf den anderen eifersüchtig ist, oder sehen fasziniert zu, wie sich Beine in Sekundenschnelle um mehrere Zentimeter verlängern. Geistheiler Nikolaus im Kolpinghaus – ein Erlebnisbericht. morgen_r

Das Schöne am Journalistendasein – gerade beim Lokaljournalisten – ist die Selbsterfahrung im Berufsalltag. Was man da alles mitmachen darf im Laufe der Jahre! Von wegen von einer schnöden Sitzung zur nächsten Pressekonferenz: Bootsfahrten, Hubschrauberfliegen, Baggerfahren, exotisches Essen, Konzerte, Theaterstücke, Wanderungen, Trinktests – nach ein paar Jahren in Lokalredaktionen ist einem fast nichts mehr fremd. Und doch stößt man immer wieder auf Phänomene, die einem bislang unbekannt waren. Wagemutig, wie man im Laufe der Jahre wird, begegnet man den Dingen eher mit einem “Warum nicht?” als mit einem “Oh Gott, nein!” und überlegt sich sowieso nahezu überall, wie man das erzählen könnte.

Nun begab es sich also, dass ich am Schaufenster der Engel-Apotheke am Neupfarrplatz ein Plakat erspähte: “Geistheiler Nikolaus” lachte den Passanten von dort aus entgegen. Bärtig war er, der Mann auf dem Plakat, sein Erscheinen war als Sensation angekündigt: “Geistheiler Nikolaus kommt!” Als hätte sich die Stadt schon förmlich danach verzehrt. Und endlich, endlich kommt er – ER! – nach Regensburg. Am 18. September um 19.30 Uhr.

Organsprache, Engelheilen, Clearing: eine umfangreiche Angebotspalette

“Von draußt’ vom Walde komm ich her” – nein, nicht wirklich. Nur aus Hemau. Gibt’s dort einen Wald? Egal. Ich musste hin. Warum auch immer. Von Haus aus eher skeptisch als irgendwie anders veranlagt, wollte ich Nikolaus unbedingt persönlich sehen. Und ich wollte dabei sein bei den angekündigten “mindestens fünf Heildemonstrationen”.

Der Nikolaus kommt! (Foto: hb)

Der Nikolaus kommt! (Foto: hb)

Gespannt war ich ja tatsächlich, wie das von Statten gehen sollte. In seinem reichhaltigen Portofolio: Heilströmen, Organsprachetherapie, Raucherentwöhnung (10 Min.), Entwöhnung von Süßigkeiten, Engelheilung, Clearing/Heilung von Fremdenergie, Rückführung, Hypnoseheilung, Energieausgleich. Nikolaus kam ins Kolpinghaus. In einem Tagungszimmer hatten sich tatsächlich an die 60 Menschen versammelt, etwa ein Drittel davon von der Psoriasis-Selbsthilfegruppe, die den Geistheiler eingeladen hatte.

Demo 1: Alu-Bällchen zum Leben erwecken

Nikolaus war gänzlich anders als auf dem Plakat oder in der klischeehaften Vorstellung eines Geistheilers. Der Walle-Bart vom Plakat ist sommerbedingt einem Schnauzer gewichen. Und Nikolaus kommt nicht in wehenden Gewändern oder bunt besticken Kutten.

Nikolaus trägt Krachlederne in Knickerbockerlänge, dazu den passenden Trachtenjanker und Kniestrümpfe. Und er spricht, wie jemand aus Hemau zu sprechen hat. Während noch Zuhörer eintrudeln, macht sich Nikolaus ans Werk.

Er reißt fünf große Stücke von einer Rolle Alufolie ab – “handelsübliche Alufolie von Aldi”, wie er mehrfach betont – und zerknüllt diese zu Bällchen. Was das soll? Eine erste Demonstration werden. “Tote Materie zum Leben erwecken.” Er fragt, wer akut Schmerzen hat und verteilt die Kugeln an die Probanden. Sie sollen sie in der Hand halten und abwarten, was passiert.

Nach etwa einer Stunde werden sie übereinstimmend berichten, eine Wärmeentwicklung und ein Kribbeln gespürt zu haben. Die Möglichkeit, dass die Wärme von der Heizung kommt, die dem Vortragenden den Schweiß auf die Stirn treibt, wird ausgeschlossen. Es ist die Heilenergie, mit der sie vorher aufgeladen wurden. Dann legt er los. Drei bis dreieinhalb Stunden werde seine Vorführung dauern, eine Stunde “Theorie”, dann der praktische Teil mit den Heildemonstrationen.

“Die göttliche Kraft heilt”

Nikolaus stellt sich vor. 57, aus Hemau. Früher mal Polizist in Nürnberg gewesen. Seit 15 Jahren mit Geistheilen befasst, seit vier bis fünf Jahren selbst aktiv. Eine Frau, fünf Kinder. Vier davon geplant. Das fünfte ist entstanden, weil “seine Gedanken stärker waren als das Skalpell”. Er habe sich sterilisieren lassen, aber – so deutet er Kind Nummer 5 – haben seine Gedanken den medizinischen Akt überwunden. Zu Beginn will er einige Dinge geraderücken: Nicht er heilt. Die göttliche Kraft heilt. Sie fließt durch ihn hindurch. So sei das auch schon bei seinem großen Vorbild, Bruno Gröning, gewesen.

Verkohlter Wunderheiler heute noch aktiv?

Bruno Gröning erwähnt er oft. Übt sich in Bescheidenheit, dass er selbst ja kein so großer Heiler sei, obwohl er einen “großen Seelenanteil” von dem 1959 verstorbenen Wunderheiler hätte, dessen Seele “heute immer noch heilt”.

Nikolaus bei der Theoriestunde. (Foto: hb)

Nikolaus bei der Theoriestunde. (Foto: hb)

Seine Schilderungen vom Tod des angeblichen Wunderheilers waren der erste Anlass, der mich dazu bewog, mein Smartphone zu bemühen. Als Gröning tot war, habe man ihn aufgeschnitten und festgestellt, dass er “innerlich total verkohlt” sei. Schuld daran sei die Energie gewesen, die Heilströme, die Gröning aufgrund diverser Heilverbote nicht mehr ableiten konnte. Tatsächlich ist der Gottvater aller Geistheiler schlicht an Magenkrebs gestorben. Die Bewegung in seiner Nachfolge wird laut Wiki von den offiziellen Kirchen als Sekte eingestuft. Ich warte auf Einwände wegen gefährlicher Handystrahlen, aber ich bleibe unbehelligt, auch später.

Medizinwissen im Geistheilerwesen: Vorsicht vor der löchrigen Aura!

Während seiner “Theorie-Stunde” erfährt man von Nikolaus Gradl, der schon in seinem Namen seine Berufung sieht (vgl. Hl. Nikolaus; und auch in Gradl steckt was, nämlich seine Hauptaufgabe als Wirbelsäulenbegradiger), allerlei Trivia aus dem Bereich der Geistheilerkunde und über die Ansichten von Nikolaus zur Medizin. Im Schnelldurchlauf: Wir haben ein Recht auf göttliche Gesundheit. Depressionen sind Ausdruck von Hoffnungslosigkeit oder einer “Wut, die zu spüren du kein Recht zu haben glaubst”.

Affirmationen (sich wiederholende Aussagen, die einen ersehnten Zustand herbeiführen sollen) wirken nach 21 Tagen. Die Erde ist der Truppenübungsplatz Gottes. Man muss aufpassen, dass die Aura nicht löchrig wird. Es gibt keine Krankheiten, nur Harmonie und Disharmonie. Würde der Arzt heilen, würde er pleite gehen. Ein schlechter Schlafplatz kann den Menschen zerstören. Es gibt 14 irdische Störzonen, die Wasseradern sind nur eine Art davon.

In der Psychiatrie wird den Menschen die Seele zerschlagen. Krebs kommt meist von einem schlechten Schlafplatz und ist die Hass-Krankheit Nummer 1, d. h. Menschen, die voller Hass sind, erkranken wahrscheinlicher an Krebs als fröhliche Sangesnaturen. Multiple Sklerose gibt es nicht, das ist nur eine Zusammenschachtelung von vielen Krankheiten. Letzteres war für die Zuhörerin, die MS ins Gespräch brachte, weil sie daran leidet, sicherlich interessant zu hören. Überhaupt pflegt der Geistheiler einen lockeren Umgang mit einigen Krankheitsbildern. Das zeigt sich im zweiten Teil, in dem die Heildemonstrationen stattfinden.

Unbekannte Krankheit? Macht nix. Wird schon werden

Nikolaus sucht Demonstrations-Objekte. Da meldet sich eine Frau mit Psoriasis und Fibromyalgie. Er will und wird sie behandeln, schickt aber voraus, dass er bislang nur Erfahrung mit Neurodermitis hätte, die er auf “zwei bis drei Sitzungen” geheilt hätte, Psoriasis aber Neuland sei. Mit Fibromyalgie könnte es zudem schwierig werden. Er fragt nach und bestätigt sich im nächsten Satz selbst: Fibromyalgie ist Weichteilrheuma, oder? Ja. – Nicht so ganz, sagt zwar das Internet, aber… egal. Eine andere Patientin meldet sich, die unter Gelenkschmerzen, Wirbelsäulenproblemen und Polyneuropathie leidet. Letzteres ist ihm nicht bekannt.

Eine kurze Erklärung seitens der Behandlungswilligen (“Die Nerven sterben ab”) führt ihn zum selben Schluss wie bei der Fibromyalgie: Könnte schwierig werden. Dagegen klingen die anderen “Patienten” doch nach Kinderspiel: ein Herr mit kaputtem Knie, eine Dame mit Skoliose und Neurodermitis (womit er ja schon Erfahrung hat), einmal die rechte Schulter und einmal ein steifer Hals.

Demo 2: Kind mit Knochenschmerzen

Die erste Behandlung mit seiner Geistheilkunst fand allerdings mit einer Probandin statt, mit der die Sache schon vorher abgemacht war. Ein 12jähriges Mädchen hatte ausweislich der Aussage der Mutter “Knochenschmerzen in den Beinen”. Schlicht eine Folge des alterstypischen Wachstums? Auch die erste Idee von Nikolaus. Doch laut Mutter sei das nicht mehr normal. Also muss der Geistheiler ran. Er stellt fest: Die eine Schulter hängt etwas tiefer als die andere, der eine Fuß ist etwas kürzer als sein Gegenstück. Keine allzu ungewöhnliche Diagnose, diese Unregelmäßigkeiten stecken in den meisten von uns.

Geistheiler Nikolaus zieht die Beine eines Mädchens "auf die göttliche Länge". (Foto: hb)

Geistheiler Nikolaus zieht die Beine eines Mädchens “auf die göttliche Länge”. (Foto: hb)

Allerdings: Steht man nicht mit beiden Beinen gleich fest auf dem Boden, kann die Energie nicht richtig fließen. Und ein Drittel unserer Energie bekommen wir über die Erde. Die anderen beiden Drittel jeweils über Nahrungsmittel und den Kopf. Sagt Nikolaus.

“Bein, komm raus!” und ein vierfaches “Danke” an die Erzengel

Also muss das Bein wachsen. Kein Problem für Nikolaus. Er setzt das Mädchen auf einen Stuhl, sich selbst auf einen Stuhl gegenüber. Das Publikum – bis auf wenige Ausnahmen weiblich besetzt und im mittleren bis fortgeschrittenen Alter – stellt sich interessiert um die beiden herum. Sie legt ihre Beine in seine Hände und Nikolaus fängt an: “Bein, komm raus auf die göttliche Länge!” Er wiederholt es in Variationen, bedankt sich immer wieder. “Danke, danke, danke, danke.” Bei einer anderen Patientin wird er erklären, dass die Erzengel drauf stehen, wenn man sich schon vorab bedankt. Nikolaus und alle im Publikum wollen bemerkt haben, wie das kürzere Bein des Mädchens tatsächlich drei Zentimeter gewachsen ist. Das kann in Sekunden gehen, sagt er.

“Wenn etwas Gutes im Universum passieren soll, geht es in Sekundenschnelle.” Dann wachsen auch mal Haut, Knochen, Muskeln, Sehnen, Bänder, Nerven und Blutgefäße in weniger als zwei Minuten auf die “göttliche Länge”. Das Mädchen dreht eine Runde durch das Tagungszimmer. Sie selbst behauptet, sie gehe jetzt leichter als vorher, ihre Mutter will einen anderen Gang bemerkt haben.

Ein weinendes Kind und die Erkenntnis, dass Schuppenflechte nicht Gürtelrose ist

Dann steht noch eine zweite Behandlung an: Nikolaus will ihr nun den “Schock aus dem Steißbein” leiten und um eine Aufrichtung des Beckenschiefstands bitten. Auch dafür bedankt er sich schon im Voraus ausgiebig bei den Erzengeln oder sonst irgendwem, legt seine Hände auf den Rücken und auf das Steißbein des Kindes. Dann gleitet er mit schnellen Bewegungen an ihren Armen herab und schüttelt seine Hände aus. Währenddessen – das Kind steht mit dem Gesicht zum Publikum – verzieht das Mädchen das Gesicht.

Kurz darauf sagt sie, ihr sei schwindlig, sie setzt sich hin und fängt an zu weinen. Warum, das wird nicht so ganz klar. Sie scheint überfordert, Nikolaus betont immer wieder, ihr könne nichts passieren. Die Mutter kommt nach vorne, das Mädchen legt die Hände auf ihren Bauch, der Geistheiler legt seine Hände auf den Rücken des Kindes. Langsam beruhigt sich das Mädchen. Für die Mutter ist klar: Sie hat in ihrem noch jungen Leben schon einige Schocks erlebt, einige schlimme Ereignisse hinter sich gebracht. Nach einer letzten Bitte an irgendwelche nicht sichtbaren Mächte erklärt er die Behandlung für beendet. Der Nächste, bitte!

Es folgt zuerst die Frau mit Psoriasis – eine Geste an den Gastgeber. Und obwohl er die meist autoimmun verursachte Schuppenflechte Psoriasis mit der Viruserkrankung Gürtelrose verwechselt, ist er zuversichtlich, dass das schon klappen wird. Er bittet um einen Heilstrom, legt seine Hände auf ihren Kopf und bedankt sich wieder ausgiebigst.

Erzengel Michael trägt den Kalk ab

Dann ein Mann, der seinen rechten Arm nicht richtig heben und vor allem nicht wirklich nach hinten drehen kann. Nikolaus schickt ihm den Erzengel Michael. Mit dem stehe er besonders viel in Kontakt, Michael sei sein “Handwerker”. Zusammen mit Michael sollen Legionen von Erzengeln kommen und in der Schulter des Mannes den Kalk abtragen. “Wie im Steinbruch geht’s da zu!” Nach ein paar Minuten, in denen der Mann ein Vibrieren (nahezu alle Behandelten spürten Vibrationen) und ein “impulsartiges Klopfen” wahrgenommen haben will, leitet Nikolaus wieder mit Streich-Bewegungen den Kalk aus. Vier Minuten später reißt der Mann die Arme hoch: “Hurra!”

Eifersucht ist auch zwischen Organ-Paaren Streitthema

Zwischendurch hält er einen kleinen Vortrag über Organsprachetherapie. “Wer hat sich heute Früh bei seinem Herz bedankt?” Niemand meldet sich. Dann erzählt er vom Bewusstsein der Organe und dass man sie über den Mund sprechen lassen könne. Wir lernen: “Paarige Organe haben die Veranlagung zur Eifersucht.” So habe er mal einen linken Arm gefragt, was mit ihm los sei. Da habe ihm der linke Arm über den Mund der Patientin mitgeteilt, dass er eifersüchtig sei, weil sie ihn kaum hernehme. Das Herz habe ihm dann noch mitgeteilt, dass es den linken Arm nur schlecht versorgt, weil er ja nie in Aktion ist. Wie bei Otto sei das. “Großhirn an Kleinhirn!” Genau so! Danach folgen noch eine Schlafplatzauspendelung und ein paar andere Heildemonstrationen.

Nachbetrachtung: Ob meine Leber wohl glücklich ist?

Ich verlasse die Veranstaltung vorzeitig. Obwohl ich wirklich gerne mal mit meiner Leber gesprochen hätte. Was die wohl so zu erzählen hätte? Ob sie einsam ist, weil ich keine Zweitleber habe? Hat sie zuviel zu tun oder ist ihr langweilig? Brauchen wir – meine Leber und ich – einen Gin Tonic? Ich muss es allein entscheiden. Vielleicht hätte ich auch rausfinden können, ob mein rechtes Ohr eifersüchtig auf mein linkes ist, weil ich in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle das Telefon links halte? Oder ist es umgekehrt? Das linke Ohr beneidet das rechte, weil das meistens Urlaub hat? Aber diese Erkenntnisse müssen warten.

Auf dem Weg zum Auto überlege ich, ob ich vielleicht auch nach verborgenen Bedeutungen in meinem Namen suchen sollte, um meine wahre Berufung zu finden. Aber was könnte das sein? Ich komme auf nichts, vor allem mein Nachname bereitet mir Probleme. Ich kann mich einfach nicht zwischen Hasen und Haselnüssen entscheiden und verwerfe den Gedanken wieder. Stattdessen könnte ich mir ein paar Comedy-Serien anschauen, ob ich dort interessante Hinweise auf neue Heilmethoden finde. Ob Otto wohl einen Preis der Geistheiler-Gesellschaft bekommen hat, weil er das gesamtgesellschaftlich sträflich vernachlässigte Thema Organsprache schon in den 1980er Jahren so anschaulich thematisiert hat? Auch diese Fragen bleiben ungeklärt. Ich gehe nach Hause, ohne das leiseste Kribbeln oder Vibrieren gespürt zu haben. Aber mir wurde auch kein Alu-Bällchen zugeworfen. Mir war nur von der Heizung warm.

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