So war’s beim Hard:Line Filmfestival
Vier Tage, 16 Kurz- und 13 Langfilme, eine Party, ein Konzert und jede Menge Rasierklingen – zur zehnten Auflage haben wir uns das Festival des extremen Kinos mal komplett gegeben. Ein Bericht ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität.
Tag 1: „Neue Leute wundern sich, dass wir alle doch ganz nett sind.“
Gründonnerstag, 18.01 Uhr. Ich bin pünktlich da. Stefan Penninger auch. Zusammen mit dem langjährigen Hauptsponsor des Hard:line-Festivals hole ich mir mein Ticket ab an der Kasse vom Ostentorkino, eines der ältesten Programmkinos in Deutschland mit angeschlossener dezidiert nicht gentrifizierungsfähiger Kinokneipe. Das Filmfestival fürs „extreme Kino“, so die Beschreibung geht in seine zehnte Auflage und heuer hat Penninger – Ostern hin, Ostern her – auch mal zwei Tage Zeit, um die Reise von Waldkirchen nach Regensburg anzutreten und sich wenigstens ein paar Filme anzusehen.
Gründer und Organisator Florian Scheuerer hat – um es mal deutlich ausdrücken – viel Dreck gefressen (hier unser erster Bericht über Hard:Line von 2012). Allen Widerständen und Anfeindungen zum Trotz hat dieser zurückhaltende Mann eine Veranstaltung aus dem Boden gestampft, die bei denen, die sich auskennen, international Renommee genießt. Allein, dass er bei der Begrüßung und den notwendigen Danksagungen seine Partnerin erwähnt, die sich gerade um das gemeinsame Kind kümmert, nimmt einen für Scheuerer ein.
Viel heimisches Publikum aus Regensburg ist da, aber etwa die Hälfte kommt von außerhalb, ein Viertel sogar jenseits des Weißwurscht-Äquators und internationale Gäste sind sowieso schon immer da.
Das anfängliche Budget ist von 3.000 auf rund 70.000 Euro gestiegen und während es schon (bislang erfolglose) Bestrebungen anderer gibt, den niederbayerischen Blutwurzer Penninger als Hauptsponsor zu überbieten, ist heuer sogar das Goethe-Institut als Förderer mit im Boot. Irgendwie scheint es vielleicht doch etwas kulturell Bedeutsames zu sein, das mit diesem Horrorzeug.
Heute, zum Eröffnungstag, ist natürlich einiges los. Sponsoren sind da, akkreditierte Presse und Gäste, die Jungs vom niederbayerischen Podcast Viva la Movielución, die knapp 60 Inhaberinnen einer Dauerkarte und einige Gäste, die mal neugierig zum ersten Mal vorbeischauen. „Die wundern sich dann immer, dass wir eigentlich ganz nett sind“, sagt einer, der behauptet, bei allen zehn Festivals dabei gewesen zu sein.
Deshalb läuft der Eröffnungsfilm auch außer Konkurrenz. Nicht, dass „die Neuen“ da zu hohe Werte geben, weil es gar nicht so schlimm war, kein Gewaltporno (die hier nicht gezeigt werden) oder pervers (gibt es hier nicht) oder kranker Scheiß (dito), sondern vielleicht sogar witzig (gibt es), neu (oh ja), was zum Nachdenken (tja) oder zumindest überraschend (und wie).
20 Uhr, gegeben wird The Leech. Zum Glück muss ich nicht bewerten. Denn auch wenn die 82 Minuten um einen frommen Pummel-Priester mit Mutter-Komplex, der von einem etwas gewöhnungsbedürftigen Paar heimgesucht wird, ihre Momente haben, haut mich das nicht sooo vom Hocker. Ein wenig lustig, ein wenig spannend, ein wenig überraschend – von allem etwas. Angst dabei, Flinte dabei. Ein bisschen wohlfeile (und nichtsdestotrotz notwendige) Religionskritik. Nicht allzu blutig, lebt von Andeutungen, nicht von Ekel bzw. „Gore“ (tut im Grunde keiner der gezeigten Filme). Ganz ok. Was Schönes – so kurz vor Ostern.
Doch würde ich bewerten dürfen – man reißt dazu ein Zettelchen an der richtigen Stelle zwischen einer (Boooh!) und fünf (Wooooh!) ein (Scheuerer erklärt das komplexe Bewertungssystem mehrfach) – dann gäbe es von mir eine Drei. Um schlechter zu urteilen, muss es auch richtig schlecht sein. Und so schlecht, das sei mal vorausgeschickt, ist hier kein Film. Es sind Trends, die abgebildet, Techniken, die ausprobiert und Möglichkeiten, die im Horror-Genre ausgetestet werden.
22.15 Uhr. Der erste von drei Filmen im Directors Spotlight. Ein Format, das es schon länger gibt und das den Fokus mal auf einen Regisseur und dessen Schaffen legt. Dain Said, geboren in Sumatra, aufgewachsen in London, wo er auch Film und Fotografie studiert hat, ist aus Kuala Lumpur angereist – mit Produzentin Nandita Solomon. Beide arbeiten schon lange zusammen, seit Saids Erstling Dukun. Der wurde allerdings – es ging um eine Sängerin und Mörderin – aufgrund politischer Debatten in Malaysia, die man aus hiesiger Sicht kaum nachvollziehen kann, verboten. Zensur hat eben selten etwas mit plakativen Dingen zu tun – der Kannibale von Rotenburg und das Verbot des darauf basierenden Films Rohtenburg in Deutschland lassen grüßen.
Saids Exorzismus-Streifen Blood Flower – Kinder, Pflanzen, Teufelsaustreibung, Dimensionswechsel und Kiddie-Mobbing – haut mich nicht wirklich vom Hocker. Das anschließende Publikumsgespräch schon eher.
Man erfährt beispielsweise, dass für wesentliche Rollen just deshalb Chinesen gewählt wurden, weil die keine Muslime sind und Muslime keine Geister sein dürfen – die Rassentrennung in Malaysia sei zunehmend strikter geworden, erzählt Said. Man hört, dass Penismassagen in Malaysia etwas sehr Traditionelles, nichts Anzügliches oder Sexuelles sind, welche Tabus es gibt und dass Zensur nur sehr wenig mit dem zu tun hat, was man sieht, sondern mit gewissen Befindlichkeiten einer Gesellschaft oder der Regierenden.
Es ist ein Fest ,Said und Solomon zuzuhören, auch wenn mir seine Filme nicht wirklich gefallen. Um kurz nach zwölf geht es heimwärts – es ist Karfreitag. Da ist Gaudi und Party verboten. Dass das Festival auf Ostern fällt, haben die Hard:liner bei der Planung glatt übersehen. Und bei einem Anruf im Ordnungsamt zwecks Möglichkeiten am Karsamstag habe man ihn angeschnauzt, sagt Scheuerer. Na ja. Danke für nichts.
Tag 2: „Seid keine Arschlöcher.“
Irgendwann ist ein Stammgast beim Festival auf die Idee gekommen, dass das doch unproblematischer gehen könnte mit den Platzreservierungen. Und weil das Hard:line aller Internationalität zum Trotz eben ein deutsches Festival ist, gibt es im Goodie Bag zur limitierten Dauerkarte seitdem ein Handtuch, um sich seine „Kino-Liege“ zu sichern. Ich lass es liegen. In der ersten Reihe. Alle vier Tage. Schließlich hab ich dafür gezahlt.
Manchmal aber, zum Beispiel heute, kommt dann doch mal eines weg. „Seid keine Arschlöcher“, bittet Florian Scheuerer deshalb zur Einführung an Tag 2, kurz vor 13 Uhr. „Oder gebt denen, deren Handtücher ihr klaut, zumindest ein Bier aus.“ Dann geht es los. Vier Lang- und acht Kurzfilme gibt es heute zu bewältigen.
Daughter kommt mit einem Cast von gerade mal fünf Leuten, ein paar Zimmern und einem Hammer aus, um einen gute eineinhalb Stunden lang zu terrorisieren. Wobei der Terror weniger von dem herrührt, was tatsächlich passiert, sondern von der Vorstellung dessen, was passieren könnte. Was tut Vater, ein religiös fundamentalistischer Helikopterpapi mit Faible für römische Geschichte und sehr traditionellem Rollenverständnis, der seinem Sohn eine heile Welt mit (der gleichfalls entführten) Mutter und Schwester vorzugaukeln will, wenn besagte Tochter – eine Frau, die zu diesem Zwecke entführt wurde – nicht genau das tut, was er wünscht? Lohnt es, ein Flucht zu wagen? Oder soll sie sich besser fügen? Es ist ein beklemmendes Kammerspiel, nicht allzu blutig, nicht wirklich vorhersehbar und nie langweilig, für das ich vier von fünf Rasierklingen gebe.
Kurze Pause. Es gibt veganes Catering gegen Spende für Seenotretter, serviert von Amy aus dem Büro, also der Kneipe.
Dann wird es im Kinosaal Soft & Quiet – wenn man so will ein Frauenfilm. Gerade passend für das, so drückt es Scheuerer aus, „sehr, sehr weit links stehendem Festival“. Setting: Die „Daughters of Aryan Unity“ treffen sich zum Kaffeekränzchen im Pfarrheim, um bei Hakenkreuz-Kuchen, Pancakes und süßen Teilchen am Flipchart Ideen und Strategien gegen die verkommene multikulturelle US-Gesellschaft zu sammeln und um sich bei einem Gläschen Sekt einfach mal den Frust über die Benachteiligung der überlegenen weißen Rasse von der Seele reden zu können. Es darf auch geweint werden („It’s ok. Don’t be shy.“).
Irgendwann gerät das illustre Grüppchen zwischen Journalistin, Grundschullehrerin, Sales Managerin und Ex-Knacki aber dann mit einem asiatischen Geschwisterpaar aneinander – und so kommt dann halt eines zum anderen. Das hat doch niemand ahnen können. Das hat doch keine gewollt…
Das Ganze läuft in Echtzeit ab, wirkt wie an einem Stück gedreht („One-Shot“) und erinnert fast ein wenig an „Funny Games“, aber nur fast. Ich gebe fünf von fünf – und immerhin schafft es Soft & Quiet am Ende bei der Wahl zum Publikumsliebling auch auf Platz zwei. Doch ich greife vor.
17.30, mit Interchange steht der zweite Film von Dain Said auf dem Programm. Ein Serienkiller-Fantasy-Thriller-Tierfilm mit beeindruckenden Häuserschluchten, Zivilisationskritik und einem Protagonisten, der sich aus mir unerfindlichen Gründen in einen Vogel verwandelt, um seinen Opfern, die eigentlich gar keine Opfer sind, das Blut auszusaugen und sie mit herausquellenden Adern hängen zu lassen. Das liest sich blutiger als es aussieht und ist zumindest halbwegs ok. Drei Klingen.
20 Uhr, Zombie-Zeit. Wobei es keine richtigen Zombies sind, denen in Flowing, einer italienischen Produktion, irgendwelche Dämpfe aus der Kanalisation die negativen Emotionen aus Augen, Mund und Nase treiben, was ja nur unschön aussieht, aber nicht gefährlich wäre, und sie – das ist schon gefährlich, in der Regel tödlich – zu übergriffigen Verhalten anstachelt.
Ein auf die Leinwand gebrachter Vater-Sohn-Konflikt. Fragen nach Schuld, Sühne und Vergebung werden gestellt. Nach Liebe, Frust und Verlust, aber auch nach Versöhnung.
Ein tiefgründiger Film aus der „sehr zornigen Stadt Rom“, wie es der eigens nach Regensburg angereist Regisseur Paolo Strippoli ausdrückt. Und auch er ist kurzzeitig recht zornig, weil das Festival eine falsche, nämlich die TV-Version des Films bekommen hat, in der zwar nichts geschnitten wurde, aber Format und Frames irgendwie anders sind als in der Kinofassung. Mir fällt das nicht auf. Ich bin nur Laie. Fünf Klingen.
Es ist kurz nach zehn – der erste Kurzfilm-Block steht an. Acht Ideen quer über den Globus in hundert Minuten. Der humorige Teil überwiegt, es reißt mich nichts vom Hocker, aber es treibt mich auch nichts aus dem Kino raus. Erwähnenswert ist aber doch The Sprayer – ein Animationsfilm über eine faschistoide Roboterwelt, in der jegliches Grün der Vernichtung anheim fällt. Bezeichnenderweise aus dem Iran. Was zum Nachdenken.
Ich bin um kurz nach ein Uhr daheim – neben dem Gründonnerstag und dem Karfreitag ist nämlich auch der Karsamstag ein stiller Tag mit Tanz- und Spaßverbot. Hoffentlich hat auch im Kino niemand gelacht.
Tag 3: „Ostern und anderes Familiengedöns.“
Mittagessen daheim, deshalb komme ich gerade so zum 13 Uhr-Film, der trotz „Ostern und anderem Familiengedöns“ (Scheuerer) recht gut besucht ist. So wie übrigens alle Vorstellungen. 121 Zuschauerinnen und Zuschauer sind es im Schnitt – eine Auslastung von gut 80 Prozent. Anders ausgedrückt: Die Bude ist meistens voll. Über 1.800 Besucherinnen und Besucher werden offiziell gezählt.
Eine deutsche Produktion steht jetzt auf dem Programm – Pelikanblut genannt, mit dem Produktionsjahr 2019 schon ganz schön alt und deshalb außer Konkurrenz laufend. Das Format „Highlight Deutsches Kino“ sei zunächst Förderanforderungen geschuldet gewesen und dann zu einer kleinen Leidenschaft geworden, erzählt Scheuerer. Einer, die auch Leiden schafft. Denn was das Horror-Genre anbelangt, da sehe es in Deutschland eher düster aus. Pelikanblut, immerhin mit Nina Hoss in der Hauptrolle, sei bei seinem Erscheinen in Deutschland erst als eine Art „Systemsprenger II“ beworben worden und – weil er das nicht ist, so ein Jugend-/Kinder-Problemfilm – gefloppt.
Als Genrefilm entdeckt wurde der Zweistünder dann außerhalb Deutschlands und 2020 mit dem Méliès D’Or als bester europäischer fantastischer Film ausgezeichnet. Warum das so ist, erschließt sich mir nicht. Aber weil einen die Frage, was denn jetzt passieren wird oder könnte, doch lange genug fesselt, gebe ich dem blutenden Pelikan drei Klingen. Weil ich nicht so bin. Wer es nachprüfen will: Just zum Hard:line ist der Film auf Netflix erschienen.
Kurz nach 15 Uhr. Nach Obst und Nüsschen von der veganen Theke und bewaffnet mit einem Getränk geht es zurück ins Kino. Endlich mal was Leichtes nach all dem anspruchsvollen Tiefgang. Hunt her, Kill her – 89 Minuten Spannung, Gelächter und ja – auch ein wenig Blut. Der Tradition von Michael Myers und Halloween folgt dieser Low Budget-Slasher, bricht aber mit einigen Mustern. Hier sind es gleich fünf bewaffnete und bemesserte Maskierte, die hinter einer jungen Mutter her sind. Jene weiß sich aber – nach ein paar Startschwierigkeiten – zu wehren. Allzu viel spoilern kann man jetzt wahrscheinlich nicht mehr.
Die Verfolgungsjagd mit feministischen Anklängen und Familienanschluss bekommt von mir drei Klingen – die Umkehrung des üblichen Musters verdient zwar Anerkennung, witzig-spannend ist das Ganze auch, doch eine 20 Minuten kürzere Jagd durch die stillgelegte Möbelfabrik hätte ebenso gereicht.
Smother, deutscher Titel: Heimsuchung, heißt der Familienfilm im Frühabendprogramm. Mein persönliches Highlight am Samstag. Der einzige deutschsprachige Film im Publikumswettbewerb stammt bezeichnenderweise aus Österreich und feiert beim Hard:line seine internationale Premiere, wird also erstmals außerhalb seines Heimatlands gezeigt.
Eine verworrene und von Sprachlosigkeit geprägte Familiengeschichte, ein Elternhaus, in dem man nach dem Tod des Vaters, trotz düsterer Ahnungen und mannigfacher Warnungen natürlich mehrere Nächte bleiben muss, Ehe- und Alkoholprobleme und ein kleines Mädchen im Sonnenblumenfeld bilden das Setting in diesem tiefenpsychologischen Drama, bei dem man mit dem Schlimmsten rechnen und das Beste hoffen sollte.
Fünf Klingen ist das wert – und zwar nicht vornehmlich deshalb, weil dieses Regie-Debüt des angereisten Achmed Abdel-Salam auch einen Preis für ressourcenschonendes „Green Filming“ bekommen hat. Das sieht man dem Eineinhalbstünder nämlich nicht an. Großes Kino aus Ösi-Land.
Found Footage ist eine Erzählmethode, die es – vornehmlich im Horror-Genre – schon über 60 Jahre gibt und die spätestens mit Blair Witch Project größere Popularität und Nachahmer fand. 23 Jahre später sind es bei The Outwaters nun verwackelte Aufnahmen eines Quartetts junger Erwachsener, die in der Mojave-Wüste gefunden wurden und um 20 Uhr erstmals in Deutschland gezeigt werden.
Die Vier wollen in der windigen Wüstenei augenscheinlich ein Musikvideo drehen, aber dann – ungefähr nach der ersten Stunde – geraten sie in irgendetwas hinein. Eine weitere Stunde hört sich das dann vor allem ziemlich übel an, das Wenige, was bei den kleinem Lichtkegel klar zu erkennen ist, sieht noch übler aus. Am Ende bleibt neben vielen anderen unbeantworteten Fragen vor allem jene, wie zum Geier und vor allem warum jemand eine Kamera oder ein Handy in der Hand filmender Weise halten kann oder sollte, während seine Welt und er selbst von oben nach unten und von innen nach außen gekehrt werden. Und, ob die Taschenlampen in den USA wirklich so mini sind.
Die Deutschlandpremiere von The Outwaters ist, das gesteht er, einem Faible des Festivalleiters für solche „Spinnereien“ geschuldet. Das Publikum wird von Scheuerer ermahnt, ihm das auch künftig zu gönnen – trotz der schlechtesten Bewertung, die es seit zehn Jahren jemals beim Hard:line gab.
Der verstörendste Film des Festivals lässt einen ratlos zurück. Ich gebe vier Klingen, fast wären es fünf geworden – ist doch schön, wenn mal gar keine Erwartungshaltung erfüllt wird. Die beiden angekündigten „Erweiterungen“, sprich Fortsetzungen (es werden noch mehr Speicherkarten in der Wüste gefunden) dürften zwar auch keine Erhellung bringen. Sehen will ich das aber trotzdem. Scheuerer, übernehmen Sie.
Für etwas Entspannung bis Mitternacht sorgt dann die zweite Lage Kurzfilme – darunter zum einen die Deutschlandpremiere von Oldmen Rule, einer russischen Produktion über menschliches Haltbarkeitsdatum und KI, die es auf Platz zwei bei den Publikumslieblingen schafft (und mein persönliches Highlight unter allen 16 Kurzfilmen ist).
Dabei habe man noch diskutiert, ob man die 13 Minuten vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs zeigen solle, erzählt Scheuerer. Aber ebenso wie beim Iran spreche ja nichts dagegen, progressive Kräfte in einem solchen Land zu unterstützen. Gut gemacht.
Publikumsliebling wird am Ende aber Lost in the Sky, ein süßer Roboterfilm aus Schweden, der auf den ersten Blick aussieht als käme er frisch aus den Pixar-Studios von Disney. Aber weit gefehlt. Hier ist auch weniger der Inhalt extrem – so wirklich ins Genre fügt sich das Ding nicht – dafür sind es aber die Produktionsbedingungen.
Sechs Jahre haben Regisseur Simon Öster und sein Kumpel und Produzent Kevin Gullberg an den zwölf Minuten gearbeitet – der Weltraumhintergrund entstand im Wassertank, der Roboter ist handgemacht und gewinnt seine menschlichen Züge, weil er über einen Anzug von einem Menschen gesteuert wird. Kein CGI, nix Computer, alles handgemacht. Das überzeugt auch die Jury, die Lost in the Sky in die Hauptrunde für den Méliès D’Argent Award, den besten europäischen fantastischen Kurzfilm weiterschickt.
Zum Glück versäumen die beiden Schweden am nächsten Tag ihren Flieger und können so ihren Hard:Line-Award persönlich entgegen nehmen – ein gut gelungener Horror-Oscar (offizieller Name: Razor Blade), der an Satans jüngste Tochter (Carrie) erinnert, entworfen von André Bockes, umgesetzt von Lilly Peithner.
Es ist schon nach zwölf. Die stillen Tage sind vorbei – pünktlich zum Ostersonntag beginnt in der Kinokneipe die Sublime-Party. Während sich drinnen alles schiebt, drängt und auch ein wenig tanzt, plaudert draußen Dain Said bei Bier und Rotwein, eingehüllt in eine blaue Kuscheldecke, mit Kollegen und Gästen über sein Schaffen, Malaysia, das Festival – und überhaupt. Vorne an der Kasse werden derweil die Stimmzettel ausgewertet. Scheuerer sieht übernächtigt aus, wirkt aber gut gelaunt.
Tag 4: „Wer hier nicht heult, der hat kein Herz.“
Es ist der letzte Tag. Die Vorstellung um 13 Uhr ist eine besondere. In vier von fünf Fällen war es in der Vergangenheit der Publikumsliebling, der zu diesem Termin gezeigt wurde. Weil da eben so viele ungeübte Zuschauer vorbei kämen, sagen die alten Hasen. Genreunkundig. Mit falschen Erwartungen und Befürchtungen. Die seien ja schon froh, wenn ein Film nicht so schlimm wäre, wie sie es gedacht hätten. Und sonntags, da hätten eben die meisten Zeit. Auch ostersonntags?
Nun ja, das Kino ist zumindest fast voll bei Blaze, einer australischen Produktion. Im Kern ein Coming of Age-Film über eine kreativ-verträumte Zwölfjährige mit Faible für Lametta, Porzellanfigürchen und Drachen – einer von ihnen ist ihr unsichtbarer Begleiter, ihr Freund Harvey – nur in bunt und mit Gefieder. Man habe schon überlegt, eine FSK-Prüfung zu beantragen, meint Scheuerer. Um Schulklassen einladen zu können, weil: „Wer hier nicht heult, der hat kein Herz.“
Doch bei allem Bunten und Nippes, Emotionen und Tränen, süßem Riesendrachen und alleinerziehendem Papa Simon Baker (bekannt aus The Mentalist) übersieht man fast, dass die Protagonistin und damit auch die Zuschauer hier Zeuge einer Vergewaltigungsszene werden, wie man sie selten im Kino gesehen hat – und das nicht, weil sie besonders voyeuristisch wäre. Im Grunde ist gerade diese schonungslose Darstellung eines Täters sehenswert. Aber auch heftig.
Nö, nö – FSK 12 ist da nicht drin und auch FSK 16 – gab es mal für Rambo III, inklusive Prädikat „wertvoll“ – könnte schwierig werden. Deshalb hat man die Iee auch wieder verworfen.
Ob der Film tatsächlich feministisch ist, wie Regisseurin Del Kathryn Barton (per Videobotschaft) – im Grunde das ältere Pendant ihrer Hauptprotagonistin – meint, vermag ich nicht zu beurteilen. Vier Klingen ist mir das Ganze – explizit kein Rachefilm übrigens – aber auf jeden Fall wert. Dem Gros der Zuschauer sogar mehr – mit einem nie dagewesenem Wert wird Blaze später am Abend der Publikumsliebling des Festivals. Gesetz der Serie.
Es folgt noch Bunohan, dritter Film von Dain Said, und sein offizieller Erstling aus dem Jahr 2011. Im asiatischen Raum ein Klassiker – heißt es im Programm. Und na ja, das Drama um drei Brüder hat schon was. Auch wenn es etwas fordernd ist, angesichts der für Europäer ungewohnten Erzählstruktur hineinzufinden in diese Geschichte.
Im Grunde ist es, um Saids Erläuterungen etwas zuzuspitzen, ein Frauenfilm, eine Hommage an starke Frauen, mit denen er aufgewachsen ist. Tatsächlich tritt in den 97 Minuten nur eine Frau, eigentlich nur eine halbe, in Erscheinung – und das nur sehr kurz. Doch gerade die Darstellung dessen, zu was die Abwesenheit von Frauen führen könne (zu was echt Schlimmen), sei ein zentraler Punkt hier – sagt Said.
Dass Produzentin Solomon dann zum Beispiel noch einflicht, dass eine Verfolgungsjagd in Bunohan von Said ursprünglich Helikopter und diverse Motorboote vorgesehen hätte, am Ende aber aus Budgetgründen nur ein Ruderboot mit kleinem Außenborder übrig geblieben ist, das gemächlich durchs Schilf tuckert, macht die Realität des kreativen Schaffens mal wieder richtig greifbar. Man freut sich, dass beide da waren und hat das Gefühl, etwas gelernt zu haben. Ich zumindest.
Jetzt eine lange Pause. Soundcheck für Doll Circus, die später zur Preisverleihung hinführen sollen. Mit meiner Begleitung entdecke ich so nebenbei, etwas weiter hinten in der Adolf-Schmetzer-Straße die wahrscheinlich beste Döner-Bude der Stadt mit Adana-Dürüm vom Holzkohle-Grill. Doch ich schweife ab.
Es gibt noch ein wenig Rock’n’Roll, was nach viel Kino und bei einem Sitzpublikum schwierig für die Band ist, die damit aber grandios-professionell umgeht – und nicht nur Big Balls, intoniert von einer Frau im hautengen Skelett-Dress (Shake the Snake) ist ein weiterer der vielen Brüche mit den Erwartungen, die dieses Festival auszeichnen.
Anschließend fließt es dann in Strömen, nicht das Blut, aber die Tränen. Heike Jörss wird geehrt – nicht in ihrer Eigenschaft als Rockröhre (Suzie Rock, SickSickSick, Kizzy Suzuki), sondern weil die mehrfach preisgekrönte Grafikdesignerin, nachdem sie zehn Jahre lang dem Festival mit Trailern, Plakaten und Programmgestaltung ihren Stempel aufgedrückt hat, Platz macht für „kreatives Frischfleisch“. Für ihr Engagement erhält sie den Hard:line Merits Award.
Es wird ein wenig geweint auf der Bühne. Und es ist bezeichnend für die familiäre Atmosphäre des Festivals, dass Jörss fast noch mehr Applaus bekommt als die Gewinner von Publikums- und Jury-Preis. Zum Schluss gibt es dann noch etwas auf die Leinwand außer Konkurrenz – einfach nur zum Spaßhaben, zumindest wenn man denn richtigen Zugang findet.
Ob der chilenische Martial Arts-Film The Fist of the Condor ernst gemeint ist oder tatsächlich das Gelächter auslösen soll, das während der Vorführung im Publikum herrscht, wäre mal ein eigenes Directors Spotlight im nächsten Jahr wert. Schließlich ist es, das bekommt man am Ende mit, nur der Auftakt zu einer wohl epischen Serie. Und immerhin: Hauptdarsteller Markor Zaror hat auch in John Wick 4 mitgespielt und Keanu Reeves verdroschen. Wobei mir das ja zu inhaltslos ist. Und zu brutal.