Retro-Mindfuck-Slasher, Queercore und zwischenmenschliche Begegnungen
Facettenreiches Kino am Puls der Zeit – am kommenden Mittwoch steigt mit dem Transit Filmfest zum fünften Mal das größte Regensburger Langfilm-Festival. Ein kleiner Überblick.
„Servus, Gruezi und Hallo“. So heißt es in dem 1977 kreierten Lilalaunekracher des Mutter-Tochter-Duos Maria und Margot Hellwig, der zum Schunkeln und Mitklatschen einlädt. Und irgendwie kommt das diesjährige Motto des Transit-Festivals auf den ersten Blick auch recht gefällig und seicht daher. Nicht so verkopft wie in der Vergangenheit. Mit dem keine Antwort erwartenden Allerweltsgruß „Hi, how are you?“ scheint man auf der sicheren Seite zu sein.
Doch hinter der Namenswahl steckt weit mehr als ein billiger Anbiederungsversuch. „Hi, how are you?“ geht zurück auf das Cover des 1983 erschienenen sechsten Albums des US-Musikers Daniel Johnston, bewundert von Bands wie Sonic Youth oder Nirvana-Sänger Kurt Cobain, aber angesichts einer bipolaren Störung unter der er litt, immer wieder in Behandlung, so dass ihm der große Durchbruch nie gelang. Er starb 2019.
Aufforderung zum ehrlichen Austausch
Bei Johnston war „Hi, how are you?“ das glatte Gegenteil der üblichen Verwendung, keine Allerweltsformel, sondern – vor dem Hintergrund seiner psychischen Erkrankung – eine Aufforderung zu ehrlichem Austausch und Begegnung. Einen Ort des Dialogs, des Nachdenkens, aber auch der Kontroverse will das Transit-Team um Chrissy Grundl auch heuer wieder eine Woche lang vom 6. bis zum 13. November bieten.
Sie versprechen, dann gar nicht mehr so gefälig oder gar seicht, „okkulte Mixed-Media-Kunstwerke, politische Horrorsatiren, Retro-Mindfuck-Slasher, postmigrantisches Metakino, Magischen Sozialrealismus, Queercore-Pornogrotesken, Knast-Musicals, postironische Found-Footage-Roomcoms und ein sprechendes Flusspferd“.
Über 30 Langfilme
In der internationalen Hauptsektion – über 30 Langfilme – zeigt Transit vielfältige Facetten dessen, wie zwischenmenschliches Zusammensein, manchmal auch Aufeinanderprallen aussehen kann. Schwelende Familienkonflikte, abgründig komisch aufbereitet („Der Spatz im Kamin“), polyamore Liebesbeziehungen unter spanischer Sonne („Alle We Ever Wanted“) oder ein nostalgischer Familien-Roadtrip („Arthur & Diana“).
Ausgeschlossene und Menschen im Exil bekommen eine Stimme – zum Beispiel im Eröffnungsfilm, wo die Exil-Iranerin Narges Kalhor von den Tücken der bayerischen Bürokratie erzählt. Sie wird auch persönlich nach Regensburg kommen. Der deutsch-argentinisch-schweizerische „Reas“ ist ein dokumentarisches Knast-Musical, das mit DIY-Ästhetik von vor allem jungen Menschen erzählt, die hinter Gittern ihre Traumata, ihre Vergangenheit und ihre Hoffnung auf Zukunft in Musik, Gesang und Tanz verarbeiten. In „Soleymane’s Story“ liefert sich ein Fahrradkurier vor seiner Asylanhörung im hektischen Paris einen Wettlauf gegen die Zeit.
Im Geiste von Daniel Johnston setzt sich Transit heuer auch mit menschlichen Schwächen und Verletzlichkeiten auseinander – der übergewichtige Teenager in dem tschechischen Animationsfilm „Living Large“, mit toxisch-positiven Optimierungslogiken – der schwer verdauliche Locarno-Gewinner „Toxic“, und dem Umgang mit Krankheit („Play Dead!“). In „Veni, Vidi, Vici“ rechnet die österreichische Regisseurin Julia Niemmann bitterböse mit der Erfolgslogik des „Survival of the Fittest“, dem Anarcho-Kapitalismus der Oberschicht und den Parallelwelten superreicher Psychopathen ab.
Filme aus dem Giftschrank
Den Giftschrank öffnet das Festival in seiner Retrospektive-Sektion „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ und präsentiert neun Filme, die ihrer Zeit voraus waren, durchfielen oder gar zensiert und verbannt wurden. Mit dabei ist beispielsweise „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ von 1971. Regisseur: Rosa von Praunheim, ein Pionier des schwulen Kinos in Deutschland.
Der französisch-angolanische „Sambizanga“ von 1972 ist der erste, von einer Frau, Sarah Maldoror, gedrehte afrikanische Langfilm und gilt heute als Klassiker des antikolonialen Widerstands. „The Doom Generation“, 1995 gedreht, behandelt den gewalttätigen, von Drogen und Sex begleiteten Roadtrip eines queeren Throuples durch die USA. Seinerzeit von der Kritik verrissen gilt er heute als ikonischer Beitrag zum New Queer Cinema der 90er Jahre.
In einer drei Filme umfassenden Werkschau wird das Schaffen von Monika Treut vorgestellt. Ihr Langfilm-Debüt „Verführung – die grausame Frau“, es geht um eine Domina, unter deren Fittiche sich unter anderem mit Udo Kier begibt, wurde 1985 vom Katholischen Filmdienst als „rundum überflüssig“ geziehen. Der frühere CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann sprach von einer „Mischung aus Fäkaliensprache und Erotik“, die niemandem zugemutet werden könne. Heute gilt der Film als avantgardistische Perle des queeren Indie-Kinos. Die 70-Jährige Regisseurin wird bei der Werkschau vor Ort sein.
Neurologische Diversität im Fokus
Die interdisziplinären Themensektion „Close Encounters“ schließlich widmet sich dem Thema neurologische Diversität. Transit kooperiert hier mit dem Verein akku e.V., der sich der Kunst von Menschen mit Autismus verschrieben hat. Die drei Langfilme und das flankierende Kurzfilmprogramm in dieser Sektion umfassen einen Zeitraum von 70 Jahren und beschäftigen sich auf meist unkonventionellen und experimentelle Weise mit der Bandbreite psychischer Beeinträchtigung und Behinderung. Im M26 gibt es zu dieser Sektion eine Begleitausstellung.
Podien, Konzerte, Partys
Neben verschiedenen Podium, Publikumsgesprächen und Diskussionsforen gibt es noch Begleitprogramm und auch was auf die Ohren. Ein Eröffnungskonzert (Embryo) und Eröffnungsparty mit DJs am Mittwoch in der Kinokneipe, zwei weitere Partys am Freitag und zum Abschluss des Festivals am 13. November.
Am Sonntag (10. November) liest Dirk von Lowtzow (Tocotronic) aus seinem Tagebuchroman „Ich tauche auf“, in dem er ein Stimmungsbild eines Landes in Zeiten der Corona-Pandemie zeichnet. Das Glisten Collective vertont am 9. November im Andreasstadel drei queere Schwarz-Weiß-Filme live, weitere Konzerte gibt es am 11. (Gewalt) und 13 November (Wand). Die gute Laune kommt also dann doch nicht zu kurz, aber vielleicht das Schunkeln.
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Disclaimer: regensburg-digital ist Medienpartner des Transit Filmfests.
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