„Wie stark ist ein Staat, der es nötig hat, Flüchtlingen systematisch mit Ausgrenzung und Verweigerung zu begegnen?“ Heiko Kauffmann ist hörbar wütend. Der Vorstandssprecher der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl ist vergangenen Montag nach Regensburg gekommen, um über die Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland zu sprechen. Keine 30 Zuhörer haben es ins Evangelische Bildungswerk geschafft. Vielleicht will man die unangenehme Wahrheit lieber nicht hören.
Denn dass die Bundesrepublik die Rechte von Flüchtlingen – vor allem Kinder und Jugendlichen, um die es am Montag geht – mit Füßen tritt, ist während Kauffmanns, mit Zitaten und Fakten gespickten, Vortrags mit Händen zu greifen.
„UMF – unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, lautet der Amtsjargon für Kinder und Jugendliche, die in Deutschland Asyl suchen. Minderjährig? Bereits dieses Wörtchen ist Definitionssache. Zwar werden nach der UN-Kinderrechtskonvention alle Menschen bis zu ihrem 18. Lebensjahr als Kinder betrachtet, die besonderen Schutz und Fürsorge benötigen. Doch was in der Bundesrepublik für deutsche und europäische Jungen und Mädchen gilt, gilt nicht für die aus dem Irak, Afghanistan oder Somalia. Sie sind in Deutschland in erster Linie Ausländer, nicht Kinder.
Die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) hat die BRD 1992 ratifiziert. Allerdings unter Vorbehalt. Bereits der erste Artikel, das Recht auf Gleichbehandlung, unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht, hat in Deutschland für Flüchtlingskinder de facto keine Gültigkeit. Der Staat lasse sich durch die Konvention nicht in seinem „Recht“ beschränken, „Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“, heißt es in der seinerzeit abgegebenen Vorbehaltserklärung der Bundesregierung.
Seit Jahren fordern humanitäre Organisationen die Rücknahme dieser Erklärung. Es gab Anläufe aus Bundestag, Bundesrat und verschiedenen Ausschüssen. Erfolglos. Auch die rot-grüne Bundesregierung hielt seinerzeit an dem Vorbehalt fest.
Und so wird Flüchtlingskindern bereits im Alter von 16 Jahren das Erwachsensein bescheinigt, sie gelten damit als „asylmündig“ und müssen ihr Asylverfahren ohne einen gerichtlich bestellten Vormund bestreiten. Die BRD ist, neben Österreich, das einzige Land in Europa, in dem Kinder und Jugendliche in Abschiebehaft genommen und wie Kriminelle behandelt werden, weil sie in Deutschland Asyl beantragt haben.
Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme. Deshalb beschäftigen sich internationale Verhandlungen, einberufen, um die Frage zu erörtern: „Wie schützt man die Flüchtlinge?“ vor allem mit der Frage: „Wie schützen wir uns vor ihnen?“ Alfred Polgar, österreichischer Schriftsteller
Laut Kauffmann gibt es in Deutschland rund 55.000 minderjährige Flüchtlinge, 5.000 von ihnen kamen ohne Eltern nach Deutschland. „Nach traumatischen Erlebnissen in ihren Heimatländern treffen diese Kinder in Deutschland als erstes auf Uniformträger und werden einem Verfahren unterworfen, dass sie nicht verstehen.“ Beispielhaft: das sogenannte „Altersfeststellungsverfahren“. Es greift, sofern die Behörden das Alter der Flüchtlinge in Zweifel ziehen.
Per „Inaugenscheinnahme“, Untersuchungen von Gebiss und äußeren Geschlechtsmerkmalen oder Zwangsröntgen des Handwurzelknochens soll das „tatsächliche“ Alter festgestellt werden. Im Fall der festgestellten Volljährigkeit – der Flüchtling müsste das Gegenteil per Gutachten beweisen – droht die Abschiebung. Bestenfalls steht am Ende die „Sammelunterkunft“; und selbst im Falle der Anerkennung fast immer ein unsicherer Aufenthaltsstatus.
Wer (…) von „Nie wieder“ spricht, kann sich nicht in die Lage gedemütigter, verzweifelter und abgeschobener Menschen versetzen. Er weiß nicht was es heißt, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt werden und sie allein ihrem Schicksal überlassen sind – oder er oder sie sprechen bewusst die Unwahrheit.
Ernst Grube, Präsidiumsmitglied der Lagergemeinschaft Dachau
Die Praxis der Bundesrepublik, Menschen, die bereits Jahre in Deutschland leben, integriert sind und Arbeit gefunden haben, den Asylstatus wieder abzuerkennen, beschert ein solches Leben in permanenter Unsicherheit. „Was soll man von einer Politik halten, die Menschen nach Jahren durch staatlichen Widerruf vor die Tür setzt?“ Laut Pro Asyl hat das Bundesamt für Migration in den letzten fünf Jahren insgesamt 20.676 einen Schutzstatus erteilt und ihnen Asyl in Deutschland gewährt. Im gleichen Zeitraum wurde 51.250 Menschen der Schutzstatus per Widerrufsverfahren entzogen. Dann droht die Abschiebung, in jedem Fall zermürbende (und teure) gerichtliche Auseinandersetzungen.
„Die Erlebnisse des Krieges haben mich nicht so traumatisiert, wie die Behandlung durch die Behörden in Deutschland“, zitiert Kauffmann eine mittlerweile 20jährige Frau, die vor zehn Jahren mit ihrer Familie aus Afghanistan floh. „Bis heute beherrscht mich Angst, Angst um mich, Angst um meine Familie. (…) Seit zehn Jahren wissen wir nicht, ob wir als Flüchtlinge anerkannt werden. (…) Wir leben in ständiger Angst vor der Abschiebung. Ich frage mich ob dieses Land wirklich eine Demokratie ist. Ich bin zutiefst enttäuscht. Ich bin ein Mensch zweiter Klasse“. Das Mädchen war Jahrgangsbeste ihres Abiturjahrgangs. Das Studieren wird ihr durch die deutschen Behörden verwehrt.
Die Grenzen zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat sind fließend. Es gibt keinen Staat, der der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entrückt wäre. Die Perversion beginnt bereits da, wo man das Recht und den Rechtsstaat als etwas Gegebenes ansieht, das man hat, als einen Zustand, den es zu erhalten gilt, als ein erreichtes Ziel, an dem man sich ausruhen kann. Die Folge dieser Denkweise ist notwendig eine Versteinerung, Erstarrung und damit Entfremdung des Rechts, denn nur dann kann Recht wirklich Recht bleiben, wenn es am Leben erhalten, d. h. unablässig neu gestaltet und fortgebildet wird.
Der Strafrechtslehrer und Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann