Babi Jar – eine leere Floskel in der Regensburger Gedenkpolitik
Die von der Wehrmacht verantwortete Ermordung von 33.000 Juden in der Schlucht von Babi Jar zählt zu den größten Massakern des Zweiten Weltkriegs. Dass Oberbürgermeister Hans Schaidinger bei mehreren Gedenkreden angesprochen hat, dass ein Regensburger daran maßgeblich beteiligt war und deshalb 1971 ein „Juden-Mordprozeß“ am hiesigen Landgericht stattfand, erscheint verdienstvoll. Ist es das wirklich?
Oberbürgermeister Hans Schaidinger hatte sich zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag viel vorgenommen: Die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungswahns gebe diesen „ihre Ehre, ihre Würde als Mitmenschen“ zurück. Es dürfe nie mehr zu einem Holocaust kommen. Dieses Bekenntnis dürfe jedoch nicht bei hehren, „aber letztendlich tatenlosen und damit leeren Worten“ stehen bleiben. Den Anfängen sei zu wehren. Denn ein Erinnern sei Voraussetzung bzw. Grundlage des „Friedens in unserer Stadt, in unserem Land und weltweit“. So Hans Schaidinger am 29. Januar vor dem Gedenkstein zum KZ-Außenlager Colosseum.
Hat er sich dabei nicht etwas übernommen? Kann man beispielsweise den von Schaidinger angesprochenen mehr als 33.000 ermordeten Juden von Kiew, getötet in der nahegelegenen Schlucht namens Babi Jar, die Würde zurückgeben? Kann man Säuglingen, Kindern, Erwachsenen und Greisen, die einzeln und entkleidet an zwei Septembertagen 1941 mit Handfeuerwaffen erschossen und deren Leichen von Wehrmachtseinheiten mit Hilfe von Sprengladungen vergraben wurden, ihre Ehre wiedergeben. Nein, das kann man wohl nicht, keinesfalls im Rahmen eines Holocaust-Gedenktages.
Einundzwanzig von hundert erwachsenen Deutschen unter 30 Jahren können mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen, wissen nichts von dem Vernichtungslager im von Nazideutschland besetzten Polen. Wie viele der Deutschen wissen, was vor 70 Jahren in Babi Jar geschah? Und – um auf Schaidingers Diktum zurückzukommen – wo bleiben die gedenkpolitischen Taten der Stadt Regensburg, die über die „leeren Worte“ hinausgehen?
Trauer Unter den Linden: Soldaten sind Naziopfer
Szenenwechsel. Der Rede zum letztjährigen Volkstrauertag nach zu urteilen, trauert Schaidinger vor allem um deutsche Opfer. Um die Angehörigen und Verwandten, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs ihr Leben ließen. Zudem möchte er der Opfer „gewaltsamer Vertreibung aus dem Sudetenland oder Schlesien, aber auch aus Ostpreußen oder Pommern“ gedenken.
Um das Motto des Tages – die Trauer um die „Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen“ – nicht ganz zu verfehlen, erweiterte er die Gruppen der Opfer um eine weitere. Er erwähnt noch, „dass die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, einer ethnischen Gruppe oder einer politischen Partei, dass ein körperliches oder geistiges Gebrechen oder gar die sexuelle Orientierung Grund für massenhafte Verfolgung und Ermordung waren.“ Doch dies sei Vergangenheit, die „sich viele von uns nicht mehr vorstellen“ könnten. Gerade so als ob Schwulen- oder Judenhass still ausgestorben wäre.
Zu den „Opfern des Nationalsozialismus“ zählt Schaidinger bekanntlich auch die Soldaten der Wehrmacht. Dies dürfe man nicht vergessen, und deshalb widmete er diesen Soldaten in seiner Rede in etwa soviel Platz, wie den Opfern aller anderen Nationen zusammen. Der Volkstrauertag bedeutet für den Oberbürgermeister auch einen „Prozess der Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres eigenen Landes und unserer Stadt“. Eine Auseinandersetzung mit Massenmorden von Babi Jar und der Rolle der Wehrmacht kann Schaidinger nicht geführt haben, da er sonst nicht so abwegig von der Wehrmacht als Opfer des Nationalsozialismus reden könnte. Was Schaidinger ignoriert: Ohne Angriffs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht kein Holocaust.
Babi Jar – das größte Massaker des Zweiten Weltkriegs
Schon bevor mit der sogenannten Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 die bürokratisch-technische Organisation der systematischen Ermordung der europäischen Juden beschlossen wurde, hatten Mitglieder der sogenannten vier Einsatzgruppen im Gefolge und mit der Unterstützung der Wehrmacht fast eine Million Juden und Jüdinnen ermordet. In der Regel durch Erschießen, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine baulichen Vernichtungs-Zentren gab. (Die Bauarbeiten für das erste Vernichtungslager im Osten, in Belzec nahe Lublin, begannen erst im November 1941. Wenige Monate später, im Februar 1942, setzte man dort in einer Gaskammer Kohlenmonoxid zur Ermordung von Menschen ein. Diese Tötungstechnik wurde zum ersten Mal um den Jahreswechsel 1939/1940 in Brandenburg an sogenannten Behinderten angewandt.)
Die Einsatzgruppen setzten sich hauptsächlich aus Mitgliedern der Waffen-SS, der Ordnungspolizei, der Geheimen Staatspolizei und zu geringen Anteilen aus anderen Einheiten zusammen. Ihre Stärke betrug zwischen 600 und 900 Personen. An dem Massenmord in Babi Jar war unter anderem das Polizeibataillon 45 beteiligt, das zu dem Polizeiregiment Russland-Süd gehörte. Da dieses Regiment eine Zeitlang unter dem Kommando eines Oberstleutnants der Schutzpolizei, Rene Rosenbauer, stand, der nach dem Krieg in Regensburg lebte, konnte im Mai 1971 vorm Landgericht Regensburg ein „Juden-Mordprozeß“ eröffnet werden.
„Juden-Mordprozeß“ in Regensburg
Den Regensburger Verhandlungen am Landgericht war u. a. ein Militärgerichtsprozess in Nürnberg gegen 24 SS-Führer und Kommandeure von Einsatzgruppen vorausgegangen, der im Jahr 1948 mit 14 Todesurteilen und langjährigen Haftstraften endete. Nur vier der Angeklagten – jene, die gestanden hatten, an den Erschießungen beteiligt gewesen zu sein – wurden im Jahr 1951 in Landsberg hingerichtet. Die anderen wurden bereits zwischen 1951 und 1958 wieder entlassen.
Das Regensburger Landgericht stellte schon im Vorfeld das Verfahren gegen den oben erwähnten Regimentsführer Rosenbauer (82) ein, da man ihn als verhandlungsunfähig einstufte. Angeklagt wurden der Kommandeur des Polizei-Bataillons 45, Martin Besser (79), der Kompanieführer Engelbert Kreuzer (57) und der Spieß der Kompanie, Fritz Forberg (66). Wegen Beihilfe zu tausendfachem Mord in sieben Fällen. Der Prozess begann mit einer anonymen Morddrohung gegen den Vorsitzenden Richter. „Regensburg scheint ein denkbar ungeeignetes Pflaster zu sein, Nazivergangenheit zu bewältigen“, bemerkte seinerzeit „Die Woche“.
Der zweite Verhandlungstag führte zu einem Zusammenbruch bzw. zur Verhandlungsunfähigkeit von Spieß Forberg. Am dritten Tag reklamierte Major Besser, er könne dem Geschehen nicht mehr folgen. Er wurde daraufhin von Regensburger Medizinaldirektoren als „lebenslang verhandlungsunfähig“ eingestuft. Ein weiteres ärztliches Gutachten, das ihn für verhandlungsfähig erklärte, kam nicht zum Zuge. Blieb also nur noch Kompanieführer Kreuzer, der zudem der Mittäterschaft bei 40.000-fachem Mord angeklagt wurde. Major Kreuzer inszenierte sich im Laufe des Verfahrens als „Genickschussspezialist“, gab Auskunft, wie richtig zu töten sei. Seine Verteidigung: Er habe zwar Befehle weitergegeben, selbst jedoch nur exakte „Gnadenschüsse abgegeben, um Menschen von ihrem Leiden zu erlösen“. Er sei kein Judenhasser. Sollte er einmal tatsächlich „auf Unverletzte geschossen haben, dann war es, weil Munition fehlte oder weil Panik zu befürchten war“, wie der Gerichtsreporter der „Woche“ etwas fassungslos am 8. Juli 1971 berichtete.
Ein Prozess, den in Regensburg niemand haben wollte
Das Urteil gegen den ehemaligen Polizeimajor und SS-Sturmbannführer Kreuzer fiel am 5. August. Das Gericht verhängte sieben Jahre wegen Beihilfe zum Mord – Tatorte neben Babi Jar/Kiew: Berditschew, Chorol, Slawuta, Schepetowka, Sudylkow, Winniza. Einer außergerichtlichen Aussage, dass er eine Jüdin, die ihm kurz vor ihrer Hinrichtung auf die Füße spuckte, eigenhändig erschossen hat, wollte das Gericht nicht folgen. Ein eigener Mordwille sei nicht unbedingt anzunehmen: „Es sei nicht auszuschließen gewesen, daß diese Frau bei der Aktion ohnehin ums Leben gekommen wäre.“ Die Justiz habe auf verlorenem Posten gestanden, da sie gegen den Verdrängungskomplex einer ganzen Nation ankämpfen habe müssen, resümierte der Reporter der „Woche“ am 12. August 1971.
Nach der Befreiung – Entnazifizierung und Gedenkpolitik auf Anordnung
Drei Tage nach dem Einmarsch vom 27.4.1945 ließ die amerikanische Militärregierung den Ersten Nazibürgermeister Otto Schottenheim verhaften und ernannte den Zweiten, das SS- und NSDAP-Mitglied Hans Herrmann, bis auf Weiteres zum kommissarischen Leiter der Regensburger Stadtverwaltung. Die dringliche Suche nach einem unbelasteten und sachkundigen Bürgermeister gestaltete sich schwierig. Mangels ortsansässiger Alternativen setzte die Militärregierung dann Mitte Juni 1945 den ehemaligen Polizeipräsidenten von Königsberg, Gerhard Titze, als Oberbürgermeister ein.
Das evangelische SPD-Mitglied Titze war im Laufe der Kriegsereignisse in Bayern gestrandet und in Regensburg angeblich eher unbeliebt. Bereits wenige Tage nach seiner Amtseinsetzung erließ Titze ein Dekret, das von Schaidinger auch am Holocaustgedenktag vorgetragen wurde: die Bekanntmachung Nr.1 vom 14. Juni 1945. Darin versprach Titze „vollen Einsatz für die Belange der Stadt Regensburg“ und gab bekannt, dass er die Ritter-von-Epp-Straße zur Erinnerung an den „aufrechten und edlen Priester“ in Dr.-Johann-Maier-Straße umbenannt hatte. Weiter ordnete er an, dass nach der Wiedereröffnung der Schulen in allen Klassen jeweils am 24. April des Dompredigers Dr. Maier bzw. seines Einsatzes für die Rettung der Stadt gedacht werden solle. „Wir wollen dieses niemals vergessen!“, lautete die Order. Darüber hinaus bat Titze alle Eltern, dass sie sich täglich eine Stunde für ihre Kinder freinehmen möchten, um diesen zu zeigen „in welchem bösen Irrtum sie Jahre lang gelebt haben“ und sie in „Ehrfurcht vor Gott und den Menschenrechten“ zu erziehen.
Warum gerade die Eltern nicht (und die Kinder schon) in einem bösen Irrtum gelebt haben sollen, bleibt Titzes Geheimnis. Vielleicht war es sein eigener Wunschtraum. Der Nazi-Bürgermeister Hans Herrmann hingegen wurde im August 1945 als kommissarischer Leiter entlassen, verhaftet und ein Jahr später zu sechs Monaten Zwangsarbeit verurteilt. 808 weitere Beschäftigte der Stadt Regensburg – Beamte, Angestellte und Arbeiter – verloren ihre Stellung ebenso und mussten sich, wie Herrmann, dem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Ein Großteil von ihnen wurde hinterher wieder eingestellt.
Gedenkrituale zwischen Selbstbetrug und Selbstvergewisserung
Hans Schaidinger hat bereits im Jahre 2008 anlässlich seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag auf die Massenmorde von Babi Jar hingewiesen und von einem daran beteiligten Regensburger gesprochen. Die Thematisierung eines ortsansässigen Täters stieß auch seinerzeit auf vielfaches Staunen und Anerkennung. Doch bereits damals verharrte er im Oberflächlichen, kaum Gedanken über eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Massenmördern von Babi Jar und ihren Beweggründen. Kein grundsätzliches Problematisieren des gesellschaftlichen Umgangs mit der Shoah und ihren Tätern, der (nicht nur in Regensburg) letztendlich die floskelhaften Gedenk- und Selbstvergewisserungsrituale hervorbrachte.
Wie steht es um die Glaubwürdigkeit eines Gedenktag-Redners, der die sich aufdrängende Kritik von den „leeren Worten“ gleich selbst vorwegnimmt, in der Folge aber das Reden nicht in Einklang bringt mit dem Handeln? In seiner diesjährigen Rede vermied es OB Schaidinger akkurat, auf die fruchtlosen Debatten um das KZ-Außenlager Colosseum und um Nazi-Bürgermeister bzw. CSU-Gründer und späteren Oberbürgermeister und Schulpatron Hans Herrmann einzugehen. Hier wäre konkretes politisches Handeln angesagt. So gesehen bleiben Schaidingers Einlassungen seit Jahren bei „tatenlosen und damit leeren Worten“ stehen. Babi Jar – eine leere Floskel.