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Dass der „Volkskörper“ von „Ballastmenschen“ befreit werden sollte, war keine Erfindung der Nazis. Sie griffen nur Thesen auf, die schon lange zuvor in der Ärzteschaft kursierten. Und diese machten nach der Machtübernahme bereitwillig mit. Ein Vortrag am Regensburger Uni-Klinikum.

“Volksgenosse, das ist auch Dein Geld.” Propagandaplakat der NSDAP für das von der Ärzteschaft erdachte Euthanasieprogramm.

„Das Eis der Zivilisation ist dünn“ „…und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate.“ Mit diesen beiden Zitaten (das erste von Alexander Mitscherlich, das zweite von Christoph Wilhelm Hufeland) lässt sich der Vortrag von Dr. Florian Bruns, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité Berlin, gut einrahmen. Die Medizinhistoriker war auf Einladung der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) Studierendengruppe Regensburg am Donnerstag ans Uni-Klinikum gekommen, um über die „Medizin im Nationalsozialismus und ihre Auswirkungen bis heute“ zu sprechen. Dem Vortrag folgten etwa 130 Zuhörer, vornehmlich Studierende der Medizin.

Nicht von den Nazis erdacht

Bruns erster Schwerpunkt waren Debatten um Eugenik, Bevölkerungszusammensetzung und Fortpflanzung im frühen 20. Jahrhundert. Diskurse, die in vielen Ländern geführt wurden, aber nur in Deutschland – mit der Machtübernahme der Nazis 1933 – unmittelbare Staatsdoktrin wurden und so ihr mörderisches Potential entfalten konnten. „Degenerationsängste“ waren es, welche besonders die Eliten jener Zeit umtrieben. Die von Bruns in den Raum geworfenen Schlagworte von damals erinnern stark an Thesen eines Thilo Sarrazin. Seinerzeit wurde etwa darüber diskutiert, „ob sich nicht die Falschen überproportional fortpflanzen“, ob „Akademiker genug Kinder bekommen“ oder ob nicht gar „die Oberschicht ausstirbt“.

Gefordert wurde damals bereits ein steuernder Eingriff in die Fortpflanzung der Gesellschaft. Hinzu kamen Debatten um „unnütze Esser“ während des Ersten Weltkrieges, die man sich nicht mehr leisten wollte. Schon damals ließen Ärzte Patienten verhungern. Die Schwachen sollten sich nicht vermehren, während die Starken an der Front getötet wurden. Als Teil der „natürlichen Auslese“ schickten deutsche Ärzte auch traumatisierte Soldaten an die Front zurück. Ärzte sahen sich an „der Seite des Staates und des Militärs“ und nicht des Patienten. Dies brachte ihnen die Bezeichnung „Maschinengewehre hinter der Front“ (Sigmund Freud) ein. Schon damals kursierten Theorien über den „Volkskörper“ als neuen ethischen Bezugspunkt. Weg von einer Individualethik sollte der „Volkskörper“ gereinigt werden von Menschen, „die ihn schlechter machen“.

Mit dem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Karl Binding und Alfred Hoche (1920) fand sich dieser Begriff, ähnlich wie „Ballastmenschen“ in der medizinischen Debatte wieder – lange vor den Nazis. Das Buch gehörte zwar nicht zum Mainstream, forderte aber auch mit ökonomischen Argumenten klar und deutlich, „unheilbar Blödsinnige“ zu ermorden. Die Nazis griffen diese Debatte auf. Laut Bruns fanden sie denn auch recht rasch viele Anhänger in der Ärzteschaft – versprachen sie sich davon doch die Lösung des „sozialen Problems mit medizinischen Mitteln“.

Biologische Mobilmachung

Der Beitrag der Ärzte im Rahmen der biologischen Aufrüstung „der Deutschen“ bestand zunächst in der Sterilisation der Bevölkerungsteile, die zwar „arisch“ waren, sich aber nicht vermehren sollten. Diese Maßnahme wurde mit dem „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ schon 1933 in eine „legale Form“ gebracht und trat 1934 in Kraft.

Denkmal der grauen Busse in der Berliner Tiegartenstraße 4. Foto: Tom Benz-Hauk, wikipedia

Als „Gefälligkeitsdiktatur“ (Götz Aly) mussten aber auch die Nationalsozialisten gewisse Rücksichten auf die Bevölkerung nehmen. So versuchte die Propaganda es wieder mit „ökonomischen Argumenten“, um die Abneigung gegen psychisch Kranke „unters Volk“ zu streuen. Den späteren Massenmord vorwegnehmend, wurde nicht nur deren Fortpflanzung, sondern bereits die schiere Existenz „zur Last erklärt“. Schulbücher wurden mit Zeichnungen versehen, in denen „unproduktive Menschen“ den Arbeiter „in die Knie zwingen“; daneben Parolen wie: „Volksgenosse, das ist auch dein Geld“.

Solche Kampagnen zielten ausschließlich auf Patienten in geschlossenen Anstalten ab. Wer zuhause betreut wurde, „lag dem Staat nicht auf der Tasche“ und war, so Bruns, auch später „relativ sicher“. Das Regime setzte Propagandaplakaten ein, die über ähnliche Gesetze in anderen Staaten „informieren“ sollten. Solche gab es zwar tatsächlich, diese unterschieden sich aber laut Bruns vor allem in der Radikalität der Umsetzung. In Deutschland wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert – ein Prozent der fortpflanzungsfähigen Bevölkerung. Während solcher Eingriffe starben etwa 8.000 Menschen, vor allem Frauen. Ärzte protestierten nicht, als ihren jüdischen Kollegen die Stellen entzogen wurden und nahmen zu gerne in den erfolgreichen Praxen Platz. An der Charité wurde ein Drittel des Personals ausgetauscht. Überlebenden und Rückkehrern begegnete man nach dem Krieg mit Ablehnung, als diese ihre Stellen und Eigentum wieder haben wollten.

Der Krieg nach innen

Forscher beschreiben den Weg in den Holocaust als eine Entwicklung mit mehreren Radikalisierungsschüben im Zusammenspiel der zentralen Stellen in Berlin und den lokalen Akteuren. Berlin erdachte sich Maßnahmen, die lokal umgesetzt wurden. Im Gegenzug erprobten regionale Akteure radikalere Maßnahmen. Diese Analyse trifft auch auf die Verwicklungen der Ärzteschaft zu. Mit Kriegsbeginn begann man über die „Aktion T4“ (Nachkriegsbegriff) mit der massenhaften Ermordung von Anstaltspatienten. Ärzte schickten dazu Behandlungsbögen an die zentrale Stelle in Berlin, ansässig in der Tiergartenstraße 4 (T4). Dort wurde dann von Gutachtern das weitere Schicksal bestimmt. Anhand eines Behandlungsbogens einer Patientin machte Bruns deutlich, wie sehr die Ärzteschaft in den Kategorien der Nazis dachte. Sie wurde als „lebensunwert“ und „unbrauchbar“ bezeichnet und „tierischer als ein Tier“.

Die Bevölkerung bekam den Massenmord mit

Psychologen schoben Fälle ab. Die Träger der Krankheiten sollten verschwinden, wenn man schon die Krankheit nicht heilen konnte. Ausnahmen wie der Göttinger Psychologe Gottfried Ewald seien eher selten gewesen, so Bruns. Wie an den „Rampen“ in den Vernichtungslagern entschied auch hier die Arbeitsfähigkeit über Leben und Tod. Graue Busse brachten die Todgeweihten in die Tötungsanstalten im „Reichsgebiet“. Auch diesen Massenmord bekam die Bevölkerung mit. Neben dem Protest des Bischofs von Galen gab es weitere Aktionen. So veröffentlichten Angehörige von Ermordeten auf Absprache die Todesanzeigen an einem Tag in der Tageszeitung, auch wenn der Todeszeitpunkt weiter auseinander lag. Gauleiter registrierten das mit Unmut.

„Gehste mit biste hin“

Auch das Ziel der „grauen Busse“ der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat) war bekannt. Im Volksmund stand das „gmbh“ für „gehste mit biste hin“. Die „Aktion T4“ ebbte erst 1940 ab und wurde 1941 – nach 70.000 bis 100.000 Toten – offiziell eingestellt.

Ein Gekrat-Bus mit Fahrer. Quelle: Dokumentationsstelle Hartheim

Das Regime konnte sich aber auf die Anstaltsdirektoren „verlassen“. Diese mordeten nach Worten Bruns auf eigenen Antrieb weiter und hörten teilweise auch nicht auf, „als die Amerikaner schon vor den Anstaltstoren standen“. Ein Großteil der Opfer in den Anstalten fand erst nach der Einstellung der „Aktion T4“ den Tod. Ein Teil des Personals aber wechselte in die Vernichtungslager im Osten.

Forschung frei von „Weimarer Mitleidsmoral“

Besonders Mediziner im Anatomie-Bereich nutzen die neuen Möglichkeiten des Regimes. Freude herrschte über die große Anzahl an gesunden Leichen, denen „nur der Kopf fehlte“. Durch die Ausweitung der Todesstrafe standen nun auch Frauen im größeren Umfang „zur Verfügung“. Laut Bruns entstand beispielsweise der „Pernkopf-Anatomieatlas“ des Wiener Anatomen Eduard Pernkopf in Teilen aus Forschungen an Gestapo-Häftlingen. Der Atlas fand nach dem Krieg noch lange Verwendung, auch wenn die Abbildung von Häftlingen offensichtlich war. Diese wurden in den Neuauflagen dann entfernt. Heute wird mit Freiwilligen gearbeitet.

“Das harte Ja”. Buch des Euthanasie-Propagandisten Florian Seidl, nach dem bis 1999 eine Straße in Regensburg benannt war.

Bruns widerspricht deutlich den verharmlosenden Stimmen, die die Forscher in den KZs allesamt als Pseudowissenschaftler beschreiben. Beteiligt waren in größerer Zahl Forscher, die an der Spitze ihrer Profession standen, die wichtigen Fragestellungen nachgingen und die nicht in erster Linie von Sadismus getrieben waren. Sie nutzen den rechtsfreien Raum, den ihnen das Regime im Umgang mit den Häftlingen bot. „Das waren eben keine Patienten“, lauten Rechtfertigungsversuche in Bezug auf das Standesethos. Diesem Vakuum zwischen „Proband“ und „Patient“ in den antiquierten Standesregeln versucht man heute mit dem Nürnberger Kodex, dem Genfer Ärztegelöbnis und der Deklaration von Helsinki zu begegnen.

Die „zweite Schuld“ der Ärzteschaft

Die Aufarbeitung wurde lange Zeit verhindert. An ihr interessiert waren nur wenige Ärzte. Die Mehrheit schwieg oder versuchte, aktiv zu vertuschen. Bruns nannte es – nach Ralph Giordano – die „zweite Schuld“. Die Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozess des Mediziners Alexander Mitscherlich war lange Zeit nicht verfügbar. Überhaupt war Mitscherlich einer der wenigen Ärzte, die sich bereit erklärten die Fakten des Verfahrens zu dokumentieren, das ein amerikanisches Militärgericht 1946/ 47 gegen eine kleine Gruppe von 20 KZ-Ärzten geführt hatte. Gegen seine Veröffentlichung wurden Klagen angestrengt, insbesondere von Ferdinand Sauerbruch, der, obwohl kein Antisemit, einen Großteil der Forschungsanträge aus den KZs begutachtet und genehmigt hatte.

Urteilsverkündung gegen Karl Brandt beim Nürnberger Ärzteprozess. Der chirurgische Begleitarzt von Adolf Hitler war maßgeblich verantwortlich für die Kordinierung der Massenmorde an psychisch Kranken. Er wurde 1948 gehängt.

Größenteils unerforscht ist laut Bruns noch die Geschichte jener Ärzte, die einen großen Teil der Täter durch Gutachten vor Verfolgung schützten.

Vieles was passierte – so in der Medizin angelegt

Bruns Vortrag überzeugt vor allem durch seine Schwerpunktsetzung. Er verzichtet auf eine Aneinanderreihung des Grausamen, sondern konzentriert sich eher auf die breite Ärzteschaft, die aber nicht weniger belastet war. Immer wieder führte er auch den anwesenden Medizinstudierenden die Dilemmata des Berufs vor Augen. Vieles was damals passierte, sei wohl in der Medizin so angelegt, so sein Fazit. Und noch ein anderes Fazit wird man ziehen können. Verhindert werden kann eine Wiederholung nur ein durch einen Staat, der biologistischen und rein ökonomischen Sichtweisen auf allen Ebenen eine klare Absage erteilt. Dazu gehören politische Menschen und politische Ärzte. Sonst könnten die ethischen und moralischen Grenzen schnell wieder fallen.

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