Wie schnell landen Menschen in der Psychiatrie? Wie sorgfältig arbeiten Gutachter? Was muss passieren, damit sie wieder herauskommen? Das alles wird derzeit in Zusammenhang mit dem Fall Gustl Mollath diskutiert. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir hier einen Bericht, der vor viereinhalb Jahren bei Regensburg Digital erschienen ist. Die Betroffene sitzt nach wie vor in der geschlossenen Psychiatrie. Der Vorwurf: Sie soll ihre Nachbarin mit einem Einkaufswagen gerammt haben.
Ein Bericht vom 14. Juni 2008
Was treibt eine 65jährige dazu, Kundenzählungen in einem Supermarkt durchzuführen? Dort Selbstversuche mit einem Einkaufswagen vorzunehmen und schließlich Flugblätter zu verteilen, in denen sie die Regensburger Justiz und einen Gutachter anprangert? Ich treffe die Politikwissenschaftlerin Dr. Doris Simon (Foto) auf dem Parkplatz vor besagtem Supermarkt, wo sie gerade Flugblätter verteilt. Und was sich zunächst etwas skurril anhört, entpuppt sich als Geschichte, die doch gewisse Zweifel an Gerichten und Gutachtern weckt.
Es geht um die 54jährige Ilona Haslbauer, Sozialpädagogin und Initiatorin der „Wilde Weiber Werkstatt“. Seit über zwei Jahren setzt sich Doris Simon für diese Frau ein. Recherchiert, wälzt Gerichtsakten, sitzt mit dem Anwalt von Ilona Haslbauer zusammen. Die 54jährigen Sozialpädagogin gehört zu den Menschen, die keine Lobby haben: Hartz IV-Empfängerin, vorbestraft. Da interessiert es kaum jemanden, wenn sie erneut vor Gericht steht und erneut verurteilt wird.
Am Anfang: Ein Nachbarschaftsstreit
Eine seit fast zehn Jahren schwelende, immer wieder vor Gericht ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Ilona Haslbauer und ihrer 15 Jahre älteren ehemaligen Wohnungsnachbarin Brigitte B. (Name geändert) hat mittlerweile dazu geführt, dass Ilona Haslbauer auf Weisung des Gerichts in der Psychatrie in Taufkirchen sitzt und dort möglicherweise für die nächsten fünf Jahre bleiben und medikamentös behandelt werden soll. Auf Basis von Gerichtsurteilen, die Doris Simon als „unglaublich“ bezeichnet und auf Basis eines psychologischen Gutachtens, gegen dessen Verfasser die Politikwissenschaftlerin jetzt Anzeige erstatten will.
Was ist eigentlich passiert? Zwei Mal, im Mai 2004 und im Januar 2005, soll Ilona Haslbauer in einem Supermarkt mit einem Einkaufswagen Brigitte B. „gerammt“ haben. Ein Arzt attestierte Brigitte B. Verletzungen im Lendenbereich. Die Sache landete vor Gericht. Zeugen für den Vorfall in dem viel frequentierten Supermarkt (Doris Simon hat mehrere Zählungen durchgeführt.) gibt es keine. Das hindert den Gutachter, der die Einweisung von Ilona Haslbauer in die Psychatrie empfohlen hat, aber offenbar nicht daran, schriftlich zu behaupten, dass in beiden Fällen „neutrale Zeugen“ zugegen gewesen seien. Das Gericht beruft sich ebensowenig auf Zeugen, wie Brigitte B. selbst. Wie der Gutachter zu seiner Aussage kommt, ist nicht nachvollziehbar. „Diese Schlamperei zieht sich durch das gesamte Gutachten. Ich frage mich, ob er die Gerichtsakten überhaupt gelesen hat“, ärgert sich Doris Simon.
Fehler im Gutachten
Für fragwürdig hält die Politikwissenschaftlerin generell die Behauptung, dass die vom Arzt attestierten Verletzungen durch einen Einkaufswagen entstanden sein könnten. Im Supermarkt, am Tatort Milchreisregal, hat Doris Simon mehrere Selbstversuche unternommen. Ergebnis: Ein Einkaufswagen ist mit einer Höhe von 85 Zentimetern zu niedrig, um eine Verletzung im Lendenbereich zu verursachen. „Vor Gericht hat auch ein TÜV-Sachverständiger bestätigt, dass man damit das Gesäß und nicht die Lende trifft“, sagt Doris Simon. Der Arzt von Brigitte B. attestierte seinerzeit eine „schmerzhafte Kontusion im Lendenbereich“. Kein Grund für das Gericht, Zweifel an der Schuld von Ilona Haslbauer zu hegen. Gesäß oder Lende – einerlei. Sie wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Die Berufungsverhandlung lässt derzeit auf sich warten.
“Vernichtungswille” der Nachbarin
Ilona Haslbauer leugnet die Tat. Wartet auf ihren Berufungsprozess. Der Gutachter sieht darin eine „wahnhafte Umdeutung der Situation“. Statt Haft folgte also die Psychatrie. Für einen „begrenzeten Zeitraum“. Mittlerweile sind es sieben Monate. Es könnten bis zu fünf Jahre werden. Eine neuerliche „Begutachtung“ steht an.
Die Glaubwürdigkeit von Brigitte B. indessen scheinen weder das Gericht noch der Gutachter in Frage zu stellen.
Die, Brigitte B., rief in einer Gerichtsverhandlung mit Blick auf Ilona H.: „Die muss weg!“ Diesem Wunsch (Doris Simon nennt es „Vernichtungswille“.) scheinen sowohl das Gericht als auch der Gutachter zu entsprechen. Ende Juni soll eine Entscheidung darüber fallen, ob Ilona Haslbauer für fünf Jahre in der Psychatrie verschwindet. Dann ist sie erst einmal „weg“. Doris Simon verteilt weiter ihre Flugblätter. „Eine wahnhafte Umwandlung der Sachlage nimmt der Gutachter vor“, steht darauf.