Am Samstag kehren die Ballonauten zurück

Er ist fertig: Der Nachbau des Balls, der vor 80 Jahren von Regensburg aus quer durch Deutschland rollte.

Einblicke in eine längst vergangene Welt: das Reise-Tagebuch der “Ballonauten”.

Hier wie dort dem Fußball verschrieben: Jakob Schmid und Franz Berzel waren Fußballer beim 1. FC Regensburg und suchten auch auf ihrer Reise immer wieder die Nähe von Sportskameraden.
Mit Hänge-Matratzen einer ungewissen Zukunft entgegen
Zwei Meter und fünf Zentimeter misst das obskure Kugelgefährt im Durchmesser. Es würde Schmid und Berzel – und später Georg Grau – eine rollende Heimat bei Ihrer Reise durch Chemnitz, Berlin, Stralsund, Pforzheim und knapp 150 weitere Ortschaften sein. Wie schwierig es gewesen sein muss, dieses grandiose Ungetüm zu konstruieren und zusammenzuzimmern, wird klar, wenn man Profis fragt. Ballonauten-Entdecker Hubertus Wiendl hat schon vieles probiert, hat viele Handwerker angeschrieben, sie besucht und auf sie eingeredet, sich am Nachbau des Balls zu versuchen. Darunter war ein Schlittenbauer aus Oberbayern – einer von wenigen, die die Kunst, Holz zu biegen, noch beherrschen. Er rechnet um die 50.000 Euro aus, die der Nachbau kosten würde. Ein pensionierter Handwerker aus Regensburg, ein Freund des Sohnes von Jakob Schmid, hält das Projekt für irrwitzig. „Wie soll das gehen?“, fragte er angesichts des kleinen Ball-Modells, das Wiendl aus Plastik und Styropor nachgebaut hat. Es steht auf seinem Schreibtisch und soll ihn täglich daran erinnern, das Projekt Ball-Nachbau nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein Modell des Balls hat Hubertus Wiendl schon auf seinem Schreibtisch liegen.

Zeitungen in ganz Deutschland widmeten sich dem Phänomen, dass zwei Männer einen 600 Kilogramm schweren Ball durch Deutschland zogen. Teils ernteten sie Anerkennung, teils Spott und Verwunderung.
Hausierer wider Willen
Wo sie hinkommen, ernten die Reisenden Verständnis und Anerkennung für ihr Vorhaben, aber auch Spott schlägt Schmid und Berzel entgegen. Vor allem die bürgerlichen Sportvereine verhalten sich abweisend, die Sportskameraden aus den Arbeitervereinen hingegen empfangen sie herzlich. Die Zeitungsartikel über sich, die sie aus nahezu jedem Ort gesammelt haben, geben einen Eindruck davon, wie die rollenden Reisenden auf die Bevölkerung gewirkt haben. Eine Zeitung berichtet, dass die arbeitslosen Fußballer „ihr Leben lieber durch den Verkauf von Karten ihres Riesenballes als durch Bezug von Arbeitslosenunterstützung fristen wollen. Daß sie ihren Lebensunterhalt sich sauer verdienen müssen, glaubt man ohne weiteres, wenn man das Modell selbst sieht“. Dass ihnen „das ewige Stempeln gegen das Gefühl geht“, sagen Schmid und Berzel einer Schwandorfer Zeitung.
Mit dem Verkauf von Ansichtskarten verdienten sich Schmid und Berzel das Geld für ihre Reise.
Geizige Schönheit Oberpfalz
Der Geiz der Leute sollte sich aber schnell relativieren: Ihre Oberpfälzer Heimat sei zwar schön, aber die Leute nicht besonders freigiebig, halten die beiden fest. Der erste Tag in Franken verläuft da aber schon vielversprechender. Und Selb erst! Da seien sie „tatsächlich finanziell gerettet“ gewesen, schreibt Schmid. Noch drei Wochen später trauern sie der fränkischen Porzellanstadt hinterher und klagen, als sie in Zwickau Quartier gefunden haben: „Es muß doch mal wieder ein Selb kommen.“
Von Vereinen aus ganz Deutschland sammelten die “Ballonauten” Fotos und Grüße in ihrem Tagebuch.

Königliche Begegnung: Beim Artilleriefest in Hof trafen Schmid und Berzel auf Erbprinz Rupprecht und witterten Morgenluft für die Monarchie.
Begegnung mit SA und SS: Randale und Suppe in Chemnitz
Im beschaulichen Vorort Schönau erreicht die Reisenden die Kunde, was in Chemnitz selbst los sein soll. „In Chemnitz sind Menschen ausgebrochen, heißt es. Alle Tage soll es so zugehen, ein paar Tote, nun, das kann ja lustig werden.“ Was Schmid beschreibt, sind die bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die sich im Vorfeld der Reichstagswahl zutragen und die auch in Chemnitz toben. Ballonaut Schmid wird Augenzeuge, er fährt nach Chemnitz hinein: „Hallo, was ist da los, ein Überfallkommando rast durch die Stadt.“ Schmid beobachtet Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, bei denen es in vielen Städten deutschlandweit über 300 Tote und über 1.000 Verletzte gibt; die SA und die SS haben maßgeblichen Anteil daran. Die Bedeutung erkennt Schmid nicht, er lässt sich von der Polizei beruhigen: Es sei nicht so gefährlich, sagt der Polizeibeamte, den Schmid in seinem Tagebuch zitiert. „Hier sind alle Tage Unruhen. Die Hauptsache ist, wir mischen uns nicht ein.“ Parallel dazu kommen Schmid und Berzel in einer völlig anderen Situation mit den Unruhestiftern in Kontakt: Sie essen in der Suppenküche der SA, nachdem sie von den Nazis dazu eingeladen worden waren. Schmids Bewertung: „Es war erstklassig. Die Leute, die dort essen dürfen, können sehr zufrieden sein.“
In Chemnitz wurden die Reisenden Zeugen von Unruhen. Außerdem speisten sie in der Suppenküche von SA und SS.
Sisyphos am Tegernsee
Zeitlich zwischen dem Gewerkschaftsverbot am 2. Mai 1933 und der Bücherverbrennung am Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 vollbringen Schmid und Grau ihre größte körperliche Leistung: Sie rollen in einer Wahnsinns-Aktion den 600-Kilo-Fußball auf den 1.500 Meter hohen Wallberg am Tegernsee hinauf. Anfangs noch begleitet von viel Skepsis angesichts der unvorstellbaren Leistung, bald voll der Bewunderung der Anwohner. Diese Tour, für die Sisyphos Pate gestanden haben könnte, zeigt: Die Geschichte von Jakob Schmid und Franz Berzel respektive Georg Grau ist nicht nur die Geschichte von ein paar Verrückten, die uns erzählen, wie Deutschland war in einer Zeit, die uns heute surreal vorkommt und in der wir nur allzu gern nach Schlupflöchern suchen, die eine andere Wendung der Geschichte zugelassen hätten. Die Reise der „Ballonauten“ ist auch einfach die Geschichte zweier Sportler, die körperlich Unvorstellbares angezettelt hatten.
Unerbittlich zogen die “Ballonauten” ihre temporäre Heimat durch die Lande, bergauf, bergab, durch Städte, am Meer, in den Bergen.
Visionäre oder Irre?
Jakob Schmid und Franz Berzel mochten ihr Heimatland. Und bei ihrem Sportsgeist lag es ihnen fern aufzugeben. Manch einer mag sie heute als Visionäre betrachten, weil sie etwas scheinbar Unmögliches umsetzten; andere mögen sie für recht wortwörtlich balla-balla halten. Aber die Faszination bleibt, ob man nun skeptisch ist oder begeistert. Warum tut sich jemand so etwas an? Kleine Kommentare im Tagebuch geben Aufschluss, wenn man versucht, sich in die Ballonauten hineinzuversetzen. Ihr Antrieb war weit mehr, als „den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen“ zu propagieren, wie die Zeitungen von damals berichteten. Es muss ein nicht zu bremsender sportlicher Ehrgeiz gewesen sein, der sich von Tag zu Tag noch steigerte. In seinem ersten Eintrag beklagt Schmid noch die Anstrengung gleich zu Beginn des Wegs, die Steinerne Brücke in Regensburg. „Als wir die Steinerne Brücke passierten, hatten wir gleich ein Pech, da geht es schon recht schön an.“ Nach über 2.000 Kilometern dann der Wallberg: 1.500 Meter hoch, 34 Prozent Steigung. Zentimeterweise geht es voran. Zehn Tage lang, nur ein Tag Pause. Zwischendurch springt Schmid nach unten, holt die Post aus Tegernsee, erklimmt den Berg ohne große Last und schiebt das hölzerne Ungetüm weiter an. Zehn Tage. Ein Zentimeter, 20 Zentimeter. 600 Kilo Kugel plus Gepäck. Oben angekommen, ruhen sie nicht lange. Nur wenige Stunden verweilen sie im Schutzhaus auf dem Berg, denn: Die Pflicht ruft! Der Ball soll im Wildpark Rottach-Egern ausgestellt werden, da gibt es Geld zu verdienen. Also: auf zur Talfahrt. In zwei Stunden und 15 Minuten geht es bergab, mit einer Tanne an der Kugel, auf der oberbayerische Burschen als Bremsklötze sitzen.
In kurzen Tagebucheinträgen notierte Jakob Schmid seine Eindrücke der Reise.

Nachgezeichnete Reiseroute: Auf dieser Strecke manövrierten die “Ballonauten” ihr Gefährt durch Deutschland, über 3.000 Kilometer weit.
Aus dem Ball in den Krieg
Und danach? Die Ballonauten werden Opfer ihrer Zeit. Das Land, in dessen Alltag sie nach ihrer knapp anderthalbjährigen Reise zurückkehren, ist ein anderes geworden. Unter den Nazis zählen kollektive Siege – exzentrische Einzelleistungen mit zweifelhaftem Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ sind nichts wert. Es kräht bald kein Hahn mehr nach den Ballonauten und ihrer unglaublichen Geschichte, die nun zügig in Vergessenheit gerät. Dann kommt der Krieg – Jakob Schmid überlebt ihn nicht: Er wird in den letzten Kriegstagen 1945 bei einem Himmelfahrtskommando verheizt. Franz Berzel hat den Krieg überlebt und starb 1965 in Regensburg, mehr ist nicht bekannt. Bislang hat sich niemand gefunden, der ihn noch gekannt hätte und von ihm berichten könnte. Die Spur von Berzels Nachfolger Georg Grau konnte bislang nicht verfolgt werden. Unser Wissen über sein Schicksal endet mit dem Tagebuch.
Hubertus Wiendl schickt uns mit dem Tagebuch der Ballonauten auf Zeitreise in eins der finstersten Kapitel der deutschen Geschichte.