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Regensburger Riesenfußball

Am Samstag kehren die Ballonauten zurück

Am Samstag (6. Juli) ist es so weit: Die Ballonauten kehren zurück nach Regensburg. Um 14 Uhr wird der Nachbau des Riesenfußballs auf der Steinerenen Brücke in Regensburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Regensburg Digital hatte als erstes Medium über die Geschichte des Riesenfußballs berichtet und über mehrere Monate das Original-Tagebuch der beiden Männer am Ball veröffentlicht. Was es mit den Ballonauten auf sich hat? Hier unser Bericht vom Mai 2012 (aus dem sich manch überregionales Medium recht schamlos bedient hat). Der Ball ist rund – bis er auseinanderbricht. Während sich die Nazis in Deutschland ausbreiten, bauen zwei Regensburger Hobby-Fußballer einen 600 Kilo schweren Riesen-Fußball und kugeln damit durch Deutschland. Nach 80 Jahren finden die „Ballonauten“ und ihre Reise endlich die Anerkennung, die ihnen damals verwehrt blieb.
Er ist fertig: Der Nachbau des Balls, der vor 80 Jahren von Regensburg aus quer durch Deutschland rollte.

Er ist fertig: Der Nachbau des Balls, der vor 80 Jahren von Regensburg aus quer durch Deutschland rollte.

Studenten kennen das: Kaum Geld in der Tasche, aber rumkommen wollen. In Zeiten vor Bayernticket und Couchsurfing war dieses Unterfangen schwierig, aber nicht unmöglich. Das bewiesen vor über 80 Jahren zwei Regensburger, der Bäcker Jakob Schmid und der Hafenarbeiter Franz Berzel. Am 10. Mai 1932 begann der Irrsinns-Trip der beiden arbeitslosen Handwerker. Mit einem 600 Kilo schweren selbstgebauten Ball, Sehenswürdigkeit und Wohnstatt in einem, zogen sie los, um Deutschland zu durchqueren. Durch die Alpen, an der Küste entlang, bei Sonne, Schnee und über schlechte Straßen. Betrunkene Bürgermeister und Prinz Rupprecht von Bayern kreuzten ihren Weg, ebenso wie zwei andere Verrückte, die mit einem Zeppelin am Fahrrad die Weltgeschichte bereisten. In einem Reisetagebuch dokumentierte Schmid die Erlebnisse und sammelten Bilder, amtliche Dokumente und Zeitungsartikel. All das passierte, während Adolf Hitler seine Schreckensherrschaft vorbereitete und umsetzte.

Einblicke in eine längst vergangene Welt: das Reise-Tagebuch der “Ballonauten”.

Ein Zufall hat dem Regensburger Journalisten Hubertus Wiendl 80 Jahre nach dieser Tour de Force das lange verschollene Tagebuch in die Hände gespielt. Er hat Schmid und seine Gefährten – Berzel wurde später durch den Schmied Georg Grau ersetzt – „Ballonauten“ getauft (sie selbst nannten sich nicht so) und ist nun bestrebt, ihre Geschichte bekannt zu machen. Für ihn sind die Ballonauten und ihre Kugel eine Zeitmaschine, die die Betrachter in die Zeit der Machtergreifung zurückversetzt. Er hat den „Verein zur Förderung gesellschaftlicher Integration und Solidarität“ gegründet, plant Online-Projekte, einen Kinofilm und eine Reise entlang der Ballonauten-Route, um mit Hilfe der Geschichte von Jakob Schmid und seinen Begleitern Jugendliche gegen rechtsradikales Gedankengut zu wappnen.

Die “Ballonauten” Jakob Schmid und Franz Berzl vor ihrem sensationellen Gefährt.

Die Ballade von Schmid und Berzel zeigt ein Deutschland, das dem heutigen gar nicht unähnlich ist – nervenaufreibender Amtsschimmel, nette Gastleute, Geizhälse, Motzer und Skeptiker, Gaffer und Sensationslüsterne, mit allem bekommen sie es zu tun. Das Deutschland, das Schmid und Berzel bereisten, war aber auch ein Land, das unter einer Wirtschaftskrise zu leiden hatte, in dem viele Arbeitslose an ihrer Perspektivlosigkeit verzweifelten – und das Adolf Hitler und die NSDAP wählte.

Hier wie dort dem Fußball verschrieben: Jakob Schmid und Franz Berzel waren Fußballer beim 1. FC Regensburg und suchten auch auf ihrer Reise immer wieder die Nähe von Sportskameraden.

Politisch ambitioniert sind Schmid und Berzel nicht. Sie sind keine Nazis, stören sich aber auch nicht groß an dieser neuen Riege, die im Begriff ist, das Land zu übernehmen. Sie haben jüdische Freunde und Vereinskameraden, freuen sich aber über die Verköstigung in den Suppenküchen der Nazis. Sie sind einfache Arbeiter aus dem damals noch recht verschlafenen Regensburg. Und sie sind Fußballer. Ihr Verein ist der 1. FC Regensburg, der später zum SSV Jahn wird (und der sich vor wenigen Wochen den Aufstieg in die zweite Bundesliga erkämpft hat). Der Sport scheint in diesen schwierigen Zeiten Anfang der 30er Jahre – beide haben gerade ihren Arbeitsplatz verloren – ihr Lebenselexier zu sein. Die Lage ist schlecht, auf neue Anstellungen hoffen sie offenbar nicht. Sonst hätten sie sich wohl kaum dazu entschlossen, einen gigantischen Ball mit Schlafgelegenheit zu bauen und damit durch Deutschland zu rollen.

Mit Hänge-Matratzen einer ungewissen Zukunft entgegen

Zwei Meter und fünf Zentimeter misst das obskure Kugelgefährt im Durchmesser. Es würde Schmid und Berzel – und später Georg Grau – eine rollende Heimat bei Ihrer Reise durch Chemnitz, Berlin, Stralsund, Pforzheim und knapp 150 weitere Ortschaften sein. Wie schwierig es gewesen sein muss, dieses grandiose Ungetüm zu konstruieren und zusammenzuzimmern, wird klar, wenn man Profis fragt. Ballonauten-Entdecker Hubertus Wiendl hat schon vieles probiert, hat viele Handwerker angeschrieben, sie besucht und auf sie eingeredet, sich am Nachbau des Balls zu versuchen. Darunter war ein Schlittenbauer aus Oberbayern – einer von wenigen, die die Kunst, Holz zu biegen, noch beherrschen. Er rechnet um die 50.000 Euro aus, die der Nachbau kosten würde. Ein pensionierter Handwerker aus Regensburg, ein Freund des Sohnes von Jakob Schmid, hält das Projekt für irrwitzig. „Wie soll das gehen?“, fragte er angesichts des kleinen Ball-Modells, das Wiendl aus Plastik und Styropor nachgebaut hat. Es steht auf seinem Schreibtisch und soll ihn täglich daran erinnern, das Projekt Ball-Nachbau nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein Modell des Balls hat Hubertus Wiendl schon auf seinem Schreibtisch liegen.

Die Ballonauten von damals tun sich diesen Aufwand an. Zusammen mit einem befreundeten Wagenbauer basteln sie das Ungetüm, investieren nicht weniger als 500 Arbeitsstunden. 600 Teile Erlenholz werden verbaut, zwei jeweils zehn Meter lange Eisenringe sollen das Holz beim Rollen schützen. Außen wird die Kugel bemalt, so dass sie aussieht wie ein überdimensionaler Lederfußball. Schließlich beabsichtigen die Ballonauten, den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Speziellen in der Republik zu propagieren. Das raffinierte Innenleben der Kugel besteht aus Stauraum fürs Gepäck, zwei Matratzen, einer mit Spiritus betriebenen Kochstelle und Lampen. Der Ausbau ruht auf Kugellagern und schwebt quasi im Raum, dreht sich beim Rollen nicht mit. Im Stehen wird die Einrichtung mit Haken fixiert.

Zeitungen in ganz Deutschland widmeten sich dem Phänomen, dass zwei Männer einen 600 Kilogramm schweren Ball durch Deutschland zogen. Teils ernteten sie Anerkennung, teils Spott und Verwunderung.

Das berichtet eine Regensburger Zeitung, der die Abreise der beiden im April 1932 einen Artikel wert ist. Man wünscht ihnen „alles Gute; mögen sie bei ihrer Rückkehr bessere wirtschaftliche Verhältnisse antreffen als die heutigen sind“. Ein Ausdruck der Hoffnung auf mittelfristige Besserung: Die Reise der beiden ist auf zwei Jahre angelegt.

Hausierer wider Willen

Wo sie hinkommen, ernten die Reisenden Verständnis und Anerkennung für ihr Vorhaben, aber auch Spott schlägt Schmid und Berzel entgegen. Vor allem die bürgerlichen Sportvereine verhalten sich abweisend, die Sportskameraden aus den Arbeitervereinen hingegen empfangen sie herzlich. Die Zeitungsartikel über sich, die sie aus nahezu jedem Ort gesammelt haben, geben einen Eindruck davon, wie die rollenden Reisenden auf die Bevölkerung gewirkt haben. Eine Zeitung berichtet, dass die arbeitslosen Fußballer „ihr Leben lieber durch den Verkauf von Karten ihres Riesenballes als durch Bezug von Arbeitslosenunterstützung fristen wollen. Daß sie ihren Lebensunterhalt sich sauer verdienen müssen, glaubt man ohne weiteres, wenn man das Modell selbst sieht“. Dass ihnen „das ewige Stempeln gegen das Gefühl geht“, sagen Schmid und Berzel einer Schwandorfer Zeitung.

Mit dem Verkauf von Ansichtskarten verdienten sich Schmid und Berzel das Geld für ihre Reise.

Schmid und Berzel haben Foto-Ansichtskarten von sich und ihrem Gefährt anfertigen lassen, die sie in jedem Ort an die Leute zu verkaufen versuchen. Da klappt mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. In ihrem Tagebuch klagen sie über den schleppenden Verkauf oft mehr als über die körperlichen Strapazen. Die Einträge belegen, dass ihnen das Geschäft des Kartenverkaufs ein Graus war. „Es ist furchtbar, so von Tür zu Tür zu laufen, wer das noch nicht mitgemacht hat, kann es gar nicht verstehen, was das für eine Qual ist“, schreibt Schmid am 18. Mai 1932 in sein Tagebuch. Da waren sie in Pfreimd, also gerade mal gut 50 Kilometer von ihrer Heimat Regensburg entfernt.

Geizige Schönheit Oberpfalz

Der Geiz der Leute sollte sich aber schnell relativieren: Ihre Oberpfälzer Heimat sei zwar schön, aber die Leute nicht besonders freigiebig, halten die beiden fest. Der erste Tag in Franken verläuft da aber schon vielversprechender. Und Selb erst! Da seien sie „tatsächlich finanziell gerettet“ gewesen, schreibt Schmid. Noch drei Wochen später trauern sie der fränkischen Porzellanstadt hinterher und klagen, als sie in Zwickau Quartier gefunden haben: „Es muß doch mal wieder ein Selb kommen.“

Von Vereinen aus ganz Deutschland sammelten die “Ballonauten” Fotos und Grüße in ihrem Tagebuch.

Kuriosa sind die Ballonauten nicht nur selbst. Dass einem auf einer Fahrt wie der ihren allerlei Bemerkenswertes begegnet, ist abzusehen. Anfangs finden noch eigenartige Bürgermeistern Eingang ins Tagebuch. „Von Seiten der Landbevölkerung wurde uns erzählt, das ihr Bürgermeister ein guter Mensch ist, aber wenn er ein bisserl viel Bier hat, dann streitet er gerne“, notiert Schmid in Pechbrunn, der letzten Station in der Oberpfalz. Bald aber werden die Erlebnisse und Begegnungen aufregender. Beim Artilleriefest in Hof treffen sie auf Prinz Rupprecht von Bayern. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, schmückt sich mit Fahnen. Ein Musikkorps zieht durch die Stadt, Soldaten in Ausgehuniform reiten durch die Straßen. Die Hofer Bevölkerung empfängt den Adligen wie einen Staatsgast. Der Aufruhr um den Prinzen irritiert die Reisenden, schließlich heißt es ja in den letzten Jahren immer, Deutschland sei eine Republik. Aber die „monarchistischen Strömungen“ steckten noch „in jedem Deutschen“, so die schnelle und vielleicht etwas naive Analyse von Jakob Schmid.

Königliche Begegnung: Beim Artilleriefest in Hof trafen Schmid und Berzel auf Erbprinz Rupprecht und witterten Morgenluft für die Monarchie.

Begleitet wird die Reise von Schmid und Kompagnons von den politischen Entwicklungen, die noch während der ballonautischen Fahrt in der Gründung des Dritten Reichs münden. Im Januar 1932, als Schmid und Berzel ihre Reise planen, sind sie zwei von sechs Millionen arbeitslosen Deutschen. Kurz nach Antritt ihrer Reise – am 30. Mai wandern Schmid und Berzel gerade von Wunsiedel nach Marktleuthen – tritt Reichskanzler Heinrich Brüning zurück. Der letzte demokratische gewählte Kanzler der Weimarer Republik hat sich nie so ganz entscheiden können, wie er sich zur NSDAP verhalten soll; das von ihm regierte Deutschland ist weniger von Gesetzen bestimmt also von einem System aus Notverordnungen. 16. Juni 1932: Brünings Nachfolger Franz von Papen hebt das Verbot der NSDAP-Kampfbünde SA und SS auf. Schmid und Berzel campieren währenddessen neben einer Mühle im sächsischen Unterhainsdorf. Sie kochen erstmals auf ihrer Reise selbst und freuen sich über das Lob, das ihnen vor allem die Frauen aussprechen. Wenige Tage später werden sie Zeugen der Folgen der politischen Entwicklung, das sich während ihrer Ruhepause im Grünen abgespielt hat: Am 28. Juni erreichen sie Chemnitz. Eine neue Welt für die Oberpfälzer, eine echte Großstadt.

Begegnung mit SA und SS: Randale und Suppe in Chemnitz

Im beschaulichen Vorort Schönau erreicht die Reisenden die Kunde, was in Chemnitz selbst los sein soll. „In Chemnitz sind Menschen ausgebrochen, heißt es. Alle Tage soll es so zugehen, ein paar Tote, nun, das kann ja lustig werden.“ Was Schmid beschreibt, sind die bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die sich im Vorfeld der Reichstagswahl zutragen und die auch in Chemnitz toben. Ballonaut Schmid wird Augenzeuge, er fährt nach Chemnitz hinein: „Hallo, was ist da los, ein Überfallkommando rast durch die Stadt.“ Schmid beobachtet Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, bei denen es in vielen Städten deutschlandweit über 300 Tote und über 1.000 Verletzte gibt; die SA und die SS haben maßgeblichen Anteil daran. Die Bedeutung erkennt Schmid nicht, er lässt sich von der Polizei beruhigen: Es sei nicht so gefährlich, sagt der Polizeibeamte, den Schmid in seinem Tagebuch zitiert. „Hier sind alle Tage Unruhen. Die Hauptsache ist, wir mischen uns nicht ein.“ Parallel dazu kommen Schmid und Berzel in einer völlig anderen Situation mit den Unruhestiftern in Kontakt: Sie essen in der Suppenküche der SA, nachdem sie von den Nazis dazu eingeladen worden waren. Schmids Bewertung: „Es war erstklassig. Die Leute, die dort essen dürfen, können sehr zufrieden sein.“

In Chemnitz wurden die Reisenden Zeugen von Unruhen. Außerdem speisten sie in der Suppenküche von SA und SS.

Es sind Einblicke wie diese, die das Reisetagebuch der Ballonauten so wertvoll machen. Die Reise, die der Bäcker Schmid zusammen mit Berzel, später mit seinem Fußballer-Freund Georg Grau (Berzel bekam während der Fahrt Arbeit in der heimischen Zuckerfabrik, brach ab und kehrte nach Regensburg zurück) unternommen hat, zeigt Deutschland aus einer menschlichen Perspektive. Es gibt keine ideologische Brille, keine Verblendung, keine Idealisierung, keine Verteufelung. Schmid und seine Gefährten sahen die Welt durch die Augen des viel zitierten „kleinen Mannes“, sie waren Menschen, die unter der Krise zu leiden hatten, aber auch Sportsmänner und tatkräftige Arbeiter, die ihre Kraft und Kreativität nach ihren Möglichkeiten nutzten. Sie zählten jüdische Fußballer zu ihren engsten Freund und aßen dankbar in den Verköstigungsstationen der Nazis. Während der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 rollen die Ballonauten ein zweites Mal durch Franken; dieses Mal befinden sie sich bereits auf dem Rückweg nach Süden. Sie haben ganz Ostdeutschland durchkreuzt, Landstriche bereist, die damals noch deutsch waren, heute polnisch sind, waren in Stralsund an der Küste und quälten sich durch Mittelgebirge wie den Thüringer Wald.

Sisyphos am Tegernsee

Zeitlich zwischen dem Gewerkschaftsverbot am 2. Mai 1933 und der Bücherverbrennung am Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 vollbringen Schmid und Grau ihre größte körperliche Leistung: Sie rollen in einer Wahnsinns-Aktion den 600-Kilo-Fußball auf den 1.500 Meter hohen Wallberg am Tegernsee hinauf. Anfangs noch begleitet von viel Skepsis angesichts der unvorstellbaren Leistung, bald voll der Bewunderung der Anwohner. Diese Tour, für die Sisyphos Pate gestanden haben könnte, zeigt: Die Geschichte von Jakob Schmid und Franz Berzel respektive Georg Grau ist nicht nur die Geschichte von ein paar Verrückten, die uns erzählen, wie Deutschland war in einer Zeit, die uns heute surreal vorkommt und in der wir nur allzu gern nach Schlupflöchern suchen, die eine andere Wendung der Geschichte zugelassen hätten. Die Reise der „Ballonauten“ ist auch einfach die Geschichte zweier Sportler, die körperlich Unvorstellbares angezettelt hatten.

Unerbittlich zogen die “Ballonauten” ihre temporäre Heimat durch die Lande, bergauf, bergab, durch Städte, am Meer, in den Bergen.

600 Kilo – zwölf Zentner – fast zwei Drittel einer Tonne. Oder, anders gesagt: Das Gewicht eines stattlichen Araberhengstes, zweier ausgewachsener Braunbären oder eines Trabants zogen Schmid und sein jeweiliger Gefährte tagtäglich mehrere Stunden hinter sich her. Nicht nur auf flacher Strecke, nicht nur ein paar Meter, wie es die starken Männer in zweifelhaften Wettbewerben am Samstagnachmittag auf Eurosport machen. Die Ballonauten legten eine Tagesleistung von durchschnittlich 24 Kilometern zurück, die Strecken summieren sich bis zum unfreiwilligen Ende der Reise auf knapp 3.000 Kilometer. Über 5.000 hätten es werden sollen; geplant war, zwei Jahre lang durch Deutschland zu kugeln, immer wieder hinauf in den Norden und hinunter in den Süden, bis sie die Republik nahezu vollständig erkundet gehabt hätten.

Visionäre oder Irre?

Jakob Schmid und Franz Berzel mochten ihr Heimatland. Und bei ihrem Sportsgeist lag es ihnen fern aufzugeben. Manch einer mag sie heute als Visionäre betrachten, weil sie etwas scheinbar Unmögliches umsetzten; andere mögen sie für recht wortwörtlich balla-balla halten. Aber die Faszination bleibt, ob man nun skeptisch ist oder begeistert. Warum tut sich jemand so etwas an? Kleine Kommentare im Tagebuch geben Aufschluss, wenn man versucht, sich in die Ballonauten hineinzuversetzen. Ihr Antrieb war weit mehr, als „den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen“ zu propagieren, wie die Zeitungen von damals berichteten. Es muss ein nicht zu bremsender sportlicher Ehrgeiz gewesen sein, der sich von Tag zu Tag noch steigerte. In seinem ersten Eintrag beklagt Schmid noch die Anstrengung gleich zu Beginn des Wegs, die Steinerne Brücke in Regensburg. „Als wir die Steinerne Brücke passierten, hatten wir gleich ein Pech, da geht es schon recht schön an.“ Nach über 2.000 Kilometern dann der Wallberg: 1.500 Meter hoch, 34 Prozent Steigung. Zentimeterweise geht es voran. Zehn Tage lang, nur ein Tag Pause. Zwischendurch springt Schmid nach unten, holt die Post aus Tegernsee, erklimmt den Berg ohne große Last und schiebt das hölzerne Ungetüm weiter an. Zehn Tage. Ein Zentimeter, 20 Zentimeter. 600 Kilo Kugel plus Gepäck. Oben angekommen, ruhen sie nicht lange. Nur wenige Stunden verweilen sie im Schutzhaus auf dem Berg, denn: Die Pflicht ruft! Der Ball soll im Wildpark Rottach-Egern ausgestellt werden, da gibt es Geld zu verdienen. Also: auf zur Talfahrt. In zwei Stunden und 15 Minuten geht es bergab, mit einer Tanne an der Kugel, auf der oberbayerische Burschen als Bremsklötze sitzen.

In kurzen Tagebucheinträgen notierte Jakob Schmid seine Eindrücke der Reise.

Der Tagebuch-Eintrag über diese Etappe ist schlicht gehalten, lässt die Belastung nur erahnen: „Gesundheitlich gut, Achseln aufgescheuert vom Schieben, Schuhe vollständig erledigt, letzte 3 Tage schon auf Socken gelaufen.“ – „Was wir geleistet haben, kann man nicht schildern.“ In dieser späten Phase der Reise hat Schmid bereits ein paar Illusionen verloren. Er hat auf Anerkennung gehofft, doch zu oft ist ihnen Geringschätzung entgegengeschlagen, zu oft sind sie für verrückt erklärt worden. Die Bezwingung des Wallbergs soll ihnen die Bestätigung und das Ansehen bringen, das ihnen nach eigenem Empfinden zusteht. Gut zwei Stunden abwärts nach zehn Tagen aufwärts, um dort anzukommen, wo sie gestartet sind. Um sich von der Bevölkerung vor ihrer monströsen Kugeln bestaunen zu lassen, um ein paar Postkarten zu verscherbeln. Und nicht zuletzt: um die Liebste zu treffen. Jakob Schmids Verlobte Resi hat sich auf den Weg nach Bad Tölz gemacht, um ihn dort zu überraschen. „Als sie kam, sah ich an ihren Augen, daß sie sehr viel noch für mich übrig hat, das ist Privatsache, drum Schluß.“ Der harte Sportsmann wird weich. „Ein romantisches Plätzchen suchten wir uns direkt am See. Schweren Herzens nahmen ich und meine Braut Abschied. Abends badete ich mich trotz der Kälte im Kochelsee.“ Schmid war gewiss kein Poet, aber seine Worte sind in ihrer Schlichtheit, Ehrlichkeit und Pragmatik anrührend.

Nachgezeichnete Reiseroute: Auf dieser Strecke manövrierten die “Ballonauten” ihr Gefährt durch Deutschland, über 3.000 Kilometer weit.

16 Monate lang geht die Reise, knapp 3.000 Kilometer lang. Und dann, zwischen Ellwangen und Rosenberg, ist am 13. August 1933 plötzlich Schluss. Die gute Kugel, das treue Ungetüm, das so viel mitgemacht hat, macht schließlich schlapp und bricht auseinander. Eine Reparatur ist nicht möglich, der Riesen-Fußball wird per Bahn nach Regensburg geschafft. Es ist das erzwungene Ende der „Reise kreuz und quer durch Deutschland mit dem Riesenfußball“, wie Schmid sein Tagebuch überschrieben hatte.

Aus dem Ball in den Krieg

Und danach? Die Ballonauten werden Opfer ihrer Zeit. Das Land, in dessen Alltag sie nach ihrer knapp anderthalbjährigen Reise zurückkehren, ist ein anderes geworden. Unter den Nazis zählen kollektive Siege – exzentrische Einzelleistungen mit zweifelhaftem Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ sind nichts wert. Es kräht bald kein Hahn mehr nach den Ballonauten und ihrer unglaublichen Geschichte, die nun zügig in Vergessenheit gerät. Dann kommt der Krieg – Jakob Schmid überlebt ihn nicht: Er wird in den letzten Kriegstagen 1945 bei einem Himmelfahrtskommando verheizt. Franz Berzel hat den Krieg überlebt und starb 1965 in Regensburg, mehr ist nicht bekannt. Bislang hat sich niemand gefunden, der ihn noch gekannt hätte und von ihm berichten könnte. Die Spur von Berzels Nachfolger Georg Grau konnte bislang nicht verfolgt werden. Unser Wissen über sein Schicksal endet mit dem Tagebuch.

Hubertus Wiendl schickt uns mit dem Tagebuch der Ballonauten auf Zeitreise in eins der finstersten Kapitel der deutschen Geschichte.

Jetzt ist es an Hubertus Wiendl, dem querdenkenden Journalisten aus Regensburg, die Ballonauten wiederzubeleben. 80 Jahre schlummerte ihr Tagebuch in einem Rucksack auf einem Dachboden, ein ganzes Menschenleben lang. Doch jetzt soll die Republik die Fußballer und Abenteurer Schmid, Berzel und Grau kennen lernen. Jakobs Schmids Sohn und sein Enkel sind Mitglieder in Hubertus Wiendls Verein, der Sohn des „Ober-Ballonauten“ möchte mit einem Freund die Reise des Vaters nachvollziehen. Und es wird es eine Replik der Sehenswürdigkeit geben: Wiendl hält an seinem Plan fest, den Ball nachzubauen. Er soll wieder durch die Republik rollen, durch viele der Gegenden, die Schmid und seine Gefährten bereisten und wo sich heute unglückliche Zentren neonazistischer Barbarei gebildet haben. Wiendl will mit dem Ball, begleitenden Projekten und der Verbreitung der Geschichte der Ballonauten einen Beitrag dazu leisten, was damals nicht gelang: Rechtes Gedankengut in den Köpfen der Menschen zurückzudrängen, für Offenheit und Toleranz werben. Die Ballonauten Schmid, Berzel und Grau und ihre so wunderbar irre wie völkerverbindende Aktion vor 80 Jahren sollen Pate stehen. Tagebuchausschnitte, Bilder, Dokumente, Zeitungsartikel und Informationen über den Verein gibt es auf www.ballonauten.de. Erstveröffentlichung im MUH-Magazin Nr. 6 am 26. Juni 2012.
„Sittenwidrig, unseriös, moralisch verwerflich“

„Porno-Pranger“-Kanzlei unterliegt in Musterprozess

Es sieht nicht gut aus, für den „Porno-Pranger“-Anwalt. Am Freitag unterlagen die Kanzlei U+C und der mit ihr verklagte Internetabzocker Frank Drescher in einem Zivilverfahren vor dem Regensburger Amtsgericht, das als Musterprozess gelten darf. Die Abmahnpraxis sei „nicht nur unmoralisch und unseriös, sondern auch vorsätzlich sittenwidrig“. Das Urteil dürfte auch strafrechtlich von Bedeutung sein.

Verhandlungen mit Swiss International School

Millionen-Geschenk für Eliteschule?

Weil die „Swiss International School“ (SIS) sich langfristig an Regenstauf gebunden hatte, will die Stadt offenbar bei der Pacht für die nach Regensburg umgezogene Privatschule ein Auge zudrücken. Die Stadt bestätigt laufende Verhandlungen. Die SIS-Geschäftsführerin laviert und hülllt sich schließlich in Schweigen. Ist ein Millionen-Betrag für einen Bildungskonzern gerechtfertigt?

Friedens-Plakate umetikettiert

Rieger wird zum Krieger

Für Häme und Befriedigung bei manchem CSUler sorgen umetikettierte Rieger-Plakate entlang der Frankenstraße. Tatsächlich waren es aber keine Parteifreunde, die dafür verantwortlich sind. Es gibt ein anonymes Bekennerschreiben.

Ein-Mann-Demo vor dem Landgericht

Sieben Jahre Psychiatrie: Mollath liegt im Durchschnitt

Vor dem Landgericht Regensburg fordert am Freitag ein Mann „Gerechtigkeit für Gustl Mollath“ und erhält viel Zuspruch. Wie groß der Skandal tatsächlich ist, muss sich indes erst zeigen. Fest steht allerdings: Die Zahl der Insassen in geschlossenen Psychiatrien steigt ebenso wie deren Verweildauer. Und nicht jeder Fall rückt so in den Fokus der Öffentlichkeit.

65jähriger meldet Demo an

Protest vor Landgericht: „Gerechtigkeit für Gustl Mollath“

„Eigentlich bin ich gar kein so kritischer Mensch“, sagt Helmut Nachtigall. Und auch öffentliche Auftritte sind nicht so seine Sache. Trotzdem hat der 65jährige für den morgigen Freitag eine Kundgebung angemeldet – Motto: „Gerechtigkeit und Freiheit für Gustl Mollath“. Ab 10 Uhr will er vor dem Gerichtsgebäude an der Kumpfmühler Straße stehen.

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