Teil 4 – Altstadtbewohner, die Erste
Regensburg ist eine gespaltene Stadt. Und zum Spaltpilz wird nahezu automatisch jeder, der in der Altstadt wohnt. Nur wenige finden den Weg aus dem Alleengürtel hinaus ins unbekannte Hinterland. Wer sich schon mal mit einem Altstadtbewohner außerhalb dessen Komfort-Zone verabreden wollte, weiß wahrscheinlich schon jetzt, wovon diese Kolumne voller persönlich geprägter Pauschalurteile unserer Autorin Bianca Haslbeck handeln wird. Heute: Teil 4 – Altstadtbewohner, die Erste.
Liebes Regensburg!
Wusstest du, dass man deine Bewohner in zwei Kategorien einteilen kann? Also… Prinzipiell kann man sie natürlich deutlich detaillierter klassifizieren; aber diese eine Einteilung scheint mir spontan wesentlicher als jede andere. Welche? Es ist die Unterscheidung in Altstadtbewohner und andere. Dabei ist es völlig egal, ob die Nicht-Altstadtbewohner im Inneren Westen, am Hohen Kreuz, am Keilberg, in Kager, Reinhausen oder in Königswiesen-Süd wohnen. Entscheidend ist nämlich nicht, wo jemand wohnt, sondern wo jemand nicht wohnt.
Die heterogene Masse der “anderen” überlegt sich das auch nicht selbst. Es ist eine Art natürlich stattfindender Separation, der Impuls dazu kommt von den Altstadtbewohnern. Absicht will ich dabei gar nicht unterstellen; es handelt sich wohl eher um umgebungsbedingte Reflexe und anscheinend kann es einen in jedem Alter befallen, sobald man in die Altstadt zieht. Genau kann ich es jetzt auch nicht sagen, ich bin ja kein Verhaltensforscher; Vorsatz scheint es mir jedenfalls nicht zu sein, denn dann müsste man davon ausgehen, dass sich rund 18.000 Altstadtbewohner gegen über 100.000 andere Regensburger verschworen hätten – und das erscheint mir jetzt doch eher unwahrscheinlich.
Wie sich das äußert, fragst du mich? Ok, lass uns konkret werden und zuerst klären, was wir unter Altstadt zu verstehen haben. Ich ziehe die Linie jetzt mal intuitiv und sehr grob: Altstadt heißt für mich von Jakobstor bis Ostentor in West-Ost-Richtung und Donau bis Arcaden in Nord-Süd-Richtung. Das trifft sich auch so ungefähr hin mit der offiziellen Definition, die sogar nach Westen und Ostern ein paar Meter weiter geht.
Die Menschen, die innerhalb dieser Grenze leben, haben ihre eigenen Gesetze. Das Habitat “Altstadt” prägt das Verhalten des Einzelnen wie kaum ein anderer Lebensraum. Nicht, dass es dort keine spannenden Menschen gäbe! Um Gottes Willen, das möchte ich nicht gesagt haben! Aber bei manchen Themen könnte man auch eine Schallplatte abspielen, anstatt sich mit einem Altstadtbewohner zu unterhalten.
Schon mal versucht, sich als nicht näher bestimmter “anderer” mit einem Altstadtbewohner zu verabreden? Ja, wahrscheinlich schon. Das hat auch sicher problemlos geklappt, wenn man plante, sich auf ein Stück Kuchen im Café am Haidplatz oder eine Popcorn-Schlacht im Garbo-Kino oder zum Gummibärchen-Shopping im Kaufhof zu treffen.
Aber wer hat schon mal versucht, sich mit einem Altstadtbewohner außerhalb der Altstadt zu verabreden? Beispielsweise bei sich zu Hause am Ziegetsberg oder in einer Pizzeria in Kumpfmühl oder in einem Biergarten in Großprüfening oder zum Billardspielen im Gewerbepark? Die Diskussion läuft dann ungefähr folgendermaßen ab:
Anderer: “Hey, wollen wir uns heute Abend um 19 Uhr treffen?” – Altstadtbewohner: “Klar, gern! Was willst du denn machen?” – Anderer: “Ich war so viel unterwegs die letzten Tage, ich hätte gegen ein paar gemütliche Gläschen Wein in der Wohnung nichts einzuwenden.” – Altstadtbewohner: “Klingt gut. Dann also um 19 Uhr bei mir?” – Anderer: “Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest du mir kommen. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen und wollte…” – Altstadtbewohner: “Boah, das ist aber ganz schlecht. Wie soll ich denn da raus kommen?” – Anderer: “Da fährt die Linie x hin, Haltestelle sowieso, dann sind’s nur noch 300 Meter.” – “Ja, aber wann fährt denn der letzte Bus zurück? Da muss ich ja schon um viertel vor zwölf wieder gehen. Kannst nicht lieber du in die Stadt fahren?” – Anderer: “Du könntest doch auch mit dem Auto fahren, dann trinken wir halt Kinderpunsch. Ich hab Halsweh und will nicht so weit durch die Stadt laufen.” – Anderer: “Hm, ja, aber wo soll ich denn bei dir parken? Bei dir ist ja nie was frei, und ich kenn mich in der Gegend nicht so aus. Und wenn ich wieder zurückfahre, ist mein Bewohnerparkplatz weg. Komm doch her, das ist doch viel einfacher!”
Resigniert gibt der andere nach und weist den Altstadtbewohner ein ums andere Mal nicht auf seine Denkfehler hin.
Denkfehler? Ja, sicher. Einige. Etliche! Allein in dieser simplen Alltagskonversation. Sobald es um das Thema “Wie komm ich denn da hin?” geht. Mir fallen sofort zahlreiche Möglichkeiten ein, um von A nach B zu kommen, völlig unabhängig vom Ausgangspunkt: zu Fuß, Fahrrad, Auto, Bus, Taxi. Natürlich sind mir auch die Gegenargumente bekannt: zu weit weg für einen Fußmarsch; zu kalt, wahlweise zu bergig fürs Fahrrad. Schlechte Parksituation, wenn man mit dem Auto unterwegs ist. Unnötige Umstände, wenn man mit dem Bus fährt. Teure Taxifahrt. Alles kein Ding. Alles nachvollziehbar.
Nur: Das gilt für alle, die sich in dieser Stadt vorwärtsbewegen wollen! Ziegts- und Keilberg bleiben steil, egal, ob man auf dem Hin- oder auf dem Rückweg überwinden muss. Leoprechting ist am… äh… Hinterteil der Stadt, für den Altstadtbewohner wie für den Leoprechtinger. Nicht nur der Altstadtbewohner, auch der andere ist abhängig von den eigenwilligen Bus-Zeiten des RVV. Parkplätze gibt es in der Altstadt für gewöhnlich noch weniger als außerhalb. Die Suche bleibt also niemandem erspart, und wer immerhin einen Bewohner-Ausweis hat, ist des Jammerns kaum mehr würdig.
Keine Ahnung, ob das einem Altstadtbewohner jemals aufgefallen ist, aber: Jeder Nicht-Altstadtbewohner betreibt den Aufwand des Vorankommens mit allen Nebenerscheinungen ebenfalls, auch wenn das Ziel “Altstadt” heißt – sinnloses Rumsitzen an Bushaltestellen, noch sinnloseres Im-Kreis-Fahren auf der Parkplatzsuche, Taxikosten, Fußwege. Niemand schwebt ohne Temperaturunterschiede, Anstrengung, Such- und Wartezeiten oder einen finanziellen Obulus in Form von Busticket, Parkgebühren, Taxifahrt oder Strafzettel in die Altstadt. Wirklich nicht! Der Weg in die Stadt ist auch nicht kürzer als der Weg aus ihr heraus. Und alle anderen treten den Weg Richtung Altstadt wesentlich öfter an als der gemeine Altstadtbewohner den Weg aus der Stadt heraus. Nur: Gewohnheit macht die Sache auch nicht billiger, kürzer oder sonst wie angenehmer.
Und so kommt es, dass man sich als Regensburger außer-altstädtischer Provenienz nahezu täglich auf den Straßen befindet, um nicht nur den notwendigen oder höchstpersönlich gewünschten Aktivitäten in der Altstadt nachzugehen, sondern auch dann die Altstadtgrenzen überwindet, um dem mit großen Augen nach Hilfe suchenden Altstadtbewohner die unzumutbar erscheinende Belastung des Wegs nach draußen abzunehmen.
Sollte sich ein Altstadtbewohner doch wider Erwarten dazu entschließen, sich aus seinergewohnten Umgebung heraus zu wagen, bietet man auch immer wieder gerne Hilfestellungen an. Offenbar fällt es Nicht-Altstadtbewohnern leichter, Busfahrpläne (speziell die der Linien mit den zweistelligen Ziffern) zu dechiffrieren oder Parkmöglichkeiten am Stadtrand auszukundschaften. Dieses Wissen lässt man dem Altstadtbewohner dann auch gerne schriftlich zukommen und steht sodann zur verabredeten Uhrzeit telefonisch bereit, um bei der Überwindung der letzten Meter behilflich zu sein. Man ist ja kein Unmensch, wenngleich man vom homo urbicus antiquus und damit von der höchsten Stufe des Menschseins weit entfernt ist.
Da Lebenshilfe ja ein boomender Geschäftszweig ist, denke ich gerade drüber nach, einen Kurs anzubieten: “Holt mich hier raus! Gefangen in der Regensburger Altstadt. (K)ein unüberwindbares Schicksal?” Das wäre doch mal was. “Mutig den Alleengürtel überwinden. Gemeinsam das Abenteuer außerhalb der Altstadt erleben. Mit Forscherdrang den Spuren der Zivilisation außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer nachgehen. Baumärkte, Bowling-Center, Weinberge, Rotlichtviertel – Entdecken sie ungeahnte Welten, die es so in der Innenstadt nicht gibt. Erfahrene Reiseführer geben Ihnen sicheres Geleit auf Ihrer Expedition in unbekanntes Terrain.”
Ich glaube, das hätte Potenzial. Was meinst du, liebes Regensburg?
Vom Stadtrand grüßt
Bianca Haslbeck