Fast 20 Jahre Kieferhölle
Einbildung attestierten Ärzte einer 52jährigen, die nach einer Zahnbehandlung über Schmerzen klagte. 19 Jahre später hat sie zahlreiche Zähne verloren und leidet unter mehreren chronischen Erkrankungen. Seit vier Jahren wartet sie nun darauf, dass ihr Fall vor Gericht verhandelt wird.
„Manchmal ist es nur noch die Einnahme von Schmerzmitteln, die mich am Leben erhält“, sagt Martina Sperber (Name geändert). Dabei streicht sie sich über ihre linke, merklich angeschwollene Gesichtshälfte. Auch die Arme sind heute mal wieder geschwollen. Die Beine, sagt sie, tun heute nicht weh. Das ist nicht immer so. „Manchmal kann ich gar nicht mehr aus dem Haus gehen.“
Vielleicht wird man etwas reizbar, wenn man immer wieder Blut, Eiter und Knochenteile spuckt…
Wir haben uns schon öfter getroffen und über das gesprochen, was Sperber „meine Horrorgeschichte“ nennt. Und es ist erstaunlich, wie ruhig die 52jährige bleibt, während sie schildert, was ihr in den letzten 19 Jahren widerfahren ist. Es ist eine Krankheitsgeschichte, in deren Verlauf Sperber attestiert wurde, psychisch gestört zu sein und sich diese Schmerzen doch nur einzubilden, die begannen, nachdem ihr Ende 1995 ein Zahn gezogen worden war. Sie leide an einem Borderline-Syndrom, schrieb ein Arzt. Die Schmerzen seien eingebildet oder zumindest „psychisch überlagert“, ein anderer. Sperber sei „psychisch instabil“.
Aber vielleicht wird man etwas reizbar, instabil, wenn man immer wieder Blut, Eiter und Knochenteile spuckt. Wenn man immer wieder Schmerzen hat. Wenn Zahn um Zahn abstirbt und man von niemandem ernst genommen und zur Spinnerin erklärt wird.
Auf fast 200 Seiten hat Martina Sperber Protokoll über ihren Krankheitsverlauf und die zahllosen Arztbesuche geführt. Eine Zusammenstellung der Ärzte, die Sperber aufgesucht hat, liest sich wie das Who is Who von Regensburger Zahnärzten und Kieferchirurgen. Was ihre Beschwerden verursacht, konnte aber offenbar keiner der Zahnmediziner feststellen. Diese Beschwerden indes wurden aber immer schlimmer.
Eingebildete Schmerzen? Elf Zähne verloren, chronische Krankheiten
Während der 19 Jahre angeblich eingebildeter Schmerzen hat Martina Sperber elf Zähne verloren. Und alle verbliebenen sind derart schwer geschädigt, dass sie wohl allesamt durch Implantate ersetzt oder zumindest überkront werden müssen.
Heute steht fest: Martina Sperber leidet seit Jahren an einer chronischen Kieferhöhlenentzündung und einer – nicht mehr heilbaren – chronischen Knocheneiterung („Osteomyelitis“). Die Kieferhöhlenwand ist auf einer Seite nur noch papierdünn und wird wohl nicht wiederherzustellen sein. Ausgehend vom zahnlosen linken Oberkiefer kam es zu Haltungsschäden, die manchmal bis in die Beine ausstrahlen. Die Schwellung im Gesicht rührt von einer Schädigung des Lymphsystems. Folge der andauernden Entzündungen. Ebenfalls chronisch. Da sind die Magenprobleme von den vielen Schmerzmitteln und Antibiotika fast schon vernachlässigbar.
2007 erkrankte Martina Sperber zudem an Brustkrebs. Nach mehreren Operationen und Chemotherapie hat sie diese Krankheit zwar überstanden, aber, so Sperber: „Es bleibt immer die Vermutung, dass die dauernden Entzündungen Auslöser für den Krebs gewesen sein könnten.“ In ihrer Familie sei bislang nie jemand an Krebs erkrankt. Und tatsächlich gelten chronische Entzündungen auch nach der aktuellen Forschungslage als Risikofaktoren für Krebserkrankungen.
Uniklinik: „Langdauernder chronischer Prozess“
Es dauerte 17 Jahre, ehe 2012 ein Mediziner am Universitätsklinikum Regensburg die richtige Diagnose stellte und die Mär von den angeblich eingebildeten Schmerzen vom Tisch wischte. „Er war der erste Arzt, der mich ernst genommen und nicht wie den letzten Dreck behandelt hat“, sagt Sperber. Vier Mal wurde sie bislang von ihm operiert. Die starke Schädigung des Kieferknochens lasse auf einen „langdauernden chronischen Prozess schließen“, schreibt er. In einem OP-Bericht heißt es, die Knocheneiterung sei Folge einer „lange nicht erkannte(n) Mund-Antrum-Verbindung“.
Bei einer „Mund-Antrum-Verbindung“ handelt es sich um ein Loch in der Kieferhöhle. Es kann entstehen, wenn ein Zahn gezogen wird. So wie 1995 bei Martina Sperber. Das ist kein Behandlungsfehler, allerdings muss das Loch so schnell wie möglich verschlossen werden, um das Eindringen von Bakterien und Krankheitserregern in die sterile Kieferhöhle zu verhindern. Bei Sperber geschah dies – legt man den oben erwähnten OP-Bericht zugrunde – über Jahre nicht. Mehrere namhafte Regensburger Zahnärzte waren also offenbar nicht in der Lage, dieses Loch zu entdecken.
Klage läuft seit 2010
Wer ist nun verantwortlich dafür, dass die letzten 19 Jahre von Martina Sperbers Leben derart ruiniert wurden? Dafür, dass sie an mehreren chronischen Erkrankungen leidet, von denen sie sich nie wieder ganz erholen wird? Und wer übernimmt die Kosten für weitere, dringend notwendige Operationen, um ihren Kiefer und ihr Gebiss wenigstens so weit als möglich wiederherzustellen? Ist es überhaupt möglich, juristisch nachzuweisen, dass zwischen der Behandlung 1995 und Sperbers jetzigen Gesundheitszustand ein kausaler Zusammenhang besteht?
Bereits Anfang 2010 hat Sperber Klage beim Landgericht Regensburg eingereicht. Zu einer Verhandlung ist es aber bis heute nicht gekommen.
Verklagte Zahnärztin verweigert Unterlagen
Fast zwei Jahre weigerte sich die von Sperber verklagte Zahnärztin, ihre Patientenakten und entsprechende Röntgenbilder herauszurücken. Ähnliches galt für zwei Berufskollegen, die Sperber danach behandelten. Als der vom Gericht bestellte Gutachter mehrfach erfolglos bei den Zahnärzten nachgehakt hatte, erteilte der Richter ihm schließlich den Auftrag, das Gutachten ohne diese Unterlagen zu erstellen. Und entsprechend liest es sich. Zu vielen Dingen kann der Gutachter angesichts fehlender Unterlagen schlicht keine Stellung nehmen. Das war im April 2012.
Erst nachdem Sperbers Rechtsanwältin, aber auch das Gericht den Druck auf die Mediziner erhöhten, wurden die Unterlagen zum Teil zur Verfügung gestellt. Das Gericht gab ein Ergänzungsgutachten in Auftrag. Doch weil der Gutachter nun mehr Geld forderte, kam es zu neuerlichen Diskussionen, Verzögerungen. Ein für März 2014 angesetzter Verhandlungstermin wurde abgesagt.
Gutachter ist überlastet
Der Gutachter selbst spricht in seinen Stellungnahmen mehrfach von „Arbeitsüberlastung“ und beklagt die allgemeine Tendenz, dass zu jedem Gutachten mittlerweile stets mehrere Ergänzungsgutachten angefordert würden. Er komme frühestens im August dazu, sich mit dem neuerlichen Auftrag zu beschäftigen, so der Gutachter. Derzeit scheint ein Verhandlungstermin also nicht vor Ende 2014 oder Anfang 2015 möglich zu sein. Bislang hat Sperbers Rechtsschutzversicherung 24.000 Euro an Gutachterkosten bezahlt.
Ohne Urteil keine vollständige Behandlung
2015 ist es fünf Jahre her, seit Martina Sperber Klage eingereicht hat. Und so lange verzögert sich auch die Behandlung der 52jährigen. Ehe nicht juristisch entschieden ist, wer für Sperbers Beschwerden verantwortlich ist, ist auch nicht klar, wer die Kosten dafür übernimmt. Einen Großteil der notwendigen Behandlung – Implantate und Kronen – übernimmt die Krankenkasse nicht. Und Sperber selbst kann sich eine Ausgabe von mehreren tausend Euro – geschätzt geht es um 20.000 – schlicht nicht leisten.
Wir werden weiter über diesen Fall berichten.