Nur „übermäßige” Sanktionen sind verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Der Staat darf Hartz 4-Bezieher zwar sanktionieren, bei der Höhe und Dauer aber hat man es bisher gewaltig übertrieben.
Das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz 4-Sanktionen ist rasch erzählt. Strittig war die Auslegung eines Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 zum Existenzminimum. Darin heißt es (Leitsatz):
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG (…) ist dem Grunde nach unverfügbar (…).“ (Az. 1 BvL 4/09 von 29.2.2010)
Bisher: Kürzung um 100 Prozent möglich
Nach dem neuen Urteil ist es in Ordnung, wenn der Staat Sozialleistungsempfänger mit Sanktionen unter das Existenzminimum drückt. Sei es, um sie dafür bestrafen, dass sie verschuldet leistungsbedürftig geworden sind, sei es, um sie zur Mitwirkung bei der Arbeitssuche zu zwingen. Bei der Höhe und Dauer der Sanktionen aber habe es der Gesetzgeber gewaltig übertrieben, so das Gericht.
Zum Nachlesen
Im einzelnen beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht nur mit der Gruppe der nach §§ 31, 31a SGB II sanktionierten Erwerbslosen: Hier ist der Vorwurf, ohne wichtigen Grund gegen eine Eingliederungsvereinbarung verstoßen zu haben. Oder sich zu weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Eingliederungsmaßnahme und ähnliches aufzunehmen oder fortzuführen. Oder verschuldet überhaupt leistungsbedürftig geworden zu sein. Das betrifft nur etwa 19 Prozent aller 904.000 Sanktionen, die 2018 ausgesprochen wurden.
Den Betroffenen wurde bisher beim ersten „Vergehen“ der Regelunterhalt für drei Monate um 30 Prozent gekürzt, beim zweiten „Vergehen“ weitere drei Monate um 60 Prozent. Ab dem dritten Regelverstoß erhielten sie für drei Monate überhaupt keine Sozialleistungen, Kankenversicherungsschutz usw. mehr. Vom Totalentzug waren 2018 etwa 3.700 bei den über 25 Jahre alten Personen betroffen.
Gericht schränkt Sanktionen stark ein
Dazu urteilt das Gericht, dass die §§ 31,31a SGB II bis zu einer Gesetzesänderung weiter gelten, aber nur mit starken Einschränkungen. Die Sanktionen seien nämlich ein unverhältnismäßig massiver Eingriff in das Existenzminimum. Und es sei auch 15 Jahre seit Einführung von Hartz 4 nicht wirklich erforscht, ob die Sanktionen ihren Zweck erfüllt hätten.
Daher wird die starre Sanktionierungsfrist von drei Monaten aufgeweicht: Wer die Mitwirkung bei der Arbeitssuche nachholt bzw. sein Vergehen ernsthaft und nachhaltig bereue, bei dem „kann“ die Sanktionsfrist nach dem Gusto des Jobcenters verkürzt werden. Des Weiteren ist eine „Härtefallprüfung“ im Einzelfall vorgesehen, auf Grund derer das Jobcenter gegebenenfalls auf eine Sanktion ganz verzichten kann. Bei weiteren Vergehen darf die Sanktionshöhe von jeweils 30 Prozent des Regelunterhalts nicht mehr erhöht werden – es darf also immer nur um 30 Prozent gekürzt werden. Ausnahme: Besonders hartnäckige Mitwirkungsverweigerer sind weiterhin zum totalen Leistungsentzug frei gegeben.
Sanktionen ab 2018 können jetzt überprüft werden
Betroffene können beim Jobcenter unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen „Überprüfungs-Antrag gemäß § 44 SGB X wegen Rechtswidrigkeit des Sanktionsbescheides vom (…)“ stellen. Sollte das Jobcenter den alten Sanktionsbescheid nicht aufheben, ist gegen den ablehnenden Bescheid der Rechtsweg – Widerspruch und dann Klage – wieder eröffnet. Aber: Es sind nur Überprüfungs-Anträge gegen Sanktionsbescheide rückwirkend für ein Kalenderjahr möglich, also gegen Bescheide mit Datum 1. Januar 2018 und später.
Kommentar: Viele Fragen bleiben offen
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschäftigt sich nur mit der Spitze der Exzesse der Hartz 4-Gesetze. Und es ist zwiespältig. Es enthält viele „kann-Bestimmungen“ zugunsten der Jobcenter, die sich nur gerichtlich werden klären lassen. Dadurch fällt der hilflose Teil der Hartz 4-Bezieher weiter durchs Raster.
Als nächstes zur Diskussion steht auf Grund dieses Urteil das extreme spezielle Sanktionierungsrecht gegen die unter 25jährigen Hartz 4-Bezieher. Diesen wird bereits nach dem ersten Regelverstoß der Regelunterhalt gänzlich gestrichen, nach dem zweiten Verstoß entfallen jegliche Hartz 4-Leistungen, so § 31a Absatz 2 SGB II. Eine Friss-oder-stirb-Regelung im Geiste der schwarzen Pädagogik. 2018 gab es knapp 3.300 solcher Totalstreichungen.
Ebenso fraglich ist nun die starre Sanktionsfrist für die 77 Prozent aller Sanktionsfälle, bei denen in 2018 für festgeschriebene drei Monate wegen eines Meldeversäumnisses der Regelunterhalt um jeweils zehn Prozent gekürzt wurde .
Nicht zur Debatte stand, dass mit den 30 Prozent angeblich berechtigter Kürzungen nicht dass Existenzminimum gekürzt wurde, sondern nur das, was die Regierung als dieses Minimum definiert. Nach den Berechnungen z.B. des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beträgt das Existenzminimum für eine Einzelperson nämlich mehr – derzeit 571 EUR.
Nicht zur Debatte stand auch, ob es nicht Nötigung zur Zwangsarbeit ist, wenn Erwerbslose durch Sanktionen zur Annahme nahezu jedweder Arbeit und jedweder Art von Arbeitsverhältnissen gebracht werden.
Das Jobcenter Regensburg Stadt verhängte übrigens zwischen September 2017 und August 2018 746 Sanktionen, das Jobcenter im Landkreis 327.
Jens Schmidt
| #
Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht deren, die tagtäglich einer Arbeit nachgehen, um möglichst eigenverantwortlich für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Mitmenschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben zahlen.
Und dieses immer häufiger für Menschen, die – trotz bester Gesundheit – nicht willens sind, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorten.
Langjährige Arbeitslosigkeit und Empfang von Sozialleistungen als Lebensinhalt ist immer häufiger die Arbeitsgrundlage für die Mitarbeiter in den Jobcentern.
Vor allen diesen gilt mein Mitgefühl, da sie dieses Bankrott-Urteil auszubaden haben.
erik
| #
mit der Agenda 2010 bzw. den Hartz-Gesetzen wurde das Grundgesetz für Teile der Bevölkerung ausser Kraft gesetzt! Von fordern und fördern so gut wie keine Spur mehr, es geht nur noch um fordern bzw. einsparen um Mittel für andere und anderes frei zu machen (wie zB. eine Summe von 1,5 Milliarden Euro, die die Jobcenter in den letzten drei Jahren aus dem Hartz IV Fördertopf umgeschichtet haben um damit ihre eigenen Verwaltungskosten und Tariferhöhungen ihrer eigenen Mitarbeiter zu finanzieren) , quasi eine Enteignung durch die Hintertür!
Ergebnis: die Verarmung und Verelendung ganzer Landstriche und Bevölkerungsgruppen! Der Umbau des Gesundheitswesen und die damit verbunden Streichungen von Leistungen der gesetzlich Versicherten kommt da noch erschwerend oben drauf! Daran ändern auch manipulierte Statistiken (wie z.H. die Arbeitslosenstatistik, Statistiken zur Vermögensverteilung usw.), die von der Medien-Mafia gebetsmühlenartig verbreitet werden, nichts!
kürzlich auf HartzIV org zu lesen, nämlich wie z.B.
Hartz IV Sanktionen gnadenlos – auch gegen Familien mit Kindern
oder
Kein Hartz IV Schonvermögen: Eltern müssen Haus verkaufen
oder
Laut einer Meldung (basierend auf einer Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfoschung) verzichten 3,1 – 4,9 Millionen Antragsberechtigte auf Hartz IV und leben so in verdeckter Armut und erscheinen in keiner Statistik mehr.
oder
In Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die in Armut leben. Dabei sind nicht nur Erwerbslose stark von Armut betroffen, sondern auch immer mehr Alleinerziehende.
oder
Nur noch 47 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag: „Gesellschaftlicher Skandal“
oder
Hartz IV: Im Vergleich zum österreichischen Sozialsystem ein Witz!
oder
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland so groß wie vor 100 Jahren
oder
Menschenwürde? Banane vom Jobcenter für Hartz IV Empfänger
auch kürzlich war zu lesen:
Vermögensschock: Die Deutschen sind die armen Würstchen der EU
Der Welt-Reichtums-Report zeigt, wie arm die meisten Deutschen wirklich sind. Von den Ländern der alten EU liegt nur Portugal hinter Deutschland. In den meisten Ländern besitzen die Bürger mehr als doppelt so viel Vermögen wie hierzulande.
Der Medianwert des geldwerten Vermögens für die Erwachsenen liegt in Deutschland bei 47.000 Dollar. Schon im krisengebeutelten Griechenland sind es mit 55.000 Euro 8000 Euro pro Nase mehr. Dass die unmittelbaren Nachbarn – Holländer (94.000), Dänen (87.000 Dollar), Belgier (168.000 Dollar) – reicher als die Deutschen sind, kann kaum verwundern. Man sieht es bei jedem Besuch. Erstaunlich allerdings, dass Franzosen (120.000) und Italiener (125.000) mehr als doppelt so reich wie die Deutschen sind. Lichtenstein (168.000) und Schweiz (229.000) bilden erwartungsgemäß die Spitze.
Julian86
| #
Vielen Dank für diesen Bericht nebst Kommentar.
Einen ähnlichen Tenor vertritt Stephan Hebel in seinem Kommentar in der FR.
https://www.fr.de/meinung/hartz-4-sanktionen-eine-krachende-lektion-menschenwuerde-politik-13195080.html
Hinweisen möchte ich auf die Randziffern 148-152 des Urteils
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html
wo das Gericht zum vorletzten Absatz des Spirk-Kommentars, also zur Frage der Zumutbarkeit der Annahme von Arbeit etc. , doch Stellung bezieht.
Die SPD hätte (gemeinsam mit der Linken und den Grünen) die Chance, für die vollständige Abschafftung des Sanktionssystem zu werben, Mehrheiten zu suchen, um ggf. mutig den Bruch der GroKo ins Auge zu fassen – Ziel: Neuwahlen. Da die Union diese Abschaffung verweigert, bestünde für den Wahlkampf endlich wieder die Möglichkeit, widerstreitende Ansichten zur Wahl zu stellen.
Der Soziologe Butterwegge hat aufgzeigt, wie ein menschenwürdiges Sozialsystem angelegt sein müsste
https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/hartz-iv-sanktionen-strafe-anreizsystem-paedagogik
Piedro
| #
@Jens Schmidt
“Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht deren, die tagtäglich einer Arbeit nachgehen, um möglichst eigenverantwortlich für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.”
Das finde ich nicht. Warum solltene Arbeitende dafür sein, dass Mitbürgern das Existenzminimum verweigert wird? Ich tu das nicht, bin aber mit dem Urteil auch nicht zufrieden. Kann-Bestimmungen in der Existenzsicherung, im Ermessen eines Angestellten, der im Zweifelsfall unfähig, vermutlich an interne Weisungen gebunden, das gefällt mir nicht. Der Verweis auf richterliche Klärung zeigt das: klare Regelungen könnten das ersparen, den Gerichten und den Betroffenen.
“Und dieses immer häufiger für Menschen, die – trotz bester Gesundheit – nicht willens sind, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorten.”
Wo haben Sie denn diesen Bockmist her? Sogar nach den Angaben des Ministeriums ist Arbeitsverweigerung das geringste Problem bei der Vermittlung, und zwar im untersten, einstelligen Bereich. Die 30%-Sanktionen treffen überwiegend Teilnehmer von Maßnahmen, in denen sie ihren Vornamen in Druckbuchstaben und Schreibschrift schreiben und Rollenspiele mit unterbezahlten Dozenten machen – oder eben nicht wochenlang. DAFÜR werden Steuern verheizt, etliche Millionen, immer beim günstigsten Anbieter, immer ohne Qualitätskontrolle. Und natürlich für die Verwaltung, die diesen büroratischen Irrsinn mit unzumutbaren Schlagzahlen aufrecht erhalten soll. Und nicht zuletzt für Richter, Anwälte und die Arbeitsstunden der klageberechtigten JC-Juristen, in den Verfahren, die zu ca. 50% zugunsten der Kläger ausgeht. Die gern auch mal über ein paar Jahre verschleppt werden. DAS kostet richtig Geld. Die Hanseln, die absolut nichts wollen oder können sind dagegen ein Spott, und denen ist nicht geholfen wenn man völlig entrechtet.
Keinem Arbeiter ist geholfen, wenn ein Erwerbsloser sanktioniert wird. Aber die Sanktionen wirken sich auf vieles aus: auf das Lohnniveau zB, das sich im europäischen Vergleich seit der Hartz-Reform längst nicht so entwickelt hat wie in anderen anderen Ländern. Sorgen wir erst mal dafür, dass unsere Behörden gescheit funktionieren, so lange da Willkür herrscht sollten sie nicht das Macht über Menschenschicksale haben. Wenigstens existieren darf jeder, oder klauen oder sich prostituieren zu müssen, das ist eigentlich die Grundidee.
Eingeborener
| #
Die arbeitende Bevölkerung verzichtet dankend auf ihr Mitleids-Gehetze , @ Jens Schmidt. Sind Sie von Beruf Radfahrer ? Nach oben buckeln, wo die Oberschicht immer reicher u reicher geworden ist und nach unten treten, wo die Armut zuhause ist – solche Maulhelden braucht das Land nicht.
Piedro
| #
In einem anderen Thread ist ja unlängst der Kläger zu Wort gekommen, der das Konzept zur Berechnung der Unterkunftskosten im Landkreis Regensburg in jahrelangem Rechtsstreit “gekippt” hat. Es wäre interessant auch mal den zu lesen, auf dessen Seite sich die Richter des Sozialgericht Gotha gestellt hatten, so überzeugt, dass sie immerhin zwei mal eine Richtervorlage beim Verfassungsgericht einreichten. Die erste war formal nicht ausreichend.
Den Schlag ins Gesicht hatten wir ja schon, und damit auch die Vorverurteilung, die pseudomoralische Nachverurteilung.Das Bild des asozialen Verweigerers überträgt sich von selbst. Kann ja nicht sein, dass jemand arbeiten will, der sanktioniert wird. Und dann gehört sich das so. Doof, wenn das nicht stimmt.
Eine Stelle als Lagerarbeiter (bei Zalando) wurde abgelehnt, nachweislich, weil der Erwerbslose im Verkauf arbeiten wollte. Das wollte er auch noch, als man ihm weitere 30% von seinem Regelsatz versagte. Es geht nicht darum, dass der Klagegenstand nicht arbeiten wollte, es geht darum, dass er alles machen soll, ob Zalando oder sonstwo, wenn er ein hundertprozentiges Existenzminimum in Anspruch nehmen will. Muss ja er ja nicht. Das ist der Grundgedanke der Sanktionen: musst du ja nicht, aber wenn, dann müssen wir auch nicht.
Eine Folge der Sanktionspraxis ist die ausgeuferte Probearbeit. Kleiner Verweis an die vermeintlich konservativen: früher gab es das nicht. Gar nicht. Heute ist das ein Modell zur Einsparung von Humankapital geworden. Dazu: https://www.gegen-hartz.de/news/hartz-iv-auch-probearbeit-muss-verguetet-werden Erhalten die Betroffenen einen Vermittlungsvorschlag, müssen Sie sich bewerben. Sollen sie Probearbeit leisten, muss das vom JC genehmigt werden. Damit geht auch die Beratungspflicht auf den Vermittler über: er müsste dem “Kunden” mitteilen, dass er Anrecht auf Vergütung hat, die er natürlich als Zufluss melden muss. Das passiert ganz genau nie. Aber wer seine Arbeitskraft nicht kostenlos zur Verfügung stellt, wenn ihm das angeboten wird, bekommt eine Sanktionsanhörung. Danach den Bescheid, wenn das Jobcenter einen Sanktionsgrund sieht. Jahre später wird die Sanktion dann vielleicht in einem Verfahren zurück genommen. Jetzt nicht mehr. Das ist doch schon mal was. Aber wenn das alles sein soll zahlen wir alle auch weiterhin ordentlich drauf. Nur nicht bei den Verweigerern. Die können sich eine asoziale Existenzgrundlage schaffen, etwa durch Kriminalität, oder sie könnten ihr unproduktives Leben beenden. Das wollen nicht alle, aber da kann man nachhelfen. Auch, wenn die meisten anderen dabei draufzahlen. Auch, wenn die meisten eigentlich was ganz anderes wollen.
R.G.
| #
Ich erteile gerne Nachhilfe.
Mein Ausbildungsgeld verdiente ich mir durch Ferialarbeit mit.
Den damals ausgeübten eigentlichen Fachberuf gibt es nicht mehr.
Wegrationalisiert.
Mit dem Abschluss hatte ich einen richtig guten Beruf. Es gibt ihn nicht mehr. Wegrationalisiert.
Die Arbeiter jenes Betriebs verdienten damals mit Zulagen und Überleistungen mehr als ein Akademiker. Ihre Berufe werden großteils nicht mehr ausgebildet. Beinahe alles schon wegrationalisiert. Wo früher eine riesige Halle voller Maschinen stand, sieht man heute höchstens zwei Personen vor Riesenanlagen.
Ich kenne die früheren Kollegen aus der Produktionsetage, besonders fleißig musste da jeder sein, sonst hätte man ihn nicht in der bestzahlenden Firma behalten. Treffe ich jemanden von ihnen – die meisten sind arbeitslos oder in Rente, einige krank – höre ich durch die Bank, wie schlimm es ist, als arbeitsamer Mensch beim Arbeitsamt behandelt zu werden, als wolle man nicht arbeiten, obwohl es keine taugliche Arbeit gibt.
Da stehen Männer vor mir, die täglich bei größter Hitze und höllischem Lärm Leistungen über den Vertrag hinaus erbrachten, zig Kilo schwere Gebinde hoben, nur um die Maschine nicht anhalten zu müssen, obwohl das ein Handlanger für sie machen hätte können. Sie müssen sich heute arbeitsscheu schimpfen lassen, weil sie beipielsweise in einer Fabrik feinmotorische Montagearbeit einfach nicht erbringen können.
Ihr Körper ist dafür zu verbraucht. Ich könnte Stunden weitere Exempel aufzählen.
Einen weiteren guten Beruf, den ich ausüben durfte, gibt es heute so nicht mehr.
In welcher zynischen Blase muss man leben, um zu glauben, es gäbe genug Arbeit, die Menschen wollten sie aus Jux und Tollerei nur nicht machen?
Julian86
| #
Leistungs- und Bedarfgerechtigkeit, wie sie dem SGBII zugrundeliegen, wo bleibt deren staatliche Berücksichtigung bei der Auto-Industrie, die Merkel nun – ohne Bedarfsprüfung – mit Milliarden der Steuerzahler “beglücken” will? Warum rechnet man die Fehlleistungen der Manager nicht an, die ihre Firmen in diese prekäre Situation brachten?
Hier wird mit unterschiedlichem Maß gemessen und umverteilt: von unten nach oben. Das treibt die Leute zur AfD.
https://www.zeit.de/2019/46/autobranche-probleme-staat-unterstuetzung
Ex Regensburger
| #
Ich habe einige Jahre Sozialhilfe-Empfänger (so hiess das damals in den 90er-Jahren, nicht “Kunden”) beraten u. gebe gerne meine konkreten Erfahrungen weiter.
Die weitaus meisten Sozialhilfe-Empfänger waren alleinerziehende Mütter, die kleine Kinder hatten u. nicht arbeiten KONNTEN. Die zweitgrößte Gruppe waren Rentner/innen mit einer zu kleinen Rente u. kranke Hilfeempfänger, die nicht oder kaum arbeitsfähig waren. Ca. 1% waren Bürger, die z.B. 30 Jahre alt waren, arbeitsfähig u. wo man den Eindruck hatte, dass die nebenbei schwarz arbeiten u. parallel “Stütze” kassierten oder schlicht arbeitsunwillig waren. Klar, just da gab u. gibt es das Problem des NACHWEISES. Ein dumpfes Gefühl reicht da nicht aus.
Die Sachbearbeiter beim Sozialamt waren recht unterschiedlich drauf; es gab Geizlinge u. Unsympathen, bei denen man den Eindruck hatte, die “Stütze” würde von ihrem Privatkonto bezahlt. Die meisten waren ok u. haben die Hilfeempfänger fair beraten u. behandelt.
Die Hilfe-Empfänger/innen waren zu 99% freundlich, sympathisch u. ok. Einige halt körperlich krank und/oder depressiv u. konnten deshalb nicht arbeiten. Aggressiv war keiner.
Hutzelwutzel
| #
Jetzt bin ich mal ganz “böse”, und kommentiere dieses Urteil des BVerfG auch mal entsprechend deutlich. Heißt konkret, dass man jetzt Jahre lang die armen Leuten schmoren, und so mancher/ manchem Job-Center-Mitarbeiter*In deren Machtvollkommenheit auskosten liess. Klingt für mich nach “Staatsschikane”, die einen weiteren Grund für die Rosion der Gesellschaft hier darstellt.
Nun werden die jungen Erwachsenen bis 25 Jahre wieder außen vor gelassen. Will man die bewußt “radikalisieren”, oder auf diese Weise das Fehlen von Facharbeiter*innen – Sagte man dazu früher nicht “angelernte Arbeiter*Innen, bzw. hatte nicht auch diese Gruppe getrennt geführt ? – kompensieren?
Ich weiß nicht, aber solche “Problemlösungen” treiben den Rechtspopulisten, die – ACHTUNG, nicht vergessen: den HartzIV-Leuten gleich gar nicht helfen wollen! – massenhaft die Leute in die Arme.
Hier wundert mich dann auch nicht mehr, wenn Bürgermeister*Innen etc. – ohne die jeweiligen Gründe bisher in den Medien richtig konkretisiert gelesen zu haben – in unzulässiger Weise angegangen werden. Ist der Mensch des Menschen Wolf, dann will sich hier künftig der Souverän vor dem Souverän schützen? Lol
Oh, mein Deutschland wo gehst du hin?
hutzelwutzel
| #
@Piedro: Meine volle Zustimmung! Aber ist es nicht so, dass wenn zwei sich streiten es immer einen lachenden Dritten gibt? ;-) Will heißen, dass unsere verehrten Mitbürger*Innen so lange nicht auf den Trichter kommen, so lange sich Arbeitstätige gegenüber nicht Arbeittätigen aufbringen lassen (wollen)? Populistisch nenne ich auch was unsere verehrte Kanzlerin gestern bei einer Arbeitgebertagung zur Grundrente von sich gab. Dass es eine Sache der Gerechtigkeit sei, dass Leute die mind. 35 Jahre gearbeitet haben mehr bekommen wie jemand der noch keine Stunde gearbeitet hat.
Was? Es gibt wirklich Leute, die noch keine Stunde gearbeitet haben?
Wie definiert sich in Deutschland mittlerweile “Arbeit”? Nur noch als “unselbständige, meist unterbezahlte und mittlerweile vielfach sogar mit Hilfe der “Gewerkschaften” ent-rechtete Tätigkeit?
Ich dachte immer, dass Arbeiter*Innen deren Leistung(sfähigkeit) und Wissen den Nachfragenden gegen Entlohnung anbieten. Keinesfalls ging ich davon aus, dass Arbeitnehmer*Innen so “dumm” sind, dass man diesen -weil die sonst ja nicht leben könnten – “gnädigerweise” Arbeit “geben” muß.
R.G.
| #
@hutzelwutzel
” Populistisch nenne ich auch was unsere verehrte Kanzlerin gestern bei einer Arbeitgebertagung zur Grundrente von sich gab. Dass es eine Sache der Gerechtigkeit sei, dass Leute die mind. 35 Jahre gearbeitet haben mehr bekommen wie jemand der noch keine Stunde gearbeitet hat.”
Wieder einmal kopiert man damit populistischen Ton bzw. Entscheidung der abgedankten österreichischen Mitte-Rechts Regierung von Kanzler Kurz und Vizekanzler Strache.
Piedro
| #
Heute kam in den Nachrichten, der Chef der Arbeitsagentur, Herr Weise, sagte in einem Interview, man würde, wegen des Urteils, für die nächsten sechs Wochen keine Sanktionen über 30% verhängen für unter 25jährige verhängen. Die aktuelle Fachliche Weisung der Agentur besagt lediglich, dass die Sanktionierbarkeit der “Kunden” hier noch nicht geprüft sei. Tage später (heute) war das Thema in der Tagesschau.
Was ich wirklich nicht verstehe: ich war ein paar Jahre außer Landes, und danach hatten Menschen unter 25 keinen Anspruch mehr auf irgendwas, weder Krankenkasse, noch ein paar Euro um wenigstens zu essen, wenn sie irgendwann mal nicht funktionieren.
Was ich noch viel weniger verstehe: ca. 50% aller Klagen gegen Jobcenterbescheide gehen zu Gunsten des Klägers aus. Andauernd. Bei rückläufiger Arbeitslosigkeit gibt es zwar weniger Klagen, aber in Relation gesehen ändert sich nichts.
Die Stellungnahmen, die das Verfassungsgericht zuvor eingeholt hat, sind öffentlich. In keiner kam die nachweisliche Überlastung der Sozialgerichte zur Sprache, aber es wurde darauf verwiesen, dass ein Teil der Sanktionen immer rechtswidrig ist. Die Sozialgerichtsbarkeit, die mit der Hartz-Reform erst geschaffen wurde (bis dahin waren Verwaltungsgerichte für das Arbeitsamt und das Sozialamt zuständig) ist längst an den Grenzen ihrer Belastbarkeit. Nur der Einsatz von Richtern auf Probe kein eigenständiges Verfahren führen dürfen, und es auch nicht tun wenn ein berufener Richter unterschreibt, gewährleistet die Abwicklung der anhängigen Verfahren. In Berlin wagte es ein Sozialrichter vor ein paar Jahren öffentlich zu beklagen, dass Verfahren von den Jobcentern provoziert und verschleppt werden. Ein “Kunde” braucht manchmal Jahre bis ein Richter entscheidet, dass alle Argumente der Beklagten unzureichend sind. Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Anträge auf Revision von Gerichten abgelehnt werden. Es gibt keine Statistik darüber, welche Kosten so verursacht werden. Aber es gibt Zahlen zum Thema “Verweiger”, leider nicht statistisch erhoben, sondern aus den Mündern von Herrn Alt und Frau von der Leyen. Dereinst sagten sie unter 5 und 2 Prozent. Der dereinst erwerbslosen “Kunden”.
Dabei spielen “Verweigerer” auch statistisch keine besondere Rolle. Die meisten Sanktionen von 30% werden wegen Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung verhängt. Die interne Prüfung durch die BA ergab, auch vor Jahren, dass 100% der geprüften Eingliederungsvereinbarungen einer rechtlichen Prüfung nicht stand hielten. Aber unterschrieben sind sie trotzdem rechtskräftig, ein Vertrag, der nie von einem Gericht aufgehoben wird. Nur gegen den Verwaltungsakt wird entschieden.
Ich rate sich auch mal mit dem Kläger zu beschäftigen. Das war keiner, der nicht arbeiten wollte, der sollte dazu gezwungen werden nicht das zu tun was er konnte und tun wollte. Es waren die Richter des Sozialgerichtes, die hier Zweifel an der aktuellen Rechtsprechung hatten und die Richtervorlage lieferten. Zweimal, weil die erste formelle Fehler hatte.
Dieses Gericht hat damit etwas getan, was allen betroffen Bürgern bisher nicht möglich war. Auch keine Partei hätte das bewirken können – oder auch nur wollen. Über die Sanktionen für U25 wurde noch nicht entschieden, weil der Kläger von deren Sanktionsparagraphen nicht betroffen war. Die Richtervorlage verlangt jedoch die Prüfung aller Sanktionen ab 30%. Dazu gehört dann auch die Totalsanktion bei U25, die in eigenen Paragraphen geregelt ist. Sanktionen von 10%, der größte Teil der Sanktionsbetroffenen, größtenteils wegen Meldeversäumnissen verhängt, sind nicht Teil des Verfahrens, darüber hat das Verfassungsgericht vor Jahren entschieden: der Bürger überlebt auch mit 10% weniger Existenzminimum, er büßt “nur” das soziokulturelle ein. Er darf die “Strafe” verbüßen ohne die Verfassung zur verletzten.
Der Bundesrechnungshof rügt seit Jahren anhaltend die Kosten für “Fördermaßnahmen”, ebenso deren Nutzen, aber ein Großteil der Sanktionen betrifft Menschen, die sich völlig sinnloser – und oft rechtswidrig zugewiesener Maßnahmen verweigern. Wenn Sie klagen bekommen sie womöglich Recht – der Bescheid war rechtswidrig, die Maßnahme war untauglich, die Mindestanforderung an die Zuweisung einer Maßnahme wurden nicht erfüllt. Aufschiebende Wirkung gibt es – anders als in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, nur auf Antrag, wenn ein Richter das bewilligt. Sonst bleibt der Bescheid gültig. Eine Klage geben eine Maßnahme ist zunächst sinnlos, weil der “Kunde” sie trotzdem antreten muss, andernfalls gilt die Sanktion bis zum Richterspruch. Dann wird der sanktionierte Anteil nachgezahlt. Oder auch nicht. Gelegentlich braucht es dafür sogar einen Gerichtsvollzieher.
Ich verstehe wirklich nicht wie es dazu kommen konnte. Aber ich kannte ja Arno Dübel auch nicht ehe ich heim ins Reich kam. Was ich live erlebte: das Recht auf Überprüfung eines Bescheides, das Sozialrecht definierte hier erstmalig eine Begrenzung, wurde von zwei Jahren auf eines reduziert. Danach kamen die „Rechtsreformen“, bei denen alle Argumente der Verbände ungehört blieben. Anders als versprochen wurde so der Verwaltungsaufwand erhöht (und damit die Kosten und der Druck auf die Sachbearbeiter) statt gemindert, die SPD verabschiedete den letzten Rest Glaubwürdigkeit, und danach Frau Nahles, die dieses Recht „vereinfacht“ hat, aber nicht deshalb.
Jetzt wissen wir: 30% vom Existenzminimum wegnehmen, nee, geht irgendwie nicht. Bald werden wir erfahren, dass man einem jungen Menschen auch nicht gleich alles wegnehmen warf. Ist schon mal nicht schlecht. Ich weiß nur als den Quellen wie es dazu kam, dass sowas überhaupt möglich wurde. Die anfänglichen Verlautbarungen hatten nichts mit der folgenden Realität zu tun. Die „Reform“ versuchte so manches, aber vor allem Kosten. Und eine Bürokratie, die Ihresgleichen sucht. Eine eigene Gerichtsbarkeit, eine Relativierung von Grundrechten, die jeder in Frage stellen sollte. Und sei es nur wegen der Kosten – und der Kosten-Nutzen-Rechnung des Bundesrechnungshofes.
Was bleibt ist die Feststellung: das Existenzminimum darf gemindert werden, weil das ja wohl jeder selbst Schuld sein wird, aber selbst der erbärmlichste Versagen soll nicht unbedingt verhungern oder auf der Straße landen. Ist doch schon mal was. So weit waren wir vor dem Urteil noch nicht.
Hallo Redaktion. Wenn das zu lang sein sollte: ich kann das gerne in zwei Teilen nachreichen.
Piedro
| #
Auch nach dem Urteil kein Moratorium für Vollsanktionen.
Wie hier schon geschrieben: der Chef des Hauses verkündete ein Aussetzen aller Sanktionen über 30%, die Bundesanstalt für Arbeit teilte lediglich mit, die Rechtmäßigkeit von Vollsanktionen U25 wären noch nicht entschieden.
Jetzt wurde in Saarbrücken eine Vollsanktion verhängt, die auch ohne das Urteil fragwürdig ist. Leider fehlen wichtige Informationen, fest steht nur:
anonymer Hinweis auf Leistungsmißbrauch eines schwer (!) kranken, andauernd krank geschriebenen “Kunden”, dann
Meldetermin, vermutlich um das zu prüfen. Meldetermine während der Krankschreibung sind grundsätzlich unzulässig, die von JC oft verlangte, zusätzliche Wegeunfähigkeitsbescheinigung ist rechtswidrig, die Arbeitesunfähigkeit reicht als wichtiger Grund nach dem Gesetz. Mir liegt das Schreiben einer Referentin des Arbeitsministeriums vor, wonach diese Bescheinigung unnötig ist (und deshalb nicht gefordert werden darf), da die Wegeunfähigkeit immanenter Bestandteil einer Arbeitsunfähigkeit sei. (Das Einzelfallurteil von 2010 greift nach geänderter Rechtsgrundlage eh nicht mehr, wird aber immer noch als Begründung angeführt, wenn solche Nachfragen überhaupt beantwortet werden.)
Die Konstellation: anonymer Hinweis, wegen Krankheit nicht zum Meldetermin gekommen reicht also schon für einen vollständigen Leistungsentzug. Wenn man das Gesetz außer acht lässt, denn das hat schon immer verlangt, dass die Gründe für eine Einstellung nachgewiesen werden müssen. Darauf hat man hier verzichtet. Zur Befragung nicht gekommen weil krank? Pech gehabt. Eine Sanktion von 10% wäre schon rechtswidrig gewesen, wegen der Krankschreibung. Eine schriftliche Stellungnahme zu den anonymen Vorwurf hat man hier offenbar gar nicht erst eingeholt und die Möglichkeit eines Leistungsentzugs genutzt. Alles hier nachzulesen: https://www.gegen-hartz.de/news/trotz-hartz-iv-urteil-jobcenter-verhaengt-totalsanktion-gegen-schwerkranken
Auch in Regensburg werden regelmäßig Wegeunfähigkeitsbescheinigungen verlangt, wenn ein Meldetermin von kranken “Kunden” abgesagt wird, der wichtige Grund nach dem Gesetz (und dem Ministerium) wird schlicht nicht anerkannt. Fragen nach der Rechtsgrundlage werden nicht – oder zumindest nicht immer – beantwortet. Gegen anfällige Sanktionen hilft dann auch kein Widerspruch, da braucht es das SG. Erst die Einstweilige Anordnung, um die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs zu erhalten, dann irgendwann ein Verfahren. Ansonsten: wieder was “gespart”.
Piedro
| #
Nachtrag, das hatte ich gerade noch nicht auf dem Schirm:
Die Linke hat reagiert und sich zu Wort gemeldet:
““Sollte sich bestätigen, dass das Jobcenter auch nach dem eindeutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den darauf folgenden Anweisungen der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesarbeitsministeriums Hartz-Leistungen komplett streicht, ist das ein Skandal und muss sofort abgestellt werden”, fordert der Linken-Abgeordnete Dennis Lander.”
Von einem Abgeordneten darf man natürlich nicht erwarten, dass er mit dem SGB vertraut ist, aber: der Skandal ist eigentlich, dass hier überhaupt die Leistung entzogen wurde, obwohl
– der wichtige Grund wegen des Meldetermins nachgewiesen war
– die mündliche Einvernahme wegen des anonymen Vorwurfs nicht nötig, sondern unzulässig war, weil das mildere Mittel eine schriftliche Anhörung war
– der Leistungsentzug rechtskoform nur möglich wäre, wenn die anonyme Anschuldigung von der Behörde nachgewiesen wurde
Der Leistungsentzug (keine Sanktion!) war widerrechtlich. Ebenso widerrechtlich wäre eine Sanktion wegen des Meldeversäumisses gewesen, obwohl die “nur” 10% des Regelsatzes ist. Das Urteil des BVG hat damit nur am Rande zu tun, aber man sieht: wenn geltendes Recht von vorn herein unberücksichtigt bleibt gilt das natürlich auch für irgendwelche Urteile des Höchstgerichtes. Der “Skandal” fängt nicht erst dann an, wenn das vorkommt.
Piedro
| #
“Rechtsexperten gehen davon aus, dass das Grundgesetz keine Unterschiede aufgrund des Alters macht. Diese Einschätzung teilt die BA nunmehr.”
Sehr beachtlich. Nach vielen Jahren teilt die BA “nunmehr” die Rechtsauffassung von “Experten”. Dazu brauchte es nur ein Sozialgericht, dass eine Richtervorlage machte, und eine Verhandlung – schon ist man der Ansicht, auch unter 25jährige hätten Anspruch auf Existenzsicherung nach der Verfassung.
Immerhin, es tut sich was. In welcher Weise muss sich noch zeigen.
“Neue Sanktionsbescheide würden momentan nicht versendet, betonte Scheele. “Arbeitslose, die aktuell mit Abzügen von 60 oder 100 Prozent sanktioniert werden, bekommen ihre Sanktionen auf 30 Prozent reduziert.””
https://www.gegen-hartz.de/news/ba-gibt-nach-vorerst-keine-verschaerften-u25-hartz-iv-sanktionen
Das stimmt vermutlich so nicht. Es werden aber “nur” noch 30% vom Existenzminimum gekürzt. Meine Vermutung: wenn dieser Sanktionszeitraum abgelaufen ist bricht der nächste an. Bei 2×30% wird der Regelsatz also keine 3 Monate um 60, sondern 6 Monate um 30% gekürzt. Das Leiden wird so gelindert, aber dafür verlängert. Aber wer weiß, vielleicht irre ich mich? Wenn nicht, vielleicht entscheidet dann in etwa 10 Jahren das Höchstgericht, dass auch das nicht im Sinne der Verfassung war?
Einen Erstattungsanspruch auf die verfassungswidrigen Sanktionen gibt es nicht. Eventuell wären Überprüfungsanträge für das Kalenderjahr 2019 möglich – und bei Ablehnung eine Klage. Dazu müsste sich ein Jurist erklären, der mit dem SGB gut vertraut ist.
Betamax
| #
Die Begeisterung über dieses Urteil kann ich nicht nachvollziehen,
wie kann man das ExistenzMINIMUM um bis zu 30% kürzen ?
Sollen die Arbeitslosen irgendetwas auf dem Flohmarkt oder im Internet verkaufen ?
Irgendwann hat man nichts mehr was man verkaufen kann.
Das noch viel größere Problem ist aber, daß ständig Unterlagen in den Jobcentern “verschwinden”, bundesweit !
Habe einige Unterlagen 2,3 oder sogar 4 mal eingereicht. Kostenerstattung wurde verweigert, immer wieder wurde sanktioniert, wegen “fehlender Mitwirkung”, obwohl ich ausnahmslos alle Unterlagen längst eingereicht hatte !
Teilweise gab ich Unterlagen unter Zeugen ab. Warum geht gegen diesen “Unterlagenschwund”, man braucht nicht viel Fantasie um von Unterlagenvernichtung zu schreiben, keine Aufsichtsbehörde, bzw. Staatsanwaltschaft vor ?