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FilmRISS: Kritik zu „Oh Boy“

Nur eine Tasse Kaffee

Im Großstadt-Film „Oh Boy” wandelt ein grandioser Tom Schilling durch die schwarz-weiß-grauen Straßen Berlins. Ein sympathischer Streifen, in dem es dankenswerterweise einmal nicht um Leben und Tod geht, sondern lediglich um eine Tasse Kaffee.

Niko (re.) “denkt nach”; mal alleine, mal in Gesellschaft. (c) X-Verleih

Berlin ist schon lange nicht mehr der dreckige Moloch, in dem zwischen Plattenbau und S-Bahnhof der Underground regiert. Stattdessen gilt die Hauptstadt heute als Dreh- und Angelpunkt einer selbsternannt alternativen Szene, die mit Hornbrillen und Umhängetaschen in Clubs und Cafés abhängt. Für die echten Berliner Originale wird die Stadt zunehmend unerschwinglich oder fühlt sich an wie eine Plastikkopie der Subkulturen, die sie abbildet.

Julika, die Rettung nach Idiotentest und zu teurem Kaffee?

Aber um Berlin geht es in „Oh Boy” eigentlich gar nicht. Und irgendwie dreht sich der Film doch um nichts anderes, obwohl im Mittelpunkt der junge Niko Fischer steht, der sein Jurastudium vor zwei Jahren abgebrochen hat und seitdem „nachdenkt”, wie er seinem zornigen Vater erklärt. Der hat ihm unterdessen das Bankkonto gesperrt. Und auch sonst läuft es für Niko nicht gut; beim „Idiotentest”, der medizinisch-psychologischen Untersuchung für die Führerscheineignung, genauso wenig wie bei der Suche nach einem bezahlbaren Kaffee. Und auch, als er seine alte Schulkameradin Julika zufällig wiedertrifft, ebnen sich seine Wege nur scheinbar. Engmaschige soziale Kontakte? Bei Niko Fehlanzeige.

Nur scheinbar der Weg in ein geordnetes Leben: Julika kann Niko nicht wirklich bändigen. (c) X-Verleih

Und das, obwohl er eine ausgeprägte Ader dafür zu haben scheint, wie sich im Verlauf des Films herausstellt. So trifft er immer wieder auf Existenzen, die genauso wie er am modernen Berlin zu scheitern drohen. Von der gutgläubigen Rentnerin, die lächelnd die Wände anstarrt, während ihr Enkel im Nebenzimmer Drogen vertickt, bis zum schrulligen Fahrkartenkontrolleur-Duo, das irgendwie keinen Sinn in seiner Arbeit entdeckt und sie trotzdem so gewissenhaft wie möglich macht – Niko lässt sich auf sie alle ein. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Meistens weniger.

Arabica oder Columbia statt Leben und Tod

Dass Regisseur und Autor Jan Ole Gerster mit „Oh Boy“ ein so großartiger Wurf gelungen ist, hat zahlreiche Gründe. Der augenscheinlichste ist die großartige Besetzung des Films. Nicht nur Tom Schilling verkörpert seinen Part mit grandioser Selbstverständlichkeit; fast bis zur kleinsten Nebenrolle ist „Oh Boy” brillant gecastet. Das spiegelt sich wider in einer tollen Inszenierung, die leichtfüßig und beschwingt daherkommt, wie in letzter Zeit selten im deutschsprachigen Kino gesehen. Gersters Streifen hängt keineswegs die Kopflastigkeit an, die man ob des sehr nihilistisch-verkünstlerten Plots erwarten könnte; „Oh Boy” erinnert eher an Eduscho-Romantik à la Helge Schneider als an schwerverdauliche Kinokost. Es steht dem Film, dass Niko keine Entscheidung zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nichtsein fällen muss, sondern lediglich zwischen Kaffee Arabica und Columbia Morning.

Hinter der Coffeeshop und Spiegelreflex

Und so sehr sich „Oh Boy” auch von mächtigen Berliner Bildern und pseudoauthentischen Szene-In-Views abkoppelt, so wenig wäre der Film ohne den stets präsenten Hintergrund der Großstadt denkbar. Wer ein Gefühl für das Berlin bekommen will, das hinter schwäbelnden Coffeeshop-Betreiberinnen und spiegelreflexbewaffneten Alexanderplatz-Touristen liegt, muss nur Gersters Film sehen. Die 85 Minuten Laufzeit sind nämlich auch im Hinblick auf das Stadtbild informativer, spannender, nachdenklicher, unterhaltsamer und unvergesslicher als jede Guided Tour es je sein könnte.

Im Hintergrund die Großstadt. (c) X-Verleih

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So setzt dann auch der Höhepunkt von „Oh Boy” ganz wenig auf Effekthascherei. Er ist klein. So klein, dass man ihn fast übersieht. Er besteht aus einer Tasse heißen Kaffees. Zumindest diese eine Episode hat für Niko also ein positives Ende. Wie es mit den anderen aussieht? Mit Julika, die zwischen sexueller Explosion und völlig gestörtem Verhältnis zu ihrem Körper hin- und herpendelt? Mit seinem Vater, der ihn auf dem Golfplatz auflaufen lässt, oder mit dem Urberliner, der 60 Jahre weg von seiner Heimatstadt war und sich in der modernen Metropole nicht mehr zurecht findet? Die Antwort kennen nur die Straßen, die S-Bahnen, die besprühten Hauswände und die Altbauten Berlins. Niko eher weniger.

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Kommentare (2)

  • Ulrike Pflaumer

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    Schon beim lesen dieses Berichtes bekommt man Lust diesen Film zu sehen. Eine Stadt hat viele Gesichter das kann eines davon sein.
    Grüsse Ulrike

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  • Jürgen Huber

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    Gute Rezension.

    Und: Noch besserer Film! Unbedingt hingehen und anschauen, denn so einen lakonischen Streifen sieht man nicht oft in unserer “hippster-guided-time”. Berlin wird natürlich schon gezeigt, oft verwischt, vorbeihuschend, immer die Hochbahn im Hintergrund, Kreuzberg, Neukölln Mitte, schon auch die Stadtikonen der Szene, aber das ist eigentlich egal, denn der Zustand des Nachdenkens ohne daraus folgende Handlung ist es, was anmacht, den ganzen Film lang. Ja – es geht, man kann auch mal nachdenken ohne ein Selbstoptimierungsprogramm davon abzuleiten. Superfilm. Danke für die Besprechung.

    p.s. was ist aber bitte “verkünstlert”?

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