Next-Level-Aufs-Maul
The Hirsch Effekt haben schon wieder eine eigentlich unbeschreibliche Platte aufgenommen. Wir versuchen trotzdem unser Glück.
Gab es bislang nie, gibt es nicht und wird es auch nie geben: Eine Band, die man vorzüglicher zum Feindbild stilisieren kann als The Hirsch Effekt, diese Post-Everything-Streber aus der Stadt der Standardsprache. Diese ekelhaft versierten Typen, die einen dreifachen Rückwärtssalto samt Rittberger vom Verstärker machen könnten, ohne dass nur eine einzige Note verrutscht und dann auch noch die Frechheit besitzen, ihrem jüngsten Album einen altgriechischen – Alter, ey! – Titel zu verpassen. Jede Faser der Körper in der holzvertäfelten, immer noch verrauchten Kneipe in – sagen wir mal – Niedermenach will sich da doch mit Nachdruck aufstellen und dem Trio mal ordentlich die völlig unreflektierte und genau deshalb umso wichtigere Meinung geigen.
All diejenigen, für die Musik schon auch gerne mal komplexer als ein Butterbrot sein darf, freuen sich hingegen diebisch auf Holon : Agnosie, den Abschluss der Holon-Trilogie. Und stellen schon nach wenigen Metern erschrocken fest: The Hirsch Effekt haben das Orchester rausgeworfen. Und damit gleichzeitig diese eigenartige Form von Pathos, die Stücke wie Agitation so ausgezeichnet hat. Und auch sonst sind die Klippen, aus denen Album Nummer drei gehauen wurde, wieder schrofferer Natur als noch zuletzt auf der bisweilen fast eingängigen Holon : Anamnesis. Was glücklicherweise noch lange nicht bedeutet, dass hier nur dumpf gebolzt wird. Im Gegenteil, Simurgh nimmt sich genüsslich eine halbe Minute Zeit, bevor es überhaupt den ersten Akkord ins Dunkel flirren lässt. Der dann auch gemeinsam mit den würdevollsten Bläsern, die die Hölle gerade entbehren konnte, die Spannung bis knapp vor die Schmerzgrenze anschwellen lässt. Im Hintergrund deuten fieseste Shouts den folgenden Wahnsinn schon an und doch bleibt der Song auch in seinen lautesten Sekunden an der Kette.
Und auch wenn Jayus die Schraube noch mal merklich fester dreht: Sobald The Hirsch Effekt ernst machen und mal so richtig kompromisslos losmetern, ist man doch trotz bester Vorbereitung völlig überwältigt. Allein die Präzision, mit der man hier aufs Maul bekommt verdient höchste Bewunderung. Von der Tatsache, dass Holon : Agnosie selbst in seinen vordergründig konfusesten Momenten noch immer von einer deutlich wahrnehmbaren Struktur zusammen gehalten wird, ganz zu schweigen. Man höre nur Agnosie, das nach entfesselten Growls aus dem Nichts plötzlich eine kristallklare Melodie raushaut, ein paar Haken schlägt und schließlich wieder von dannen zieht. Um Platz zu machen, für Bezoar, das ausprobieren darf, wie viel Grindcore der Sound dieser Band verträgt, bevor es im angejazzten freien Fall in eine Spoken-Word-Passage geht: “Tja der Mensch, wir sind schon unser größter Feind. Aber mal ganz ehrlich: Sind wir nicht auch unser größter Fan? Und haben wir nicht schon so viel zusammen erlebt? Und sollten wir jetzt, da es ohnehin zu Ende geht, tatsächlich noch irgendwas ändern?” Fragt Sänger Nils Wittrock da pointiert und lässt seine Hörer_innen im Anschluss mit einer zynischen Feelgood-Gitarrenfigur und dem obligaten Gebretter allein.
Und dann ist es plötzlich still, verziehen sich alle Ablenkungsmanöver. Tombeau tritt ins Freie und verhandelt das Thema Tod zu fragilen Klaviertönen in einer Intensität, die man so erst einmal ersinnen und vor allem aushalten muss. Ein Song, der bleischwer in der Magengrube liegen bleibt, der verdaut werden will. Als Verschnaufpause gibt sich dann dementsprechend das schrammelige Akustikintermezzo [Defeatist], bevor Fixum dem Wahnsinn Tür und Tor öffnet. Und dann doch wieder eine geradezu kathartische Melodieführung präsentiert.
Melodie ist ohnehin ein Stichwort, das Holon : Agnosie umtreibt, bietet es doch trotz der harten Gangart immer wieder Anhalts- und Fixpunkte, an denen man sich auch in rauester See durch die Platte hangeln kann. Gerne auch mal in Form eines kompletten Songs, wie mit dem furiosen Athesie geschehen, das im Bandkontext locker als Popsong durchgehen dürfte. Auch das abschließende Cotard geizt nicht mit versöhnlichen Momenten, beschließt das Album dann aber doch mit – wie passend – dem Gefühl völliger Ungewissheit. Holon : Agnosie stellt dar, was zu erwarten war: Einen mehr als würdigen Abschluss dieser im besten Sinne völlig übergeschnappten Trilogie. Das man dabei auf Leuttürme wie Ligaphob oder Mara verzichten muss, nimmt man ob des wunderbar intensiven Gesamtbildes gerne in Kauf. Darauf ein Butterbrot!
Wertung: 8/10
Anspieltipps: Bezoar, Tombeau, Athesie, Cotard
The Hirsch Effekt – Holon : Agnosie | Long Branch/SPV | VÖ: 24.04.2015 | CD/LP/Digital
Drum
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Am 07.10.15 live in der Alten Mälzerei!!! Hellyeah!!
onki
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Respekt an Martin, ein wahrlich wortgewaltiger Beitrag die Götter zu besänftigen! ;-)
Danke und mehr davon!