20 Aug2012
Neuauflage eines Klassikers: Die „Regensburgische Chronik“
Die „Regensburgische Chronik“ von Carl Theodor Gemeiner erscheint in neuer Bearbeitung.
Carl Theodor Gemeiner lebte von 1756 bis 1823 als Bürger Regensburgs, in einer Zeit, die geprägt war „von wirtschaftlichem Niedergang auf der einen und blühender Gelehrsamkeit auf der anderen Seite“, wie es in der Einleitung heißt (S. 11). Er fand seine Berufung 1782, als er eine Stelle als Archivar und Bibliothekar der Reichsstadt antrat, die er bis zu seinem Tod innehatte.
Gemeiner ordnete und katalogisierte gewaltige Mengen an Urkunden und Aufzeichnungen, die heute größtenteils verloren sind, und als wichtigste Frucht seiner Arbeit erschienen ab 1800 vier Bände seiner „Regensburgischen Chronik“. Er konnte die geplanten sechs Bände allerdings nicht fertigstellen, da er während der Arbeit am vierten Band, der 1824 posthum erschien, plötzlich verstarb. Aber auch so ist die Chronik eine einzigartige Sammlung von Fakten, Begebenheiten und Details zur Geschichte Regensburgs.
Der Regensburger Historiker Nikolai Löwenkamp hat sich der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, das Werk Gemeiners zeitgemäß aufzubereiten und mit Fußnoten zu versehen (teils zur Erklärung altertümlicher Ausdrücke, aber auch zur Korrektur des ein oder anderen sachlichen Irrtums). Soeben ist eine illustrierte und kommentierte Auswahl erschienen, die im Wesentlichen das mittelalterliche Regensburg beschreibt, von der Ankunft des heiligen Emmeram Mitte des 7. Jahrhunderts bis zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung und der Wallfahrt zur Schönen Maria im 16. Jahrhundert.
„Der Gemeiner“ war und ist ein Grundlagenwerk der Regensburger Geschichte. Er wird nach wie vor gebraucht, weil er so viele Details enthält, die niemand sonst mit so immensem Fleiß gesammelt hat. Wenn sich das Werk auch nicht gerade wie ein Roman von Anfang bis Ende spannend liest, so ist es doch zum Nachschlagen und zum Finden schöner Anekdoten aus der Regensburger Geschichte bestens geeignet.
Nikolai Löwenkamp (Hrsg.): Regensburg – Chronik einer mittelalterlichen Stadt. Eine Auswahl aus Carl Th. Gemeiners „Regensburgischer Chronik“. Verlag N. Löwenkamp, Regensburg, 448 Seiten inkl. Anhang.
Robert Werner
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Die Regensburgische Chronik ein Grundlagenwerk der Regensburger Geschichte, ein Klassiker, der sich wie ein spannender Roman liest? Sicher.
Was die Rezensentin leider außen vor lässt und Nikolai Löwenkamp in seiner Einführung nur kurz andeutet, ist Carl Theodor Gemeiners Judenfeindlichkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Werk verläuft.
Wie kein zweiter moderner „Chronist“ hat Gemeiner die Regensburger Stadtgeschichte aus der Warte und mit Hilfe von abgrundtiefer Judenfeinschaft geschrieben.
Die jüdischen Historiker Moritz Stern und Raphael Straus haben viele Jahre ihres Forscherleben – vor der NS-Zeit – dafür gegeben, um Gemeiners von Judenhass geprägtes Werk zu hinterfragen bzw. mit eigenen Forschungen zu widerlegen. In Regensburg ist dies kaum bekannt. Im Gegenteil sein Nachfolger im Stadtarchiv, Heinrich Wanderwitz, hat sich in bestimmten Aspekten ganz in die antijüdische Tradition seines Vorgängers Carl Theodor Gemeiner gestellt.
So zum Beispiel in den Fragen zum sogenannten „Ritualmordprozess“, während dem der Regensburger Magistrat im Jahr 1476 siebzehn Regenburger Juden inhaftieren und foltern ließ. Der Vorwurf: rituelles Töten von vier Knaben zur Gewinnung von Christenblut. Nach vielen Interventionen von Kaiser Friedrich musste der Stadtrat die Gefangenen unter Zahlung horrender Lösegelder im Jahr 1480 freilassen. Die jüdische Gemeinde war daraufhin wirtschaftlich ruiniert.
Wanderwitz wiederholte im Jahr 2010 in einem Aufsatz zur vielgerühmten Furtmeyer-Ausstellung in wichtigen Punkten die judenfeindliche Sicht Gemeiners bzw. des Magistrats als Träger des Folterprozesses (1476-1480). Der Stadtarchivar suggeriert dabei, dass die rituelle Ermordung von „verschiedene[n] Kinder[n]“ durch die damals angeklagten Juden eine historisch belegbare Tatsache sei. Gemeiner meinte seinerzeit sogar, dass die Reste der angeblichen Ritualmordopfer, dass die „Gebeine in einigen alten Gefäßen auf dem Rathaus noch vorhanden sind.“ Liest sich wie ein spannender Roman, oder?
Nikolai Löwenkamp
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Gemeiner ein notorischer Antisemit?
Zunächst einmal sei darauf hingewiesen, dass die angesprochene Stelle (Ritualmord-Prozess 1476) in dem hier vorgestellten Buch selbstverständlich entsprechend kommentiert ist.
Was man Carl Th. Gemeiner in der Tat vorwerfen kann, ist sein bisweilen unkritischer Umgang mit den Quellen, der nicht den Maßstäben der modernen Geschichtswissenschaft entspricht – Maßstäben, die zu seinen Lebzeiten allerdings auch erst entwickelt wurden. Besonders deutlich wird diese mangelnde Distanz zu den Quellen tatsächlich bei seiner Darstellung des angesprochenen Ritualmord-Prozesses, wo er die Angaben der ihm zur Verfügung stehenden städtischen Akten und damit den absurden Vorwurf des Ritualmordes unkritisch übernimmt.
Wie man daraus ernsthaft einen Antisemitismus-Vorwurf konstruieren oder hier gar „abgrundtiefe Judenfeindschaft“ erkennen kann, ist mir allerdings schleierhaft – das machen übrigens auch die angesprochenen jüdischen Historiker Stern und Straus nicht.
Gemeiner ist eben kein Historiker im modernen Sinn. Um sein Werk würdigen zu können, empfiehlt es sich, ihn an seinen eigenen, in der Vorrede zum 1. Band der „Chronik“ formulierten Maßstäben zu messen: „Ich spreche mir kein groeßeres Verdienst zu, als daß ich Materialien zu einer Geschichte meiner Vaterstadt mit Sorgfalt und Fleiß gesammelt, und einem kuenftigen Geschichtsschreiber von mehr Geist und Faehigkeiten zu den mir ausschließlich bekannten und vorhin unter Riegeln gehaltenen Quellen gefuehrt und ihm dieselben gezeigt habe.“
So verstanden, ist seine „Regensburgische Chronik“ in der Tat eine einzigartige Sammlung von Fakten und Geschehnissen der Regensburger Geschichte – so wie diese in den ihm zugänglichen Quellen, d.h. in den im Archiv der Stadt aufbewahrten Urkunden, überliefert wurden.
Robert Werner
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Werter Herr Löwenkamp,
vielen Dank für ihre Ausführungen, denen ich nur zum Teil zustimmen kann.
Ich habe bewusst nicht von Gemeiner als „Antisemiten“, sondern von Judenfeindschaft und Judenhass gesprochen.
Gemeiner wurde, als er Anfang des 19. Jahrhunderts scharf gegen die Gewährung der bürgerlichen Rechte für die Regensburger Juden votierte, von einem jüdischen Zeitgenossen attestiert, dass er eine Gesinnung habe, wie sie „einem spanischen Großinquisitor vor dreihundert Jahren würde Ehre gemacht haben“.
Sie, Herr Löwenkamp, hingegen verteidigen Gemeiner auf eine eigenartige Weise gegen einen nicht erhobenen „Antisemitismus-Vorwurf“. Dies ist deshalb insbesondere irritierend, da Sie sich in der Einleitung ihrer Publikation bzgl. Gemeiners Darstellung des Ritualmord-Prozesses auf meinen Aufsatz „Die Regensburger Ritualmordbeschuldigungen“ (VHVO 150) knapp beziehen.
Gemeiner übernimmt in seiner Chronik nicht aus „mangelnde(r) Distanz zu den Quellen“ den „absurden Vorwurf des Ritualmordes unkritisch“, wie sie meinen. Er macht sich ihn zu Eigen und schmückt ihn mit Judenhass aus. Er spricht diesbezüglich, von „von einer „Gewissheit des Faktums an und für sich“.
Gemeiner behauptet des Weiteren, dass die ritualmordenden Juden „geglaubt hatten, ein Gottgefälliges Werk zu thun, wenn sie den Stifter unserer geheiligten Religion, das Jesuskind, in der Person eines Christenkindes höhnten und verspotteten“. Gemeiner redet von den Juden als „Unmenschen“, die es angeblich auf Christenkinder, auf die „unschuldigen Opfer des Christenhasses“, abgesehen haben und schreibt den Juden damit die Wiederholung von „Gottesmord“ zu.
All dies hat ursächlich nichts mit fehlender Quellendistanz eines unmodernen Historikers zu tun, sondern mit der religiös motivierten, wahnhaften Judenfeindschaft des evangelischen Theologen Gemeiner.
Nikolai Löwenkamp
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Sehr geehrter Herr Werner,
zunächst eine Frage zum Verständnis: Wo genau sehen Sie in diesem Kontext den Unterschied zwischen Antisemitismus und Judenfeindschaft?
Auf Ihren Aufsatz im VHVO 150 verweise ich übrigens im Zusammenhang mit weiteren Einzelheiten des Prozesses gegen die des Ritualmords beschuldigten Regensburger Juden sowie mit dem vorhergehenden Geschehen in Trient. Nicht aber im Bezug auf den Vorwurf „abgrundtiefer Judenfeindschaft“, den Sie an dieser Stelle ja auch gar nicht erheben.
Vielmehr schreiben Sie, Gemeiner „weiß nicht zwischen antijüdischer Ritualmordlegende und historisch überprüfbaren Sachverhalten zu unterscheiden“ (S. 96 oben). So formuliert, stimme ich vollkommen mit Ihnen überein – er nimmt die Überlieferung für bare Münze, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Daraus aber den Vorwurf notorischen Judenhasses abzuleiten, geht meiner Ansicht nach zu weit.
Sehr aufschlussreich dagegen ist Ihr Hinweis auf Gemeiners Haltung zur Gewährung der Bürgerrechte für die Regensburger Juden. Hier wäre allerdings eine Angabe der Quelle, aus der Sie Ihre Information beziehen, interessant.
Robert Werner
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@ N.L.
Das Zitat stammt von Phillip Reichenberger, zitiert nach Hermann Hage: Der Regensburger Stadtarchivar und – bibliothekar Carl Theodor Gemeiner, in: „Stadt und Mutter in Israel“. Jüdische Geschichte und Kultur in Regensburg, hg. von Stadt Regensburg, Regensburg 1996, S. 190 (ursprünglich zitiert nach Isaak Meyer, Zur Geschichte der Juden in Regensburg (Gedenkschrift zum Jahrestage der Einweihung der neuen Synagoge; nach handschriftlichen und gedruckten Quellen), Berlin 1913, S. 62).
Nikolai Löwenkamp
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Zunächst einmal vielen Dank für den Hinweis.
Bei dem angeführten Zitat handelt es sich zwar um den polemisch formulierten Ausspruch eines politischen Gegners, den man dementsprechend auch nicht zu wörtlich nehmen sollte, dennoch wäre es wohl interessant, das seltsam ambivalente Verhältnis Gemeiners gegenüber Juden einmal in einem eigenen Text eingehend zu analysieren.
norbert e. wirner
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ich kann das büchl empfehlen und werde es auch anderweitig tun.
für mich ist das ein verdauliches konzentrat vieler hundert jahre regensburger geschichte. und spannend ist es auch. wenn man eine ader dafür besitzt.
verdaulich in dem sinne, dass endlich einmal diese ganzen fragmente chronologisch geordnet in unserer heutigen sprache erfassbar präsentiert werden.
ja, gut… es ist “nur” des herrn gmeiners sicht und handschrift alsda formulierung und organisation der berichte.
der war so wie er war und heute wäre er anders. oder auch nicht. aber er hat uns ganz schön was hinterlassen.
jedenfalls, ich mags, was ich da lese.
wenn ich nur daran denke, dass einmal fuhrwerkweise dokumente zum lumpensammler geschafft wurden…
raah!
wenigstens das, was herr löwenkamp hier zusammentragen und in form bringen konnte, das bleibt vielleicht für einen vergleichsweise kurzen moment in unserem bewusstsein erhalten und hofft darauf, in 300 jahren wiederentdeckt und dem publikum jener zeit in seiner dann herrschenden begrifflichkeit von nachfolgern des herrn löwenkamp ebenso wie uns nahegebracht zu werden.