Nagel im Mälze-Underground
Mittwochabend, Regen in Regensburg. Der Anarchoautor (dazu später mehr) Nagel ist auch da. Der frühere Sänger, Gitarrist und Texter der vor fast auf den Tag genau fünf Jahren aufgelösten Muff Potter und derzeitige Kopf der Band NAGEL, ist zu einer Lesung mit dem Titel „Vielen Dank für die Blümeranz“ in den Mälze-Underground gekommen. Denn Nagel, auch wenn die Muff-Potter-Referenz recht inflationär genannt wird, ist nicht ausschließlich Musiker. Auch als bildender Künstler und vor allem als Autor hat er so manches vorzuweisen. Seine Druckserie „Raucher“ zum Beispiel oder eben zwei Bücher („Wo die wilden Maden graben“ und „Was kostet die Welt“), die er bis dato veröffentlicht hat. Das dritte mit dem etwas seltsamen Namen „Drive-By Shots“ wird im März 2015 folgen.
Aus diesem noch unveröffentlichten Buch hat Nagel fünf Texte mitgebracht, die er nicht nur vorliest, sondern zusätzlich mit zahlreichen Anekdoten versieht. Drive-By Shots, so viel kann man sich selbst zusammenreimen, wird eine Art Reisebuch mit autobiographischen Reflexionen über Aufenthalte, Eindrücke, Menschen und ja, allerlei Erlebnisse, die dem umtriebigen Münsteraner (mittlerweile – natürlich – Berliner) auf seinen zahlreichen Reisen begegnen. Es ist davon auszugehen, dass man es bei seinen aktuellen Werken mit relativ wenig Fiktionalität zu tun hat. Denn Nagel, Manuskriptmappe, Mikro, MacBook, Leselampe und Weißwein, an dem er nur gelegentlich nippt, vor sich, hat nebst den tagebuch-mäßigen Schilderungen auch viele Fotos mitgebracht, die zumeist – und das verrät sogleich die erste Erzählung – mit einer geschenkten Nikon-Spiegelreflexkamera geschossen sind. Eine Kunststudentin mit offensichtlichem „Hau“ habe sie ihm samt Speicherkarte in Vancouver geschenkt oder vielmehr gegen seine alte Polaroid getauscht. Klingt komisch? Allerdings. Doch ist das noch nicht einmal das komischste an dieser komischen Geschichte. Wie, so vermutet Nagel, alle Lebensbereiche der jungen Frau war auch ihre, nun seine Kamera vollgepackt mit Unrat. Eine „Messie-Kamera“. Fast 800 unscharfe Bilder mit völlig wahllosen Motiven, oft aus Bus oder Bahn durch die Scheibe fotografiert. Drive-By Shots eben.
Nagel muss das stark inspiriert haben. Die Nikon ist zu einem Beobachtungswerkzeug für ihn geworden, das er nicht etwa gerne auf Wahrzeichen, Sehenswürdigkeiten und all die klassischen Urlaubsmotive richtet, sondern lieber auf Menschen, die sich in genau diesen fotografischen Situationen befinden. Posierende Touristinnen auf der Jagd nach den immer gleichen Fotos. Tempelberg in Jerusalem, die Ruinen von Angkor in Kambodscha, The Southernmost Point auf Key West, die Barrikaden auf dem Maidan. Die Leute stehen Schlange, um ihre Lieben für immer auf der Digitalkamera vor den Trümmern oder Sehnsüchten der Menschheit zu verewigen. Nagel schmunzelt verwundert und hält einfach drauf.
…die schottischen Jungesellinnen in Bikinishirts
Oft fallen ihm dabei erst im Nachhinein Kleinigkeiten und Kuriositäten auf, die seine Reiseerinnerungen und Anekdoten prägen. Im Laufe des Abends gibt es solcherlei Erlebnisse und Beobachtungen aus (wie bereits erwähnt) Vancouver, Wien, New Orleans, Istanbul und Gießen. Man hat stets den Eindruck, dass Nagel nicht explizit nach Geschichten sucht. Er gerät vielmehr irgendwie hinein, zufällig, unvorbereitet und doch mit großer Auffassungs- und Beobachtungsgabe. Er weiß Situationen zu meistern und immer bleibt etwas hängen, das ihn nachhaltig beschäftigt. Er schreibt es auf. Menschen begegnet er dabei immer respektvoll, manchmal geradezu liebevoll, nicht ohne sich über ihre Eigenheiten zu amüsieren. Er will sie allerdings verstehen, die Gründe ihres Tuns ergründen. Auch will er sich selbst verstehen. Sein Handeln und Verhalten, seine Begegnungen und Entschlüsse sind ihm manchmal fremder und rätselhafter als die der schottischen Jungesellinnen in Bikinishirts oder des Diebes im Eichhörnchenkostüm in Kiew auf seinen Nikon-Bildern. Die einen gehen shoppen, der andere klaut sich Geld zum Shoppen. Was aber bedeutet das für Nagel mit seiner Nikon in der Hand und dem Notizbuch unterm Arm?
Die knapp 30 Zuhörerinnen und Zuhörer begegnen Anarcho-Punks und (fast) Amy Winehouse in Istanbul, einer (scheinbar) liebeshungrigen Frau in New Orleans, seltsam mitteilungsbedürftigen Sprayern überall auf der Welt, einer fundamentalistischen Christengruppe in Gießen, die Instrumental-Musik für eine größere Sünde hält als Selbstbefriedigung (oder doch umgekehrt?). Die knapp zwei Stunden mit Nagel sind kurzweilig, amüsant und gewähren letztlich einen erkenntnisreichen Einblick in das Leben und Denken des Anarchoautors.
Moment, Anarchoautor? Da wäre ja noch das Sammelsurium an Ankündigungen und Berichten über Nagels Lesetouren, das er zu Beginn der Lesung eröffnet. Ja, was ihm dabei nicht alles angedichtet wird. Da wird er schon Mal als Nagel 2000 oder …But-Alive-Sänger, als Nagelsen, Vogel, Messer oder eben Anarchoautor angekündigt und bezeichnet. Ob es das „Herr Nagel“ als Punker in NagelNadelstreifen der Mittelbayerischen Zeitung auch in diese Sammlung schafft? Es könnte gut sein. Für uns bleibt dann Nagel doch einfach der Hammer.
Der Artikel erschien zunächst bei heartcooksbrain.
peter
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wie immer wenn auf diesem portal die mittelmässige erwähnt wird (..nadelstreifen…), muss ich über diese schülerzeitung schmunzeln…
zitat:
Weil sich aber die Quatsch-Alliteration so geschmeidig anhört wie ein Bestsellerbuchtitel, hat die Wendung “Neonazis in Nadelstreifen” sogar international Karriere gemacht, der “Guardian” schrieb in nochmaliger, noch falscherer Verdichtung über “pinstriped nazis”…
aus:
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-pegida-der-latenznazi-a-1008971.html