Mit Freude auf Abwegen
Seit Donnerstag läuft die 34. Regensburger Stummfilmwoche. Die Veranstaltungsreihe eignet sich als Prüfstein für die eigene Medienkompetenz.
„Wir wollten unsere Gäste keinem Rheumarisiko aussetzen“, scherzt Nicole Litzel. Die Hauptorganisatorin der Regensburger Stummfilmwoche steht vor der Leinwand, die diesmal nicht wie bei der Veranstaltungsreihe üblich im Klosterhof des Historischen Museums, sondern im Leeren Beutel aufgebaut ist.
Das Wetter am Freitagabend ist eigentlich gut, die Regenwolken haben sich verzogen. „Der Klosterhof ist aber immer noch ziemlich klamm“, sagt Litzel, und die Projektion dauere heute immerhin über zwei Stunden. „Wir sind auch gern im Leeren Beutel. Die Stimmung ist hier eine ganz andere, die Leute sind viel konzentrierter.“
Gezeigt wird am Freitag „Abwege“, ein später Klassiker der Stummfilmära von G. W. Pabst mit der vor allem aus „Metropolis“ bekannten Brigitte Helm in der Hauptrolle. Der Film erzählt die Geschichte der Irene Beck, Frau eines wohlhabenden, aber allzu arbeitswütigen Rechtsanwalts.
Die Ignoranz ihres Mannes (Gustav Diesel) treibt sie aus ihrem goldenen Käfig mitten ins wilde Berliner Nachtleben der späten 20er Jahre. Mehr und mehr entfremdet sich das Paar. Als die Ehe vollends zerstört ist, findet die reumütige Irene letztlich doch zurück zu Thomas – scheinbar überzeugt, bei ihm nun doch ihr Glück zu finden.
Festival zeigt Film als 35mm-Kopie
Pabsts Filmdrama, das im Leeren Beutel stilecht als 35mm-Archivkopie auf einem alten Projektor vorgeführt wird, wird vor allem aufgrund seines Einblicks in die damalige „feine“ Gesellschaft zwischen Nachtclub und Dienstzimmer geschätzt. Es ist aber auch die erstaunlich moderne Inszenierung einer zugegebenermaßen von angestaubten Rollenbildern geprägten Geschichte, die „Abwege“ trotz seines Alters noch heute sehenswert macht. Von der Kameraführung über den Schnitt bis hin zur Lichtsetzung ist der Film näher an heute noch stark rezipierten Klassikern der 50er und 60er Jahre als an vielen zeitgenössischen Werken.
Und doch ist es eine besondere Art der Filmvorstellung, der die zahlreichen Zuschauer im Leeren Beutel beiwohnen. In einer Zeit, in der es an Kompetenz im Umgang mit Medien allenthalben fehlt, obwohl deren Bedeutung und Tragweite vielleicht nie größer war, ist der Besuch einer authentischen Stummfilmvorführung fast schon ein Prüfstein für die eigene Rezeptionsfähigkeit.
Keine kreativen Retro-Stilmittel
Da sind die vielen Schwarzpausen, die die Filmhandlung immer wieder unterbrechen und nach denen das Bild auf der Leinwand neu justiert werden muss. Dann der Rollenwechsel in der Mitte des Films, der den Zeitpunkt der Vorstellungspause vorgibt. Da ist natürlich die – von Rainer Johannes Hofmann vorzüglich angelegte und mit viel Ausdrucksstärke am Flügel vorgetragene – musikalische Live-Begleitung, die durch ihre Tempi- und Tonartenwechsel mindestens genauso viel Sinn stiftet wie das Bild, dessen optische Makel hier nicht kreatives Retro-Stilmittel, sondern Mahnmale des historischen Werts von „Abwege“ sind. Nicht zuletzt ist da aber auch die Darstellung von Brigitte Helm und dem restlichen Schauspielensemble, die aus heutiger Sicht eher befremdlich denn authentisch wirkt.
Eine andere Art von Filmgenuss
All das schafft eine Distanz zum Gesehenen, die man als Zuschauer erst einmal innerlich überbrücken muss, damit der Film seinen eigentlichen Mehrwert voll entfaltet. Das mag selbstverständlich klingen, ist aber ein wesentlicher Unterschied zum aktuellen 3D-Sommerblockbuster, der dank viel technischem Bohei die erforderliche Medienkompetenz der Zuschauer auf das Minimum reduziert, seine Zielgruppe gleichzeitig maximiert. Das wertet den modernen Unterhaltungsfilm keineswegs grundsätzlich ab. Aber es hat eben auch seinen Wert, sich auf mediale „Abwege“ wie den in die Stummfilmära zu begeben.
Kurzfilm über Donaufahrt eröffnet den Abend
So ist der Abend im Leeren Beutel, dessen Auftakt ein auf dem Flohmarkt gefundener 16mm-Kurzfilm über eine Donaureise (mit Station in Regensburg) macht, mehr als ein Genuss für Auge und Ohr. Es ist – wie die Regensburger Stummfilmwoche an sich – auch ein Paradebeispiel für Kunst und Kultur, die ein gewisses Maß an Rezeptions- und Abstraktionsfähigkeit voraussetzt und dennoch (oder gerade deshalb?) Spaß macht.
Und auch wenn man meinen könnte, die schon zum 34. Mal stattfindende Veranstaltungsreihe sei deshalb vor allem etwas für ältere Semester: Das Publikum im Leeren Beutel ist bunt durchmischt, der Altersdurchschnitt dürfte bei vielleicht 35 oder 40 Jahren liegen. Das passt auch zu Nicole Litzels Eingangsstatement: Rheuma kriegen eben nicht nur alte Leute.
Die 34. Regensburger Stummfilmwoche findet noch bis zum 14. August statt. Mehr zum Programm unter http://www.filmgalerie.de/index.php?page=94.