Mario Dieringer pflanzt Bäume im Gedenken an Suizidopfer
Seit über zwei Jahren ist Mario Dieringer zu Fuß durch Deutschland unterwegs und pflanzt Bäume der Erinnerung für an Suizid Verstorbene. Dieringer und der von ihm ins Leben gerufene Verein Trees of Memory wollen den Hinterbliebenen eine Stütze bieten. Doch Dieringers Reise um die Welt ist auch zu einer Art Selbstfindungsreise nach der schwersten Zeit seines Lebens geworden.
Zusammen mit seinem Hund Tyrion hat es sich Mario Dieringer für ein paar Tage auf einem Campingplatz in Blaibach in der östlichen Oberpfalz eingerichtet, als wir mit ihm telefonieren. Bereits über 3.500 Kilometer ist er mittlerweile gelaufen. Nach einer coronabedingt etwas längeren Winterpause ist er seit Juni wieder unterwegs auf seinem Weg zu Hinterbliebenen von Suizidenten. Unter anderem über Regensburg und Nittendorf ging es zuletzt durch den Landkreis Cham und aktuell über Passau Richtung Südbayern. Sein Weg führt ihn seit nunmehr zwei Jahren durch ganz Deutschland. Wohin, das hängt von den Baumbestellungen ab. Denn Dieringer pflanzt – gegen eine Aufwandsentschädigung – Bäume der Erinnerung. „Jeder Baum steht für einen Menschen, der es nicht geschafft hat, weiterhin eine lohnende Perspektive im Leben sehen zu können und im Suizid den Ausweg aus dem Leiden suchte, obwohl er eigentlich leben wollte“, so Dieringer.
Den Hinterbliebenen sollen die Pflanzen als Erinnerung dienen. Aber auch eine Art Mahnmal sein für ein Thema, das laut dem früheren Fernsehjournalisten leider noch immer zu wenig Aufmerksamkeit erfahre. „Suizide sind keine freie Entscheidung.“ Deshalb lehnt er Begriffe wie Freitod und Selbstmord auch strikt ab. Meist stecke eine tiefe Depression dahinter, die behandelt werden kann. „Es geht darum, neue Hoffnung zu schöpfen und dem Leben endlich wieder Sinn zu geben.“ Aber noch immer sei es ein tabuisiertes Thema, über das kaum jemand reden wolle. Das habe er in den vergangenen zwei Jahren seiner ungewöhnlichen Reise immer wieder festgestellt.
„Ich hatte plötzlich Angst vor mir selbst.“
Seine Wanderung hat aber auch ganz persönliche Beweggründe. Denn Dieringer machte bereits selbst mehrere Erfahrungen mit dem Thema Suizid. 2011 bricht er vollkommen unvermittelt zusammen. „Ich hatte plötzlich ziemlich heftige Suizidgedanken und wirklich Angst vor mir selbst“, erzählt der Kölner heute sehr offen, mit ruhigem, aber eindrücklichen Tonfall. Er weist sich selbst in eine geschlossene psychiatrische Klinik ein, wo ihm erklärt wird, dass er unter Depressionen leide. „Das hat mich sehr erstaunt. In den vier Monaten, die ich danach stationär behandelt wurde, wurde mir aber immer klarer, dass ich schon seit Jahren Depressionen hatte.“ Er findet zunächst einen Umgang damit, trennt sich von seinem Ehemann, verliebt sich neu und beginnt wieder zu leben.
Dann im Dezember 2014 ist es lediglich eine blöde SMS, die die Gedanken wieder kreisen lässt. „Mein Gehirn hat ein Eigenleben entwickelt“, beschreibt er die Situation. José, sein damaliger Partner, findet ihn noch rechtzeitig und nach erfolgreicher Reanimation wacht Dieringer im Krankenhaus auf. „Ich war extrem dankbar, dass ich noch am Leben bin.“ Erst heute wisse er: „Das Leben um mich herum kann ja gar nicht gut sein, wenn in mir ein nachtschwarzer Krieg tobt.“
Hinterbliebene gehen durch die Hölle
Ein Krieg, den José Ostern 2016 schließlich verloren hat. Auch er litt an Depressionen, die wellenartig wiederkehrten. Anders als sein Partner setzte er die Behandlung allerdings immer wieder aus. „Ich habe ihn wiederholt darauf angesprochen und gesagt, dass das riskant ist. Dann hat er die Tabletten wieder eine Zeitlang genommen.“ Am Osterwochenende 2016, Dieringer ist bei Freunden zu Besuch, suizidiert sich José schließlich. „Meine Welt ist in eine Millionen Stücke gerissen worden und ich war in der Folge Dingen ausgesetzt, das hätte ich nie vermutet.“
Dieringer erzählt von Ausgrenzung und Schuldzuweisungen. „Noch Monate danach habe ich Mails von Familie und Bekannten bekommen. Die schrieben: Du Mörder!“ Zu vielen habe er deshalb den Kontakt abgebrochen. Doch viele andere hielten auch zu ihm. „Ich war vier Monate lang nicht allein. Freunde haben sich Tag und Nacht abgewechselt.“ Das sei wichtig gewesen. Er selbst habe sich immer wieder Mut gegeben, weiterzumachen.
Laut Dieringer zwei wesentliche Punkte, die Hinterbliebenen, aber auch von Suizid Bedrohten helfen. „Es ist enorm wichtig, Menschen, denen es scheinbar nicht gut geht, immer wieder darauf anzusprechen. Ihnen klar machen, dass man für sie da ist.“ Berührungsängste seien hingegen der falsche Weg, meint Dieringer und betont: „Ich bin natürlich kein Psychologe und Trees of Memory möchte auch nicht in erster Linie Präventionsarbeit leisten.“ Er wolle vor allem für mehr Sensibilität im Umgang mit Betroffenen und Hinterbliebenen werben. „Spätestens nach der Bestattung fällt man in ein großes dunkles Loch, denn dann beginnt der Alltag und man ist plötzlich wieder allein. Dann beginnt die Hölle.“
Bäume der Erinnerung und der Mahnung
Die Idee für Trees of Memory entstand etwa ein halbes Jahr nach dem Tod von José. „Ich stand irgendwann unter der Dusche und plötzlich waren diese Gedanken da. Kurz darauf begann ich eine Webseite zu basteln und zu recherchieren.“ Mittlerweile ist aus einer „bekloppten Idee“, wie Dieringer selbst sagt, ein stetig wachsender Verein geworden. Seit 2018, dem zweiten Todestag von José ist er mittlerweile unterwegs und pflanzt Bäume der Erinnerung für Menschen, die es nicht geschafft haben und zum Opfer einer psychischen Erkrankung wurden. „Wenn Menschen verstanden haben, dass Depressionen und Suizidialität heilbar sind, dann ist schon viel geschafft. Der wesentliche Punkt ist aber: Ich muss mir selbst klar machen, dass es immer noch einen Ausweg gibt.“
Mit seinem Lauf will der 53jährige auch auf die stetig steigenden Suizidzahlen aufmerksam machen und mit Aufklärungsarbeit den Angehörigen helfen, sich von Schuldvorwürfen zu befreien. „Ich merke auf meiner Reise, dass die Menschen unglaublich dankbar sind, wenn da jemand ist, der sie versteht.“ Auch regionale Unterschiede seien ihm mittlerweile aufgefallen. So kämen zum Beispiel in vielen Orten Ostdeutschlands die Menschen aktiv auf Dieringer zu, wenn sie sein Fahrrad mit dem Anhänger und dem Logo sehen. „In einem Schuhladen hat mich mal ein Mann angesprochen und mir von seiner Krebserkrankung erzählt. Es schien ihm wichtig, sich mitzuteilen.“
In der Oberpfalz und in Niederbayern hingegen nehme er eine andere Stimmung wahr. „In Niederbayern gibt es die höchste Suizidrate in Deutschland. Doch hier begleitet mich das große Schweigen.“ Immerhin habe mal ein Metzger mit dem Auto neben ihm angehalten und dem Hund ein paar Scheiben Leberkäse geschenkt.
Wie fatal die Tabuthemen Suizid und Depression sein können, zeigt eine andere Geschichte aus Dieringers Reise. „Letztens habe ich eine Frau, die für ihren 16jährigen Sohn einen Baum bestellt hat, besucht. Die Mutter wusste nichts von den Depressionen ihres Sohnes. Erst nach dem Tod kamen dann mehrere Eltern auf sie zu und erzählten, dass auch ihre Kinder seit mehreren Jahren in Behandlung seien.“ Die Frau habe ihm erklärt, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie eventuell eher die Anzeichen erkannt und reagieren können. „Was ich nicht kenne, kann ich nicht bekämpfen“, so Dieringer.
Ihm selbst habe die Reise einen neuen Sinn gegeben und geholfen, wieder selbstbestimmt durchs Leben zuschreiten. Mittlerweile hat er seine Geschichte auch in dem Buch #psychisch erkältet verarbeitet. Seine Route kann über die Homepage des Vereins, sowie Social Media verfolgt und unterstützt werden.
R.G.
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Ein sehr gutes Projekt.
Die Schuldfrage steht immmer in solchen Fällen schwer im Raum.
Eine sehr gute Bekannte war nach mehreren Selbstmorden in ihrem Jugendkreis von einem hinterbliebenen Vater als Schuldige dafür ausgemacht worden, dass einige Jungen aus einer technischen Schule ihr Leben gelassen hatten. Er wollte mit einem Redakteur einer großen Zeitung zusammenarbeiten, um sie zu outen.
Als er schließlich die geheimen Seiten am Computer des Sohnes öffnen konnte, sah er, dass er von seinem Kind als Hauptschuldiger empfunden worden war, das Mädel hatte dagegen dauernd versucht, zu einer Behandlung zu überreden, um den Burschen abzuhalten.
Die Schuld wurde späterhin bei einem Selbstmordchat gefunden.
Der Schuldirektor ging einen anderen Weg. Er ließ eine Sammlung in seiner Schule zu, für Therapiekosten für Schüler, die unter Depressionen litten. Es wurde dadurch zur allgemeinen Aufgabe, Schwarze Gedanken bei sich und anderen rechtzeitig zu erkennen und einander auf Hilfsmöglichkeiten aufmerksam zu machen.
Die wichtigste Erkenntnis der jungen Menschen war, man müsse mehr miteinander reden.
Ich wüsche Herrn Dieringer mit seinem Projekt Alles Gute, möge es anregen, miteinander mehr zu reden!