Kein Schwein ruft mich an!
Inszeniert wie einfallsloses Schülertheater: Die Carmen am Regensburger Stadttheater ist völlig misslungen.
Unter der Marienfigur steht ein Telefon: Ich weiß, ich bin im Theater Regensburg. Die neue Spielzeit beginnt für mich verspätet, Mitte Oktober, und mit einer Oper. Die feurige Carmen vom französischen Revolutionär Bizet soll es sein. Ein Stück, das wohl auch der gemeine Kulturfeind zumindest in Passagen kennt, inklusive dem populären “Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht!”.
Eine Oper kitzelt die Nerven, weniger den Intellekt
Es ist Samstagabend, der Saal mit dem Holzvorhang ist zu guten drei Vierteln gefüllt und der Altersdurchschnitt von 65 wird nur durch ein paar anwesende Ausnahmeerscheinungen gedrückt. So ist das nunmal beim Format Oper – nicht nur in Regensburg, sondern deutschlandweit. Dem großen Musiktheater haftet der Muff des Witwenvergnügens an, dem des Sektchentrinkens und Leihanzugtragens. Dabei sorgt das zwanghaft Starre der Oper in der Praxis oft für einen Vorteil zugunsten der allgemeinen Zugänglichkeit der Aufführungen. Die Bindung von Libretto und Partitur lässt sich schlecht übergehen und so bleiben dem Novizen die postdramatischen Zerklüftungen des modernen Sprechtheaters erspart. Egal ob auf Italienisch, Französisch oder Deutsch – es wird fast immer die große, emotionale Geschichte erzählt. Eine Oper kitzelt die Nerven, weniger den Intellekt.
Umso wichtiger ist es also, wenn schon die Sprache durch Kunstgesang und fremde Zungen nur durch den Übertitel zugänglich ist, eine Inszenierung zu schaffen, die den Zuschauer wieder in einer Welt aufhebt in der er sich orientieren kann. Hendrik Müller hingegen gelingt es nicht ansatzweise, den Zuschauer für das spanische Feuer zu begeistern, denn er inszeniert Carmen wie einfallsloses Schülertheater.
Konzeptlos, mutlos
Es beginnt schon beim Bühnenbild, das mich an meine Tage am Werner-von-Siemens-Gymnasium im drögen Regensburger Stadtnorden erinnert. Eine Ziegelwand, daneben eine Betonwand und ein paar Milchglasfenster. Das soll wohl modern sein – dachte ich mir schon damals. In Wahrheit ist es einfach nur geschmack- und aussagelos, genauso wie die Kostüme, die teilweise wohl irgendwie historisierend wirken sollen, teilweise der letzten Modenschau von Ulla Popken entsprungen sein könnten und teilweise industrielle Schlichtheit erahnen lassen wollen. Konzeptlos, mutlos.
Die Chorszenen sind eine einzige Katastrophe. Konfus rennen die Darsteller auf dem Parkett herum und wirken dabei so verloren wie unbeholfen. Der Einsatz des Kinderchors ist auch fragwürdig. Zwar singen die lieben Kleinen nett und noch dazu natürlich auf Französisch – aber man hätte das auch cleverer lösen können. Nicht einfach verkleidet, neben den Erwachsenen auf die Bühne geschmissen, denn die sehen dadurch nicht unbedingt besser aus.
Halbseidene Gefälligkeit
Wie das bei der Oper so ist, können brillante Solisten allerdings noch Alles retten. Ein großer Name überstrahlt das misslungenste Polit-Bayreuth und den aufgeblasensten Kitsch der MET. Doch Vera Semieniuk ist als Carmen leider eine Fehlbesetzung. An diesem Abend fehlt es ihr meilenweit an Durchsetzungskraft und der französische Text steht ihr überhaupt nicht. Und auch Yinjia Gong ist als Don José schwer zu ertragen. Dynamisch mächtig und tonsicher, ist seine Stimme aber als tragende Rolle, besonders gegenüber der schwachen Carmen ungeeignet. Ständig überschreit er Semieniuk im Widergesang. Alleine Anna Pisareva glänzt als Micaëla mit einer fantastischen Leistung. In ihren leider viel zu kurzen Passagen bringt ihr berührender Sopran ein Stück von Bizets Zauber zurück.
Man könnte sich nun also weiter in Einzelkritiken an den Darstellern verschwenden und dann käme wieder das Argument, dass wir in Regensburg ja eben nicht in Berlin, Bayreuth oder New York City sind. Das Problem am Theater Regensburg fußt allerdings nicht auf seinem Standort oder Budget, sondern darauf, dass es ein Haus ist, das seine Ressourcen nicht zu kennen scheint. Statt auf kreative Inszenierungen zu setzen, die eben nicht von der Ausstattung oder den großen Einzelkünstlern abhängig sind, wärmt man immer wieder die halbseidene Gefälligkeit auf.
Alles scheint sich die ganze Zeit zu fragen: Darf ich das?
Man hat gute Darsteller im Sprechtheater, wie die immer hervorragende Doris Dubiel, oder den vielseitigen Jacob Keller und man hat ein durchaus vorzeigbares Orchester in der Oper, das die Musik stets wohlbalanciert und transparent in das akustische matte Haus am Bismarckplatz spielt. Sogar den Problemstoff “Der Prozess” von Kafka bekam man in einer stimmigen Bearbeitung gelöst.
Bei Inszenierungen wie Dear Eddie, La Cage Aux Folles oder Carmen – um hier die biedersten des bisherigen Jahres zu nennen – ist allerdings nichts echt. Das Spiel ist nicht echt, die Sprache ist nicht echt, die Bewegungen sind nicht echt, die Küsse sind nicht echt, der Sex ist nicht echt, der Tanz ist nicht echt – nichtmal der Humor ist echt. Alles scheint sich die ganze Zeit zu fragen: Darf ich das?
In Carmen werden die kurzen Sprechpassagen mit einem Mikrofon gelöst, das schlecht eingestellt ist und ständig Störgeräusche produziert. Die Sänger versuchen die Geschichte irgendwo durch Mimik und choreographiertes Spiel zu erzählen, doch das ungeschickte Bühnenbild macht es nur einerlei und traurig. So viele Misstöne – ich kapituliere schließlich.
Kapitulation nach dem zweiten Akt
Und so gebe ich zu, was man als Kritiker eigentlich nie zugeben darf und gar nicht macht. Ich bin nach dem zweiten Akt von Carmen gegangen. Ich habe nicht gewartet ob das obligatorische Telefon, das ich bisher in jedem Bühnenbild am Theater Regensburg entdeckt habe, diesmal klingelt oder nicht, denn es war mir schon nach einer halben Stunde egal, was da vorne geschieht oder nicht.
Hätte ich in der ersten Kategorie die regulären 62,60 Euro gezahlt, hätte ich mich schon wieder so gefühlt, wie mittags beim Anblick des mir servierten Schweinebratens für 9,90 Euro:
Keine Flamingo-Wertung
Unmittelbayerischer
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Äh, du warst aber schonmal in einer Oper vorher?
Evtl solltest du auch schon zu Beginn dazu sagen, dass dein Schüler-Erlebnisbericht, denn so liest es sich, sich nur auf die erste Hälfte bezieht. (Musstest du danach ins Bett?)
A.M.
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Dein Bericht ist in jeglicher Hinsicht unqualifiziert und ungerecht – die Inszenierung ist mutig, dafür durchgängig und – unserer Meinung nach – sogar sehr gut gelungen. Einfach mal eine ganz andere Carmen, die sehr authentisch wirkt. Wir sind gutes Mittelalter (50), gehen gerne in Theater, zu Opern und Konzerten aller Art, haben alle Kinder die uns jung halten und haben die Aufführung von Carmen als absolut hervorragend empfunden. Das Theater war brechend voll – mit vielen jungen Leuten – und es gab stürmischen Applaus sowohl für die Sänger als auch für das Orchester.
BARiton
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„Kein Schwein ruft mich an!“
… und weiter im Text:
„Keine Sau interessiert sich für mich.“
Ulf
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Oje, wie traurig kann man einen Schweinsbraten inszenieren?
Bernd
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GENIAL! Wo gibt es diesen Schweinebraten? Bitte unbedingt verraten!
Matthias B.
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… inklusive dem populären „Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht!“ …
Der Dativ ist noch immer dem Genitiv sein Tod. Ich dachte, Herr E. vom Wochenblättchen hätte diesen Lapsus für sich gepachtet. Diese sprachliche Schwäche hier bei “rd” lesen zu müssen, überrascht und enttäuscht – zumal in den elitären Kultureinlassungen des Flamingos.
Ronja
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so gern ich RD lese, so sehr langweilt das Pubertantengeblubber des Kulturkritikers Flamingo zwischenzeitlich. Erschienen seine Einlassungen zu “Tschick” zwar plagiatsverdächtig (siehe “junge Welt”: https://www.jungewelt.de/2016/09-21/051.php?sstr=tschick) aber immer noch (irgendwie) provokativ, so ist diese Kritik stilistisch und inhaltlich völlig entrückt. Gut möglich dass Bühnen in Berlin progessiver sind. Aber Progessivität ist nicht zwangsläufig gut, Provinzialität nicht zwangsläufig schlecht. Aber Regensburg durch die hippe Berlinbrille zu bewerten ist dämlich. Und will hier glaub ich auch niemand (mehr) lesen.
Ortograph
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So gern ich die Kommentare auf RD lese, empfehle ich Ronja, doch vor Verwendung von Fremdwörtern deren Schreibweise zu verinnerlichen. Das wäre durchaus ein Fortschritt.
Und Kultur muss und darf überall auf dieser Welt miteinander verglichen werden. Ob in New York oder Ulrichsberg …
Ronja
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Lieber Ort(h)ograph
der Witz mit dem “h” hat mir gefallen! Im Falle der “Progessivität” darf ich ihnen aber vesichern: Dies war der Eile, dem Alter und dem kleinen Display geschuldet.
Ansonsten: Vergleiche sind natürlich erlaubt – sofern es nicht die berühmten Äpfel mit den Birnen sind. Ebenso wie das Abschreiben. Nur ist es eben nicht Kennzeichen guter Kritik.
Deine Ronja
Flamingo
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Hallo Ronja,
Sie können ja von mir und meinen Kritiken halten was sie wollen.
Aber: Für mein “Pubertantengeblubber” brauche ich keine Vorlagen.
Peer Schmidts Kritik in der Jungen Welt gleicht meiner in keinem Satz. Weder in Sprache und Aufbau, noch in den Szenenanalysen.
Mich hier des Plagiats zu bezichtigen ist nur Diffamierung.
Flamingo
Chistian Mugenthaler
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Es gibt zwei Dinge, die ich in dieser Diskussion aufgrund meiner möglicherweise inzwischen zunehmend altbackenen journalistischen Ausbildung so nicht stehen lassen kann. Da ist zum Ersten:
– das Zitat “das misslungenste Polit-Bayreuth und den aufgeblasensten Kitsch der MET” geht eigentlich nur, wenn man sich einen persönlichen Eindruck von den Inszenierungen in Bayreuth und an der MET verschafft hat, und ich wage zu bezweifeln, dass das im Fall des Autors erfolgt ist. Argumente vom Hörensagen und nur aufgrund der Lektüre von Kollegen sind in jeglicher Theaterbesprechung eher, nunja, schwierig. Ein professioneller Journalist googelt nicht, sondern verifiziert jede seiner – gerne auch ungeliebten und umstrittenen – Aussagen mit vorheriger eigener Anschauung. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mich da im Fall der Opern-Erfahrung des Autors täusche.
Und zweitens:
Gehe nie in der Pause!!! Du wirst nie ein Gesamtbild bekommen! Das geht für einen Theaterkritiker schlicht nicht! Ich habe mehrmals die Erfahrung gemacht, dass sich nicht wenige Inszenierungen erst von ihrem Ende her interpretieren lassen.
Mit kollegialen Grüßen:
Christian Muggenthaler
Münchner Gsindl
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Liebe Regensburger Kulturgemeinde, als Ex Münchner, Berliner, Zürcher spricht mir Flamingo aus der Seele. Das Niveau der meisten Produktionen des hiesigen Theaters am Bismarktplarz ist leider so harmlos, uninspiriert und mittelmäßig, wie man es bei einer x-beliebigen Provinzbühne klaglos hinnehmen würde – am traurigsten sind die unbeholfenen Versuche im Bereich des Musiktheaters – Da dieses Theater aber durchaus über ein opulentes Budget, ein liebevoll renoviertes Theater, ein ordentliches Orchester und ein umfangreiches Ensemble verfügt, kann man diesen Einheitsbrei, der vielleicht einem satouriertes Publikum als gefällige Unterhaltung dienlich ist, wirklich nur mit Unverständnis sehen und, so verstehe ich Flamingos Fatalismus, nur Ironisch kommentieren. Nirgendwo sonst im hochsubventionierten Regietheater käme eine Intendanz mit so einer lausigen Leistung davon, als im offensichtlich doch sehr provinziellen Regensburg, wo berechtigte Kritik dann auch gerne als arrogante Grosstadt Attitüde weggebissen wird und der Erfolg an der Auslastung, nicht aber am künstlerischen Niveau gemessen wird, oder gar an innovativen Experimenten, die einem zeitgemässem Kulturauftrag gerecht würden. Leider ein sehr unerfreulicher Zustand, zudem das Regensburger Publikum, das dieses dünne Süppchen auslöffeln darf, es auch noch mit seinen Steuergeldern finanziert.
Schöne Grüße vom Münchner Gsindel
Bassuf Jingli
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Kann meinem Vorredner vorbehaltlos zustimmen.
Tigerlily
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Keine Ahnung, wie ich anfangen soll, ich meine, soll ich jetzt: Seid gegrüßt oder so etwas in der Art schreiben, obwohl es vermutlich keinen hier interessiert?
Völlig egal, deswegen schreib ich ja nicht und darum geht es ja auch nicht.
Wie ihr alle vermutlich auch, habe ich mir am Freitag die Carmen-Vorstellung im Theater Regensburg angesehen und ich muss dir, lieber Flamingo, teilweise recht geben. Leider fehlt es Carmen in dieser Vorstellung an Seele, ihr eigentlicher Charakter kommt nicht wirklich hervor, doch ich fand Gong, in der Rolle des Don José brillant, ebenso wie Pisareva in der Rolle der Micaëla. Insgesamt war die musikalische Leistung gut, mit einigen kleinen Patzern des Kinderchors, die man ihnen aufgrund ihrer Niedlichkeit, jedoch durchaus verzeihen kann. Völlig fehl am Platz war das Bühnenbild und die Kostüm, durch die man als Zuschauer teilweise nur verwirrt wird, wie beispielsweise bei der Umwandlung der Soldaten in Fabrikarbeiter, oder was auch immer sie darstellen sollen.