Sexueller Missbrauch von Kindern ist nicht nur im Kontext der Diskussion um kirchliche Würdenträger ein brisantes Thema, bei dem vielen Erwachsenen sprichwörtlich alle Sicherungen durchbrennen. Thomas Vinterbergs neuer Film „Die Jagd“ setzt sich eindrucksvoll mit derartigen Vorwürfen auseinander, die sich schnell als falsch erweisen – und trotzdem für immer haften bleiben.
Ruf und Würde von Lukas (Mads Mikkelsen) sind nach den Anschuldigungen des Kindesmissbrauchs ruiniert. Foto: Pretty Pictures
Mitte der neunziger Jahre fanden vor dem Landgericht Mainz mehrere Prozesse gegen 25 in Worms lebende Personen statt, die des massiven sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt wurden. Als Beweise galten psychiatrische Einzelgutachten, die von einer feministischen Kinderschutzorganisation vorgenommen wurden, sowie kinderärztliche Untersuchungen der mutmaßlichen Opfer. Die Staatsanwaltschaft war – genau wie die Zivilgesellschaft und vor allem die Massenmedien – überzeugt: Hier wurde ein pädophiler Pornoring, bestehend aus Eltern und Angehörigen der minderjährigen Opfer, aufgedeckt. Der Spiegel berichtete damals unter dem Titel „Der Fall sprengt die Grenzen“:
Mindestens 15 Jungen und Mädchen, das jüngste sechs Monate alt, sollen in ihren beiden Großfamilien gequält und vergewaltigt worden sein. 24 Erwachsene sitzen in Haft. Die Untaten seien, sagen die Ermittler, „ungewöhnlich gut belegt“.
Gut zwanzig Jahre später bringt Regisseur Thomas Vinterberg („Das Fest“) einen Film ins Kino, der erstaunliche Parallelen zum Wormser Rechtsfall aufweist: Lukas (Mads Mikkelsen), ein gut in die Dorfgemeinschaft integrierter Kindergärtner, gerät in den Verdacht, sich an der Tochter seines besten Freundes vergriffen zu haben, als diese mit kindlicher Unbedachtheit eine kleine, aber gefährliche Lüge erzählt. Was dann passiert, ist ein Paradebeispiel für „zivilgesellschaftliches Engagement“ in seiner fragwürdigsten Form: Auf eigene Faust stellt man im Dorf Ermittlungen gegen Lukas an. Immer mehr Kinder behaupten in deren Verlauf, von Lukas belästigt worden zu sein. Irgendwann bezweifelt kaum noch jemand die Schuld des Kindergärtners, obwohl der – das kann der Zuschauer bezeugen – überhaupt nichts Verwerfliches getan hat.
Doch ähnlich wie im Wormser Fall verkommen die Fakten schnell zur Nebensache. Auch die Meinung des Rechtsstaats spielt für die Entrüsteten keine Rolle: Während sich die Anschuldigungen in Vinterbergs Film vor dem Untersuchungsrichter förmlich in Luft auflösen, dauerte es im Falle der „Wormser Prozesse“ ganze vier Jahre, bis das Gericht in drei Verfahren sämtliche Angeklagte freigesprochen hatte. Die psychiatrischen Gutachten, die im Vorfeld als erdrückende Beweislast galten, erwiesen sich allesamt als bedeutungslos: Sie waren durch Suggestivfragen und andere fragwürdige Untersuchungsmethoden, die an Gehirnwäsche gegrenzt haben müssen, zustande gekommen. Auch die Diagnosen der Kinderärzte stützten sich weniger auf handfeste Tatsachen als vielmehr auf den unerschütterlichen Glauben an die Schuld der längst gesellschaftlich Geächteten. In seinem Urteil sprach das Gericht damals davon, dass man sich bei allen Angeklagten umfangreich entschuldigen müsse.
„Kinder lügen nicht.“
Doch in dem Moment, in dem Lukas in „Die Jagd“ von der Justiz für unschuldig befunden wird, fängt der Terror gegen ihn erst richtig an. Sein Hund wird getötet, die Fenster seines Hauses mit Steinen eingeworfen. Am helllichten Tag wird er im örtlichen Supermarkt vom Personal brutal zugerichtet. Kindern kann man vertrauen; Kinder lügen nicht – diese Überzeugung ist zu fest in den Herzen der Bevölkerung verankert, als dass man von den Vorwürfen ablassen könnte. Zu groß ist die Angst vor einem Justizirrtum, davor, dass sich der Kindergärtner doch an seinen Schutzbefohlenen vergangen hat, es immer noch tut oder es irgendwann vielleicht einmal tun könnte, weil er ein „Kranker“ sei, ein „Psychopath“ und ein „Perverser“. Lukas hat seinen Ruf und seine Würde längst verloren. In den Augen seiner ehemaligen Freunde ist er vogelfrei – die Jagd auf ihn kennt keine Gnade.
Auch in Worms war der Freispruch nur ein schwacher Trost für diejenigen, deren Leben durch die massiven Anschuldigungen und die damit verbundene jahrelange Hexenjagd längst ruiniert waren. Eine der Angeklagten, der vorgeworfen wurde, sich an ihrem Enkel vergangen zu haben, verstarb noch in Untersuchungshaft. Ehen gingen reihenweise zu Bruch, und Kinder, die während der Prozesse in einem Heim untergebracht worden waren, glaubten auch Jahre nach der rechtskräftigen Beseitigung aller Vorwürfe daran, von ihren Angehörigen vergewaltigt worden zu sein.
Die Linien überschreiten
Und auch Vinterberg zeichnet ein Bild, das betroffen macht. Er führt dem Zuschauer schonungslos vor Augen, welch verdorbene Früchte die gesellschaftliche Hypersensibilisierung in puncto Kindesmissbrauch tragen kann. Wenige Männer entscheiden sich für einen Beruf, bei dem sie mit kleinen Kindern arbeiten – auch, weil sie zu jeder Zeit mit einem Bein im Gefängnis stehen. Oder, noch schlimmer, mitten im Steine schmeißenden Lynchmob. Ein haltloser Vorwurf genügt, um ein rechtschaffenes Leben für immer zu zerstören. Hehre Prinzipien wie das der Rechtsstaatlichkeit werden über Bord geworfen.
So ist es kein Wunder, dass Forderungen wie die nach der Todesstrafe für Kindesvergewaltiger auch hierzulande auf breite Akzeptanz stoßen. Die Wormser Prozesse waren Anlass für bis heute geführte Diskussionen um die Glaubwürdigkeit von minderjährigen Missbrauchsopfern generell, aber auch darüber, inwieweit feministisch geprägte Hilfsorganisationen für die Aufklärung von Verdachtsmomenten taugen, inwieweit nicht die Gefahr besteht, das Thema für ideologische Grabenkämpfe zu instrumentalisieren.
Die Überzeugung, das Richtige zu tun
Umso erfrischender ist es, dass sich Vinterberg in seinem Film auf einen minimalistischen, oft unkommentierten Stil zurückzieht, der den Zuschauer dazu zwingt, die eigene Position zu hinterfragen. So ganz kann man sich vom wahnhaften Verhalten der Dorfbewohner nämlich dann doch nicht distanzieren. Hat Lukas doch die ganze Zeit über diesen undurchsichtigen Blick, dieses schnittige Gesicht, diese seltsame Vertrautheit mit den Kindergartenkindern. Als eine besonders starke Metapher fällt ein Motiv auf, dass in „Die Jagd“ gleich mehrfach Verwendung findet: Die kleine Klara, das Mädchen, das nur wenig später durch ihre „klitzekleine Lüge“ den Stein unwiderruflich ins Rollen bringen soll, erklärt Lukas das Spiel, das so viele Kinder gern spielen: Mit den Füßen dürfe man nicht die Linien auf dem Boden berühren. Weil sie deshalb nur nach unten sehen, nicht aber auf den Weg achten könne, schlägt Lukas vor, dass er letzteres für Klara übernimmt. So führt er sie sicher nach Hause. Ein Akt blinden Vertrauens zwischen erwachsenem Mann und unschuldigen Kind also, der je nach Kontext väterlich und fürsorglich wirken kann; oder aber, sieht man Lukas durch die Augen seiner aufgehetzten Mitmenschen, wie eine Entführung, ein Ausnutzen des kindlichen Spiels, um Hand in Hand die eigenen, niederen Ziele zu verfolgen.
Diese Doppeldeutigkeit, meisterhaft durch einen Mads Mikkelsen in Bestform verkörpert, ist es, die den Kindergärtner aus Vinterbergs Film bis an das Ende seiner Tage verfolgen und ihm ein unbeschwertes Leben verwehren wird: Die Linien sind übertreten, auch wenn die Gemeinschaft Lukas irgendwann scheinbar in das Dorfleben reintegriert. Es reicht ein einziger verstohlener Blick seiner Mitmenschen, ein Schuss aus dem Dickicht während einer Jagd, der verdächtig nahe neben dem Protagonisten ins Unterholz trifft, um all das gekünstelte Schönwetter zunichte zu machen.
Letzten Endes beweist „Die Jagd“ auch, dass den echten Opfern von Kindesmissbrauch und Päderastie am wenigsten mit jener explosiven Mischung aus Hysterie, wilder Empörung und Blutdurst geholfen ist. Vinterberg mahnt uns, stattdessen auch beim Schutz der Kleinsten in der Gesellschaft mit kühlem Kopf vorzugehen. Freilich kein einfaches Unterfangen: Darsteller Mads Mikkelsen selbst sagte in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“:
Es hat mich verstört, dieses Drehbuch zu lesen, und ich war auch verärgert. Aber ich konnte jede Figur verstehen, warum sie so und nicht anders gehandelt hat. Das ist auch die Tragödie der Geschichte: dass alle Beteiligten davon überzeugt sind, das Richtige zu tun.
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