Er gilt nicht nur als ausgewiesener Afghanistan-Kenner, sondern auch als jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt: Dr. Reinhard Erös. 1998 hat der Bundeswehr-Oberstarzt a.D. die Kinderhilfe Afghanistan gegründet. Vom kleinen Mintraching bei Regensburg aus bauen und betreiben er und seine Familie mit ausschließlich privaten Spendengeldern Schulen, Kliniken und Waisenhäuser im Osten Afghanistans. Am kommenden Montag, 19 Uhr, ist Erös auf Einladung des Bürgervereins Regensburg Nord im Gasthof Götzfried in Wutzlhofen, um seine Sicht der politischen und humanitären Lage in Afghanistan vorzustellen. Wir haben uns vorab mit Reinhard Erös unterhalten. Der 61jährige sagt: „Seit Beginn des Militäreinsatzes, hat sich die Möglichkeit, Terror zu finanzieren um den Faktor 15 erhöht.“
Herr Erös, wie stellt sich die Situation in Afghanistan seit Beginn des NATO-Einsatzes dar?
D i e Situation gibt es nicht, es gibt verschiedene Facetten. Für einige wenige – die wirtschaftlichen und politischen Eliten – hat sich ihre Situation deutlich verbessert. Hier haben sich Leute bereichert, sind Multimillionäre geworden. Einige können sich Villen in Dubai bauen. In den Nobelvororten der Hauptstadt können sich gebildete Frauen weitgehend frei bewegen. Kabul ist mittlerweile von einer, zu Talibans Zeiten fast entvölkerten Stadt zu einem Dritte-Welt-Moloch mit 4,5 Millionen Einwohnern geworden, wo Sie jeden Tag in einem anderen Fünf-Sterne-Hotel übernachten oder in einem ausländischen Feinschmeckerlokal essen können – wenn sie zur Elite gehören und Geld haben. Dieses Geld haben 80 Prozent der Bevölkerung nicht. Sie verdienen durchschnittlich einen Dollar pro Tag. Für diese breite Masse hat sich die soziale Situation seit 2001 dramatisch verschlechtert. Die Menschen haben immer weniger Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Die Kinderarbeit nimmt zu, gleichzeitig haben seit 2006 relativ immer weniger Kinder die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Das liegt zum einen daran, dass es mehr Kinder gibt, zum anderen daran, dass in diesem Bereich viel zu wenig getan wird. Wenn die Entwicklung so weiter geht, haben wir in zehn Jahren dieselbe Situation wie unter den Taliban – dass nur noch 20 Prozent der Buben und zehn Prozent der Mädchen zur Schule gehen.
Wie sieht die Sicherheitslage aus? Es wurden ja jede Menge afghanischer Polizisten ausgebildet.
Die Kriminalität explodiert in jedem Bereich – das reicht von Diebstahl über Drogen bis hin zu Mord und Totschlag. Und zwar obwohl oder, um es zynisch auszudrücken, sogar wegen der Polizisten. Der Polizist gilt in Afghanistan nicht als Freund und Helfer, sondern als Gangster, als jemand, der korrupt ist und Bakschisch verlangt. Der Polizist ist kein positiver Repräsentant eines Rechts-Staates, der ohnehin nicht existiert. Die Ausbildung zum Polizisten – übrigens in der Verantwortung Deutschlands – dauert nur wenige Monate, in denen Analphabeten, häufig in körperlich schlechter Verfassung, eigentlich nur lernen, wie man schießt und marschiert. Seit 2001 hat sich die Menge des angebauten Rauschgifts – Cannabis und Opium – wahrscheinlich verfünfzehnfacht. 2001 waren es 500 Tonnen Opium, heute sind es 7.000 Tonnen, das entspricht 700 Tonnen Heroin. Das sind Wahnsinnsgelder. Um es drastisch auszudrücken: Seit Beginn des Militäreinsatzes, hat sich die Möglichkeit, Terror zu finanzieren um den Faktor 15 erhöht. Durch die Zunahme der Kriegshandlungen hat die Zahl der getöteten und verwundeten westlichen Soldaten wie auch der Opfer in der afghanischen Zivilbevölkerung einen neuen Höchststand erreicht.
Was halten sie von der Forderung, sich aus Afghanistan zurückzuziehen?
Wir können und dürfen dort nicht einfach „raus gehen“. Wir müssen uns im Gegenteil verstärkt politisch, wirtschaftlich und vor allem im Bildungs- und Ausbildungsbereich engagieren. Also anders engagieren als bisher, eben nicht mit Schwerpunkt militärisch. 80 Prozent der Afghanen sind Analphabeten, 60 Prozent Arbeitslosigkeit allein bei der männlichen Bevölkerung, 70 Prozent der Jugendlichen haben keine Aussicht, jemals einen bezahlten Beruf zu finden. Alle sind sich mittlerweile darüber einig, dass die Situation in Afghanistan militärisch nicht zu lösen ist und dass sich die Sicherheits-Situation seit Beginn des Militäreinsatzes nachweislich verschlechtert hat. Das wird auch von der Politik so formuliert. Aber es wird nicht dementsprechend gehandelt. Wider besseren Wissens wurde jetzt beschlossen, noch mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken.
Was fordern Sie? Muss mehr Geld in Entwicklungshilfemaßnahmen gesteckt werden?
Es geht nicht um mehr Geld, sondern darum, die mehr als 600 Milliarden Dollar, die bislang für den Militärapparat und im zivilen Bereich eher wahl- und ziellos eingesetzt und vergeudet wurden, zukünftig für politische, wirtschaftliche und soziale Verbesserungen zu verwenden. Eine zivile Wiederaufbaustrategie ist dringend notwendig. Bestenfalls 30 bis 40 Prozent der Ausgaben für Entwicklungshilfe kommen auch wirklich dort an, wo sie hin sollen. Der Rest verschwindet in Korruption, irrsinnigen Gehältern, bei Söldnerfirmen und in ineffizienten, bürokratischen Apparaten. Das Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung liegt – so formulieren es Fachleute – bei 10:1 und diese Schere wird immer größer. Hier muss angesetzt werden. Wenn sich der Zugang zu Trinkwasser, medizinischer Versorgung, Bildung und Berufschancen deutlich verbessert, dann wird sich vieles von selber lösen. Bei uns wird überhaupt nicht thematisiert, dass 90 Prozent der Abiturienten in Afghanistan arbeitslos sind, dass die Jugendarbeitslosigkeit insgesamt bei 70 Prozent liegt – bei durchschnittlich 7,2 Kindern pro Familie. Wenn diese jungen Menschen, die Zukunft Afghanistans, keinen Job und keine Lebensperspektive haben, werden sie fast zwangsläufig kriminell oder lassen sich von den Taliban anwerben. Wenn Außenminister Guido Westerwelle das nächste Mal nach Afghanistan reist, sollte er Leute aus der Wirtschaft mitnehmen, um ihnen zu verdeutlichen: Hier kann und muss man investieren, auch wenn man keine kurzfristigen Gewinne machen kann. Dazu kann man in Deutschland auch Steueranreize schaffen. Abgesehen davon: Geld scheint ja genug da zu sein, wenn man sich die Kosten des Militäreinsatzes ansieht. Ein US-Soldat kostet den amerikanischen Steuerzahler eine Million Dollar jährlich – das sind bei einer Truppenstärke von 100.000 Mann 100 Milliarden Dollar. Eine Bundeswehrsoldat ist angeblich günstiger – er kostet „nur“ 400.000 Dollar im Jahr. Um das Ganze mal zu verdeutlichen: 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung hat keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und auf der anderen Seite wurden im vergangenen Jahr aus Deutschland 1,1 Millionen Liter Alkohol auf dem teuren Luftweg nach Afghanistan transportiert, um unsere Soldaten nicht „verdursten“ zu lassen.