Legendenbildung und Wunderglaube im Kontext der Kapitulation
Mit der bereits vorgestellten aufschlussreichen Publikation von Peter Eiser und Günter Schießl, „Kriegsende in Regensburg. Die Revision einer Legende“ (2012), muss die bislang gültige Darstellung der letzten Kriegstage in Regensburg nach Robert Bürger (1983) als widerlegt gelten. Falls es überhaupt Sinn macht von einem „Retter Regensburgs“ zu sprechen, wäre dieser Titel demjenigen zuzusprechen, der am 27. April entgegen der Befehlslage und unter einer gewissen Gefahr die Kapitulation erklärte: Major Othmar Matzke.
Teil II unserer Serie (Hier abrufbar: Teil I und eine kurze Zusammenfassung). Der komplette Text von Robert Werner als PDF.
Die Auseinandersetzungen um das Kriegsende sind von der oftmals nicht ausgesprochenen Frage nach der Legitimität der Befehlsverweigerung Ende April 1945 überlagert. Bei Erzählungen militärischer Details bzw. bei der Bewertung der letzten Kriegstage konstatieren Zeitzeugen entweder „Durchhalteidioten“, wie sich Othmar Matzke 1985 ausdrückte, oder sie verurteilen die „Fahnenflucht“.
Je nach Standpunkt der Betrachtung werden unterschiedliche Angaben zum selben historischen Ereignis, z. B. der Kapitulation, vorgetragen. Robert Bürgers Selbstverortung Mitte der 1980er – als Bundeswehroberst a. D. – dürfte hierbei nicht überraschen, er wertet Matzke als „undisziplinierten“ Fahnenflüchtigen ab und stilisiert sich selbst als soldatisch-pflichtbewussten Offizier, der vorgeblich bis zum 8. Mai im Felde stand und diszipliniert für den vaterländischen Sieg kämpfte. Man bewegt sich so gesehen in einem (post)nationalsozialistischen Kontext, in dem es um Ehre, Treue und Kameradschaft bzw. um die Ablehnung einer Haltung geht, die bis heute als Verrat und Fahnenflucht diffamiert wird.
Die Einstellung Robert Bürgers ist in seiner ungebrochenen militärischen Laufbahn begründet, die im Oktober 1935 mit dem Regensburger Infanterieregiment 20 begann. Auch über seine Dienstzeit hinaus hat er soldatische Traditionspflege betrieben und sich im „Traditionsverband der ehemaligen 10. Division“ engagiert. Liest man etwa in deren Festschrift von 1983 unter „4. Der Feldzug gegen Polen 1939“, ist keinerlei Distanzierung vom NS-Regime auszumachen. Im Gegenteil. Man wiederholt im Duktus von Landsern ideologische Versatzstücke: „Organisierte Freischärler machten der Division zu schaffen.“ Der Inhalt dieser Festschrift zeugt von Stolz auf die Eroberung von Warschau und auf die erste Erwähnung der 10. Division im Wehrmachtsbericht anlässlich dieser Vorgänge.
Glaubwürdigkeit und Nibelungentreue
Robert Bürger betrieb Kameradschaftspflege, so auch im Jahre 1981 beim Bier. Damals erzählte er dem Vorsitzenden des Bad Abbacher Heimatvereins, dem Kameraden Werner Sturm, dass er als Stellvertreter des Kommandanten beim Standgericht gegen Domprediger Johann Maier (26. April) zugegen gewesen sei. Offenbar phantasiert sich Bürger hierbei in die Rolle eines Möchtegern-Retters, wenn er anmerkt, auch er als Wehrmachtsoffizier habe damals nichts ausrichten können: „Die hätten jeden, der ein Wort dagegen sagte, sofort zum Tode verurteilt.“ (S. 20)
Major Bürger beim Standgericht? – eine brisante Aussage. Wie Eiser und Schießl (2012) in ihrer Arbeit aufzeigen, versuchte Bürger diese Angaben nach der Veröffentlichung seines Berichts in den VHVO (1983) mit Hilfe eines Persilschein-Briefs des damaligen Stadtkommandanten Hans Hüsson, aus der Welt zu schaffen.
Der Feldjäger a. D., Werner Sturm, weiß in seiner Broschüre „60 Jahre nach Kriegsende“ (2005) darüber hinaus von regelmäßigen Traditionstreffen der ehemaligen Angehörigen der „38. SS-Division Nibelungen“ zu berichten. Der SS-Division müsse man danken, so Sturm, für ihre vehementen Abwehrkämpfe gegen die US-Militärs Mitte April bei Bad Abbach, da sie dadurch die Rettung Regensburgs, wie von Bürger (1983) beschrieben, mit ermöglicht hätten. Weiterhin schreibt Sturm unverblümt, dass einige der „Nibelungen-Offiziere“ nach dem Krieg jahrelang in den „amerikanisch-jüdisch geleiteten Konzentrationslagern Dachau und Langwasser“ (S. 39) gefangen gehalten worden seien.
Allem Anschein nach lieferte Bürger je nach Milieu unterschiedlich ausgeprägte Versionen von seinen Handlungen während der letzten Kriegstage. Es fällt überaus schwer, den nibelungentreuen Robert Bürger als seriösen Zeitzeugen in Betracht zu ziehen.
Die Legende von der wundersamen Verschonung Regensburgs
Als es nach dem Kriegsende um die Frage ging, warum die Domstadt Regensburg, trotz der etwa 20 größeren Luftangriffe bzw. der vom damaligen Gauleiter Ludwig Ruckdeschel angekündigten „Verteidigung bis zum letzten Stein“, mit vergleichsweise geringen Kriegsschäden davon gekommen war, schossen vielerlei Zwecklügen ins Kraut. So z.B. die des ehemaligen Nazi-Bürgermeisters Otto Schottenheim, der sich im Zuge seines Spruchkammerverfahrens zur Entnazifizierung erfolgreich als Retter und Übergeber der Stadt unter Lebensgefahr dargestellt hat. Des Weiteren gab es Spekulationen, wie dass exilierte Regensburger Juden sich bei den Amerikanern für ihre Heimatstadt eingesetzt hätten, oder Erklärungsmodelle, die sich durch Wunderglauben auszeichnen.
Eine wundersame Rettung braucht Helden. Im religiösen Kontext kann eine unerwartete oder schuldbeladene Rettung als göttliche Fügung gelten. So gesehen ist die Rede vom Wunder verständlich. Doch wie groß waren die Kriegsschäden eigentlich und wie wirksam war denn das „Wunder“?
Helmut Halter bilanziert in seinem Standardwerk (Stadt unterm Hakenkreuz, 1994) folgende gravierende Bombenschäden: rund 1100 Tote (Zwölf Prozent davon waren Ausländer) sind zu beklagen, fast 2.500 zerstörte bzw. schwer beschädigte Wohnungen und etwa 18 Prozent zerschmetterte gewerbliche Gebäude wurden registriert . Was Regensburg allerdings von den meisten alten Städten abhebt, sind die vergleichsweise geringen Schäden an mittelalterlicher und kirchlicher Bausubstanz.
Dies ist jedoch vor allem der relativ großen Treffgenauigkeit der amerikanischen Bomberflotten zu verdanken, die es – im Gegensatz zu den britischen Verbänden etwa in Norddeutschland – hauptsächlich auf die Messerschmitt-Werke, die Anlagen und Bahnhöfe der Reichsbahn und die Hafenanlagen abgesehen haben. Angesichts der 1100 Toten von einem Wunder zu sprechen, ist unpassend.
Darüber hinaus scheint sich der enttäuschte Glaube an Hitlers kriegsentscheidende Wunderwaffen, wie z. B. der in Obertraubling endmontierte Düsenjäger Me 262, nach dem Krieg ein neues Objekt gesucht zu haben: die wundersame Rettung Regensburgs.
Hier macht sich zudem das Fehlen einer grundlegenden historischen Forschung zum Regensburger Kriegsende im überregionalen Kontext bemerkbar, was übrigens auch Werner Chrobak in einem Gespräch (2012) konstatierte. Die daraus resultierenden lokalgeschichtlichen Lücken sind wie geschaffen für wundersame Landser-Geschichten vormals endsiegtreuer Nazi-Offiziere oder „entnazifizierter“ Parteigenossen, die an ihrem Lebensabend noch einige biografische Korrekturen anbringen möchten, um späte gesellschaftliche Anerkennung aus dem Handeln anderer ziehen zu können.
Die offiziellen Gedenkpolitiken weltlicher und kirchlicher Kreise suchten im Nachkrieg zudem rasch nach Helden mit Gesicht und Namen.
Domprediger Johann Maier – ein Blutzeuge paradoxer Natur
Bereits am Tag seiner Einsetzung durch die amerikanische Militärregierung erließ der erste Bürgermeister Regensburgs, Gerhard Tietze, die Bekanntmachung Nr.1 vom 14. Juni 1945. Darin gab er bekannt, dass er die Ritter-von-Epp-Straße zur Erinnerung an den „aufrechten und edlen Priester“ in Dr.-Johann-Maier-Straße umbenannte. Domprediger Maier sei dafür, „daß er in echtester Nächstenliebe sich für die Verwundeten und Kranken einsetzte und darum bat, die Stadt nicht im aussichtslosen Kampf zu verteidigen“, zum Tode verurteilt worden und den Opfertod gestorben. Weiter ordnete Titze an, dass nach der Wiedereröffnung der Schulen in allen Klassen jeweils am 24. April des Dompredigers Dr. Maier bzw. seines Einsatzes für die Rettung der Stadt gedacht werden soll. „Wir wollen dieses niemals vergessen!“, lautete die Order. Die damalige Realität gestaltete sich allerdings anders.
Johann Maier wollte gemäß seinen letzten, allerdings widersprüchlich überlieferten, Worten zufolge lediglich an die Teilnehmer der Demonstration appellieren. Man dürfe keinesfalls Forderungen stellen, sondern höchstens bei der örtlichen NSDAP-Führung um eine kampflose Übergabe der Stadt bitten. Wohl gemerkt, er wollte appellieren, bloß zu bitten. Noch bevor er ausreden konnte, wurde er verhaftet und die Demonstration aufgelöst. Der Domprediger wurde am gleichen Tag standrechtlich verurteilt und tags darauf hingerichtet.
Im Grunde ein Scheitern auf ganzer Linie, das Johann Maier aber im Kreise des Domkapitels und angesichts des sich versteckt haltenden Bischofs Buchberger zu Recht als einen hervorhebt, der aktiv Verantwortung übernahm. Deshalb gilt Dr. Johann Maier seit dem ersten Regensburger Nachkriegssommer als Märtyrer und katholische Identifikationsfigur, die den Opfertod zur Verschonung der Stadt starb. Wie sein Tod und die wunderbare Rettung der Stadt ursächlich verbunden sein sollen, bleibt bis heute ungeklärt. Eine Wunderlegende speist sich aus Unbekanntem, braucht die rätselhafte Erlösung.
Robert Bürger – der Protagonist eines Wunders
Der Auftritt von Robert Bürger als Augenzeuge und selbst ernannter stellvertretender Stadtkommandant im April 1945 wirkte in den 1980er Jahren einem solchen unstimmigen bzw. widersinnigen Verständnis des Opfertodes nicht entgegen. Im Gegenteil. Er beförderte und stilisierte sich selbst als Protagonist einer göttlichen Fügung, in der die scheinbar unverbundenen Ebenen von militärischem Befehl und Gebetserhöhung zusammen kommen. Er, Bürger, habe den entscheidenden Gedankenblitz gehabt und erst mit dem dadurch ermöglichten Auszug der Truppen sei in Verbindung mit einer göttlichen Gebetserhöhung der Weg zur kampflosen Rettung Regensburg frei geworden.
Die damaligen Presseberichte übersahen, dass Bürger an einer neuen Legende strickte und von interessierter Seite mit offenen Armen aufgenommen wurde, gleichsam als ein Geschenk des Himmels. Eiser und Schießl (2012) indes thematisieren diese Zusammenhänge in ihrer Arbeit nicht, obwohl Bürger bereits in der unveröffentlichten Erstfassung seines Aufsatzes (1981) schrieb, die Rettung Regensburgs sei „ein echtes Wunder gewesen“. Dass Bürgers Version nach seinem öffentlichen Auftritt in diesem Sinne rezipiert werden sollte, zeigt die Überschrift eines Artikels in der Mittelbayerischen Zeitung vom 1. Februar 1984: „Das Wunder, das Regensburgs Zerstörung verhinderte“.
In den entsprechenden Presseberichten blieben auch die Möglichkeiten und Bedingungen einer militärischen Kapitulation Ende April 1945 ausgespart. Dazu möchte ich nun kommen.
Kapitulation mit oder ohne Truppen
Der ideologisch aufgeladene Begründungsversuch, nur eine Stadt ohne Kampfgruppe bzw. Kommandant könne im April/Mai 1945 der Zerstörung entgehen, stammt von Robert Bürger. Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei jedoch um eine unhistorische Behauptung ohne Beleg, die der subjektiven Darstellung des wundergläubigen Obersts a. D. entsprungen ist. Vielmehr war in den letzten Kriegstagen eine von einem militärischen Rangführer erklärte Kapitulation die Grundbedingung für die kampflose Übergabe einer Stadt – mit oder ohne vorherigem Truppenabzug. Für diese historische Erkenntnis muss man keine eigenen Forschungen anstellen, da reicht ein Blick in das Standardwerk von Martin Broszat „Bayern in der NS-Zeit“ Band IV (1981), das von Bürger (1983) wohlweislich ignoriert wurde. Das Beispiel Erlangen ist hierbei aufschlussreich.
Der dortige Kampfkommandant, Werner Lorleberg, kam zunächst dem Appell von zivilen und militärischen Führungskräften nach einer kampflosen Kapitulation nicht nach und ließ die Stadt, wie befohlen, verteidigen. Nach Brückensprengungen, schwerem Artilleriebeschuss und trotz der Androhung des Gauleiters, die Todesstrafe bei einer kampflosen Übergabe zu verhängen, lenkte er allerdings am 16. April ein und erklärte die Kapitulation. Erlangen blieb dadurch weitgehend unzerstört. Lorleberg wurde jedoch als Einziger in den letzten Minuten von sog. Durchhalteidioten wegen der kampflosen Übergabe erschossen. Erlangen hat ihm dafür Ende 1945 ein Denkmal gesetzt und einen Platz nach ihm benannt. (Hildebrand Troll: Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945, in: Broszat, 1981, S. 657) In Regensburg hingegen scheint man Berührungsängste zu haben mit einer Kapitulation entgegen der Befehlslage.
Dem Faktum sei Dank
Im Vorwort von Bürgers Aufsatz (1983) spricht der Historiker Dr. Werner Chrobak von „dem Faktum der Räumung Regensburgs durch die deutschen Truppen“, dem „die Stadt zweifelsohne die Verschonung“ verdanke. Dies tut er – wie Bürger – ohne das grundlegende Werke seines Faches „Bayern in der NS-Zeit“ Band IV (1981) zu berücksichtigen. Zudem: Wie ist einem „Faktum“ ein historisches Ereignis zu verdanken? In einem Gespräch vom 8. Juni 2012 wiederholte er diese unhistorische Betrachtungsweise, sprach erneut von dem ominösen „Faktum“.
Bemerkenswert ist dies insofern, weil er sich zwischenzeitlich für seinen Aufsatz „Domprediger Dr. Johann Maier – ein Blutzeuge für Regensburg“ (VHVO Bd 125, 1985) detailliert auf die o.g. Arbeit von Troll (in: Broszat, 1981) bezog. Hierbei geht es ihm um die Frauendemonstration von Bad Windsheim, wo eine „ähnliche Aktion zur kampflosen Übergabe der Stadt mit ganz auffälligen Parallelen zu Regensburg“ (S. 474) stattgefunden habe. Chrobak sucht und vergleicht also ähnlich gelagerte Fälle von kampfloser Übergabe bayerischer Städte. Das historische Beispiel von Erlangen bzw. seine spezielle Kapitulationsvariante – das heißt: die Übergabe durch den Kampfkommandanten während laufender Kämpfe – interessiert Chrobak nicht, obwohl es bei Troll (1981) im Anschluss an die Vorgänge von Bad Windsheim zu studieren gewesen wäre. Das Beispiel Erlangen zeigt deutlich, dass im April 1945 nicht der Abzug der Truppen, sondern eine unbedingte Kapitulation die Voraussetzung für das Ende der Kampfhandlungen ist und Chrobak diese Zusammenhänge ausblendet.
Schießl und Eiser deuten die Rolle und Verantwortung Chrobaks, der das Ehrenamt des Regensburger Stadtheimatpflegers und den 2. Vorsitz des Historischen Vereins ausübt, mehrfach an. In einem noch folgenden Artikel sollen diese Verantwortlichkeit näher besprochen werden.