„Wer regiert, ist im Recht!“
Mohammad Kalali war einer der Flüchtlinge, die vor einem reichlichen Jahr am Münchner Rindermarkt in den Hungerstreik traten. Drei Tage lang nahmen sie zunächst keine Nahrung zu sich, dann tranken sie auch nichts mehr. Nach neun Tagen wurde der Rindermarkt von knapp 350 Polizisten geräumt.
In diesem Zusammenhang steht Kalali, mittlerweile als Flüchtling in der Bundesrepublik anerkannt, am Dienstag in München vor Gericht: Ihm wird Widerstand gegen und Beleidigung von Vollstreckungsbeamten vorgeworfen. Ein Interview.
Von Emil Mosebach
„Jetzt sind Sie verantwortlich für unser Leben, und wir wollen für alle klarstellen, was im 21. Jahrhundert wichtiger ist: Das Leben von Menschen oder ein paar Stücke Papier?“
So endete damals das erste Statement der Flüchtlinge, bevor Sie mit knapp 100 Mitstreitern in München in den Hungerstreik traten. Können Sie diese Frage heute beantworten?
Dieser Satz war ja nur das Ende eines Statements, in dem andere Forderungen enthalten sind, vor allem die Forderung nach einem anderen Verständnis von „Leben“. Wir fordern den Stopp aller Abschiebungen, die Abschaffung der Residenzpflicht und der Lagerpflicht, freie Nahrungswahl und so weiter.
Diese Dinge lassen sich am Ende für uns nur unserer Anerkennung, mit einem Stück Papier, erreichen. Heute haben ich und einige andere Leute, die beim Hungerstreik dabei waren, dieses „Papierstück“. Aber die Regierung hat die Restriktionen für alle anderen immer noch nicht abgeschafft. Die Frage nach der Bedeutung von „Leben“ ist also nicht beantwortet.
Drei Tage nach Beginn des Hungerstreiks wurde Ihnen das Angebot eines runden Tisches gemacht. In einer Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Integration hieß es damals: „Dieses Vorgehen hat sich schon in der Vergangenheit bewährt.“ Warum nicht am Rindermarkt?
Da will ich an unsere Analyse des Rindermarktes erinnern, in der wir über diesen Punkt geschrieben und dabei viele Aspekte mit einbezogen haben. Zusammenfassend: Wir hatten vorher schon mindestens zweimal mit dieser Art von Angebot Erfahrungen gemacht. Deshalb waren wir uns darüber im Klaren, dass sie versuchen würden, unsere schwächere Position auszunutzen, um unseren Protest zu brechen.
Der Zweck dieser „runden Tische“ war es stets, uns unter Zeitdruck zu setzen und gleichzeitig unsere körperliche Schwäche durch den Hungerstreik auszunutzen. Wir saßen als Gruppe gemeinsam am Verhandlungstisch und wurden zu einer sofortigen Entscheidung gedrängt, ohne dass wir die Möglichkeit zur internen Absprache und somit zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung hatten. Am Rindermarkt wollten wir anders verfahren: Dieses Mal sollte nur eine Person an Verhandlungen teilnehmen und nicht die ganze Gruppe.
„Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann.“ Dies ließ Christine Haderthauer, damals bayerische Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Frauen, nach den misslungenen Gesprächen verlauten. Wollten Sie den Rechtsstaat erpressen?
Es ist ja genau umgekehrt. Erpressung kann nur durch die Machtposition des Erpressers durchgeführt werden. Wir hatten keine Machtposition. Außerdem haben wir nicht von einer besseren Behandlung im Vergleich zu anderen Asylsuchenden gesprochen, sondern von einer generellen Kritik und einer generellen Veränderung.
Die autoritäre und negative Haltung der Regierung gegenüber so einer Veränderung und der Einsatz von Macht als Instrument gegen uns hat uns ja erst dazu gebracht, hat uns regelrecht dazu gedrängt, uns für den Hungerstreik zu entscheiden – als einzigen möglichen Weg, uns Gehör zu verschaffen. Was wir verlangen, ist unser Grundrecht. Reflektiert wird es aber als Erpressung.
Nach drei Tagen Hunger- und weiteren vier Tagen Durststreik haben Sie in einer Pressemitteilung geschrieben: „Entweder die Erfüllung der exakten Forderung der hungerstreikenden Asylsuchenden oder Bobby Sandes und Holger Meins auf den Straßen Münchens!“ Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sagte dazu: „Die Rädelsführer haben sich auf eine Ebene mit Terroristen gestellt.“
Mit unserem Statement wollten wir schlicht und einfach klarmachen, wie ernst uns die politischen Forderungen sind. Stattdessen wurden wir als Terroristen bezeichnet. Die öffentliche Meinung wurde gesteuert, um die Akzeptanz einer Räumung zu erhöhen.
Viel Kritik wurde gegen Ihren Sprecher Ashkan Khorasani laut. Der damalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude sprach von einer „Kommandostruktur“. Wurden die Streikenden instrumentalisiert?
Der Hungerstreik hatte keinen Anführer. Ashkan Khorasani war nur ein Übermittler. Alles, was er nach außen getragen hat, kam von den Streikenden selbst. Ich muss noch einmal sagen, dass dies ein Versuch war, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alle Entscheidungen wurden im Plenum der streikenden Non-Citizens getroffen.
Nach bzw. während des Hunger- und Durststreiks wurde von einigen Flüchtlingsorganisationen der Vorwurf geäußert, Sie hätten der Position von Flüchtlingen geschadet.
Dieser Vorwurf kann an die Organisationen zurückgegeben werden. Die Situation der Geflüchteten, die wir heute sehen, ist auch Produkt der langjährigen Aktivitäten dieser Organisationen. Der wesentliche Punkt ist doch, dass Asylsuchende nun selbst in erster Reihe stehen, wenn es darum geht, was gefordert wird und wie das geschieht.
Hatten Sie einen Überblick, was während des Hungerstreiks in den Medien berichtet wurde?
Natürlich haben wir geschaut, was draußen vorgeht, das analysiert und darüber nachgedacht. Wir verstanden, dass die Medien und die Regierung versuchten, den Hungerstreik und die Forderungen zu unterbinden, indem sie Nebenthemen aufgemacht haben, wie Terrorismus, Linksradikalismus, Erpressung und so weiter. Gleichzeitig versuchten wir, Lösungen zu finden, um aus diesem Zustand herauszukommen, und arbeiteten an neuen Strategien.
Am Tag vor der Räumung haben wir eine Einladung zur Pressekonferenz verschickt, wo wir, die Streikenden, selbst sprechen und zeigen wollten, dass die Entscheidungen alle von uns selbst kamen. Doch dazu kam es ja nicht mehr.
Wie haben Sie die Räumung erlebt?
Es war einer der härtesten Momente in meinem Leben. Die physische und mentale Schwäche vom trockenen Hungerstreik, auch der Zeitpunkt, die Brutalität und die plötzliche Konfrontation mit dieser Realität haben mich psychisch so getroffen, dass ich heute noch damit kämpfe. Es war purer Terror und Unterdrückung durch die Regierung. Heute bin ich davon überzeugt, dass sie genau wussten, was sie taten.
Wie wurden Sie nach der Räumung von der Polizei behandelt? Ihr Zustand muss ja sehr kritisch gewesen sein, nach fünf Tagen ohne Flüssigkeit und insgesamt neun Tagen ohne feste Nahrung.
Ich wurde bis zum Mittag auf der Polizeistation festgehalten, also etwa sieben Stunden lang. Erst als ich verhört werden sollte, haben sie mich gefragt, ob ich einen Arzt brauche. Das war nach vier oder fünf Stunden. Da tat man mir dann einen „großen Gefallen”: Sie gaben mir ein Glas Wasser und sagten, ich dürfe so viel trinken, wie ich wolle.
Am Dienstag wird der Prozess gegen Sie stattfinden. Wie, denken Sie, geht er aus?
Nach dem, was in den bisherigen Rindermarkt-Verhandlungen gegen meine Freunde passiert ist, und meinen eigenen Erfahrungen nach glaube ich, dass die Gerichte uns nicht anhören werden. Sie suchen gar nicht nach Fakten. Die Polizisten lügen offensichtlich vor Gericht. Selbst wenn wir Videos als Beweismittel präsentieren, werden wir für schuldig befunden. Wir werden in diesem Gerichtssystem ignoriert, genauso wie die realen Fakten. Auf dieser Grundlage ist für mich das Urteil schon vorher klar. Wer regiert, ist im Recht.
Dies ist ja nicht der einzige Prozess, bei dem Ihnen Strafen drohen. Wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht wurden Sie beispielsweise in Regensburg verurteilt und müssen nun insgesamt 891 Euro Strafe zahlen.
Seit Beginn des Protests üben die Behörden Repression aus – nicht nur gegen mich, sondern gegen uns alle. Eine Form dieser Repression sind die Strafen, dazu kommen die Kosten für Anwältinnen und Gerichtsverfahren. Auf der anderen Seite stehen der psychische Druck und der Stress. Um ehrlich zu sein, habe ich längst keinen Überblick mehr darüber, wie viele Strafen ich schon habe und wie viele ich noch bekommen werde.
Bis jetzt konnten wir das in vielen Fällen mit Unterstützung durch die Rote Hilfe und durch Einzelspenden von solidarischen Menschen regeln. Im Moment müssen Citizens, die den Protest unterstützen, zusammen mehr als 15.000 Euro an Strafen und Verfahrenskosten bezahlen. Wir hoffen auch weiterhin auf diese Unterstützung, damit wir die Möglichkeit haben, unser Recht auf Protest wahrzunehmen und eine Veränderung zu erreichen.