„Ist genial, oder?“
Die Hamburger Punk-Legende Jens Rachut (Angeschissen, Dackelblut, Oma Hans) war am Montagabend auf Einladung der Alten Mälzerei im Ostentorkino. Der Sänger, Hörspielautor und Theatermacher las begleitet von Thomas Wenzel (Die Sterne, Die Goldenen Zitronen) aus dem Buch „Der mit der Luft schimpft“, das über 130 Texte seiner zahlreichen Bands versammelt.
„Und da sah ich Euch, diese unglaubliche Powertruppe und dann vor allem diesen Sänger, Jens Rachut. Der stand da, glaube ich, mit 70er-Jahre-Klamotten, Gummistiefeln und diesem irren Blick… Völlig außerhalb von allem, was ich fassen konnte. Und dieses Charisma. Wo kam dieser Mann denn eigentlich her?“
Im Gespräch mit Stephan Mahler (Ex-Slime) erinnerte sich im März 2020 Tocotronic-Bassist Jan Müller in seinem Podcast „Reflektor“ daran, wie er in den späten 1980er Jahren Jens Rachut in der Fabrik in Hamburg erstmals auf einer Bühne gesehen habe.
Einer der einflussreichsten deutschsprachigen Punk-Sänger
Damals sang der heute 67-jährige Jens Rachut in seiner zweiten Band: Angeschissen. Zahlreiche weitere Bandformationen sollten in den kommenden Jahrzehnten folgen. Darunter auch die mitunter einflussreichsten und stilprägendsten Bands im deutschsprachigen Punkrock überhaupt.
Die Liste geht insgesamt ungefähr wie folgt: Permanent Frozen, Angeschissen, Blumen am Arsch der Hölle, Das Moor, Dackelblut, Oma Hans, Kommando Sonne-nmilch und Nuclear Rapid Fuck Bomb. Daneben gibt es die Rachut-Meta-Band Ratttengold und das Elektro-(Punk-)Projekt Alte Sau sowie die aktuelle Hauptband, das Postpunk-Trio Maulgruppe.
Lesetour mit Musikbegleitung
Jens Rachut ist derzeit mit seinem im letzten Jahr erschienenen Buch „Der mit der Luft schimpft“ auf Lesetour. Darin sind über 130 Texte des Ausnahmeautors versammelt, die er – so der Ventil Verlag – „selbst ausgewählt“ hat. Die minimalistischen und grobschlächtigen Zeichnungen stammen von Raoul Doré (Schlagzeug bei Alte Sau).
Am Montag las Rachut im Regensburger Ostentorkino. Begleitet wurde er dabei von einer weiteren Legende der Hamburger Musikszene. Thomas Wenzel (Die Sterne, Die Goldenen Zitronen, Alte Sau) spielte mit reduziertem Gitarren-, Beat- und Keyboardeinsatz gelegentlich dazu. Daneben trug auch Wenzel ein paar Gedichte vor.
Texte aus allen Schaffensperioden
„N’Abend“, sagt Rachut und erzählt, dass als er Ende September 2018 mit seinem Theaterstück „Schneckengott“ zuletzt in Regensburger gewesen sei, der SSV Jahn in der Zweitligatabelle auch schon damals vor St. Pauli und dem HSV lag. Jetzt sei es wieder so. Das ist es zunächst mit ortsbezogenem Smalltalk und stimmt noch nicht einmal. Nach dem 6. Spieltag 2018/2019 lagen sowohl der FC St. Pauli als auch der Hamburger SV vor Regensburg, obwohl der Jahn damals den HSV am selben Spieltag auswärts mit 5:0 schlug. Aber das nur am Rande.
Rachuts Buch sei eigentlich anders geplant gewesen, lässt er die knapp 40 Anwesenden wissen. Ein Teil vom Mond sollte auf die Erde fallen, alles wäre voller Staub, die Menschen trügen Maske. Dann kam „scheiß Corona“ und an den Plot war nicht mehr zu denken. 80 Seiten musste er löschen. Jetzt besteht das Buch eben aus anderen (Song-)Texten.
Jens Rachut und Thomas Wenzel tragen etwa 20 Texte aus unterschiedlichen Schaffensperioden vor. Neben einigen älteren Songs wie „Angst macht keinen Lärm“ (Angeschissen) oder „Labskaus in der Tube“ (Kommando Sonne-nmilch) sind auch etliche neue Texte dabei.
Rachut, ein eigenes Genre
Zum Beispiel eine Geschichte, „die genial ist“, so Rachut. „Im Pferd geblieben“ handle von einer Hippiebeziehung, die im Trojanischen Pferd endet. In dem Maulgruppe-Song geht mitunter um bekifften „Liebeskokolores“ und dreißig Krieger, die angsterfüllt und voller Knoblauch-Blähungen im „Gaul aus Holz“ auf ihren Kriegseinsatz warten. Im Refrain heißt es: „Ach wär ich doch im Pferd geblieben / statt zu töten, voll mit Trieben“. Rachut applaudiert selbst: „Ist genial, oder?“
So wechselhaft Rachuts Bands sein mögen, so beständig und unverwechselbar sind wiederum seine Art zu singen und zu texten. Egal welche Band, Rachut ist sein eigenes Genre. Die Geschichten in den Songtexten sind voller Absurditäten und Kuriositäten. Manchmal sind sie Miniaturen mit Alltagsbeobachtungen, Kommentare zu Figuren und Ereignissen der Weltgeschichte, Politik, völligen Nebensächlichkeiten oder todernsten Themen.
So etwa das „Lied gegen Metastasen“. In „Narzissenwelt“ (ebenfalls Maulgruppe) heißt es: „Doch plötzlich kommen sie wieder / sie schwärmen aus, verteilen sich und werden dann sehr schnell / und fühlen sich wie Sieger / unsichtbar, Streuner, Hobbykiller, Scheiße / Metastasen rasen und machen keinen Lärm.“
Keine Zugabe bei Lesung
Rachut dichtet mal abwechselnd, mal gleichzeitig wütend, grob, klug, völlig ungehobelt, vulgär, sanft und melancholisch. Dabei sind sein Witz und seine Freude an Wortschöpfungen, kuriosen Wörtern, Sprache und ihrem Klang stets unverkennbar. Die üblicherweise im dringlichen Sprechgesang gekeiften Texte kommen in der Lesung ganz anders intoniert daher. Sie sind zugänglicher und zerbrechlicher und wirken auch ein Stück weit komischer.
Nach knapp einer Stunde ist Schluss. Ein „Das war’s“ möchte das Publikum unter Applaus noch nicht ganz glauben und erwartet Zugaben. Doch Rachut meint trocken: „Zugabe? Haben wir nicht. Wir lesen ja nur.“