In Regensburg wird die Demokratie beerdigt
Üblicherweise berichten wir im Nachhinein von Veranstaltungen, bei dieser ist eine Ausnahme notwendig. Denn es wird die Demokratie beerdigt, und ob danach noch freie Meinungsäußerungen zulässig sind – wer weiß. Spaß beiseite. Am morgigen Samstag (26.9.) beerdigt das aus über 25 Gruppen und Initiativen bestehende “Stop TTIP – Regensburger Bündnis” die Demokratie. Soweit käme es zumindest in den Augen des Bündnisses, wenn die obskuren Handelsabkommen TTIP und CETA Realität werden. Zu der Aktion wird ein Sarg begleitet von Trauermusik und schwarz gekleideten Trauergästen durch die Altstadt getragen. An sieben Plätzen wird Station gemacht und eine Trauerrede gehalten.
Geboren wurde Demokratia vor über 2.500 Jahren durch Kleisthenes von Athen, der als erster eine Herrschaft der Vollbürger durchsetzen konnte. Er ordnete die Menschen Gemeinden zu, die Vertreter in die höheren Gremien entsendeten – so wollte er die Tyrannei und die übergroße Macht einzelner Adliger beschränken. Es gelang ihm.
Doch seit über 2.500 Jahren erstarken Gegenkräfte in verschiedenen Gewändern und setzten unserer Demokratia immer wieder zu. Doch gerade in neuerer Zeit, in den vergangenen 300 Jahren, schwang sich Demokratia auf, um in neuer Stärke und Kraft ihre Mission zu erfüllen: Den Mächtigen weniger Macht und den Ohnmächtigen mehr davon zu geben. Und nicht nur „Vollbürgern“ – sondern allen Menschen. So gab es im Jahr 2000 bereits 85 souveräne Demokratien. Bürger hatten verbriefte Rechte und die Möglichkeit, ihre Staatswesen mitzugestalten.
Gleichzeitig fraßen sich mächtige Feinde der Demokratia in unsere Gesellschaften. Es ist die Gier nach Geld und Macht, die unausrottbar unsere Gehirne kolonisieren. In der Neuzeit nutzt die Gier gern Konzerne, die dann vorgeben (!) allein Gutes im Schilde zu führen, und sich über jede Fessel, jede Kontrolle, jede Unpässlichkeit entzürnen. Es sind demokratisch gewählte Politiker, die auf den Jahrtausende alten Trick hereinfallen, dass Gier ihr wahres Gesicht nur selten zeigt.
Gierige Menschen ersannen den Standortwettbewerb
Die Gier setzte ihr arg zu, unserer Demokratia. So ersannen gierige Menschen den Standortwettbewerb. Sie sprachen: Laßt Unternehmen in vielen Staaten ein Standbein haben und überlasst sie sich selbst! Und natürlich wollen die Konzerne dort Steuern bezahlen, wo sie am geringsten sind. Schon sinken die Steuersätze – und Demokratia blutet aus. Sie kann kaum mehr herangezogen werden, um zu gestalten, da alle nur noch an’s sparen denken.
Ein weiterer Trick ist der unkontrollierte Handel, wo jeder alles überall hin verkaufen können soll. Egal ob Kartoffeln und Äpfel auf den Feldern vor unserer Haustür wohl gedeien. Wenn sie aus Chile, Israel oder Italien billiger sind, dann sei das besser. Also transportiert man Milliarden Tonnen Güter um die Erde. Um am Ende zu erkennen, dass man sie dabei zerstört und dass die pausenlose Konkurrenz und die endlose Geldgier dazu zwingen, immer noch mehr Produkte zu produzieren, zu transportieren und zu konsumieren. Hieße Fortschritt nicht, ein besseres System zu schaffen – mit Hilfe von Demokratia?
Nein, die Gier und die Konkurrenz soll von noch mehr Hindernissen befreit werden, die den unendlichen Fluß der Produkte verlangsamen oder ordnen könnten: Noch mehr Wettbewerb, noch mehr Kostendruck, noch mehr Profitmöglichkeiten für Konzerne soll es geben. Während Demokratia es Völkern ermöglicht, dem Treiben Grenzen zu setzen, soll mit den neuen Handelsabkommen TTIP und CETA das Volk von Konzernen verklagt werden können, wenn sie Gesetze machen, die deren Profite schmälern. Das schnürt Demokratia die Luft ab.
Gesetze werden gestoppt, da sie Handelshemmnisse wären
Damit nicht genug: Wenn Völker sauberere Luft als andere Völker wollen, oder mit strengeren Gesetzen Pestizide aus dem Markt drängen wollen, dann werden die Gesetze gestoppt werden, da sie Handelshemmnisse wären (die Gierigen nennen es „Regulierungskooperation“). Wenn wir gentechnisch veränderte Organismen nicht wollen, vielleicht weil sie nur dazu führen, dass Bauernhöfe in Industrieanlagen verwandelt werden, dann werden wir das nicht mehr dürfen. Weil wir nicht unmittelbar Schaden nehmen wenn wir Gen-Produkte essen. Nur noch was uns direkt krank macht, soll nicht verkauft werden dürfen – alles andere muss verkauft werden dürfen, egal ob es uns später schadet, oder uns vielleicht schadet, oder einer bäuerlichen Landwirtschaft schadet.
Wenn Völker öffentliche Dienstleistungen der Geldgier entziehen wollen (etwa Gesundheit, Bildung oder Müllentsorgung), dann dürfen sie das mit TTIP nicht mehr: Hinter einmal erreichte Liberalisierungen darf nicht zurück. In TTIP und CETA nennt man es „Standstill“. Doch es ist mehr als „Stillstand“, es ist das Ende von Demokratia, sie wird von der Gier erdrückt. Werden diese Verträge Realität, dann ist sie Tot, die Herrschaft des Volkes. Dann sind es wieder Adelige, die herrschen und sich gegenseitig mit Ämtern absicher, wie vor 570 v. Chr. in Athen. Heute ist es der Geldadel. Der drittreichste von ihnen, Warren Buffet, Milliarden US-$ schwer, spricht es deutlich aus:
„Seit 20 Jahren tobt ein Klassenkampf, und meine Klasse hat gewonnen.”
Wie Recht er hat, entscheidet sich daran, ob wir TTIP und Co verhindern werden.
Harald Klimenta
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Hallo, wir starten um 11 Uhr am Europaplatz. Kommt dazu, wenn ihr ein wenig Zeit habt – auch später: ihr werdet uns finden, wir bewegen uns von 11 Uhr bis 15 Uhr durch die Altstadt und klappern die großen Plätze ab…
joey
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Schön.
Gier aber existiert bei jedem Tier (z.B. gut sichtbar bei Nagetieren), sie ist ähnlich massiv wie der Sexualtrieb der Wunsch nach Vorräten. Laßt mal den Moralfundamentalismus in Kirchen und Moscheen, es geht hier um klare politische Sachfragen.
TTIP steht im Zusammenhang mit der EU. Wer was “gegen die EU” sagt, der ist ein Rechtspopulist, sagen uns Gabriel, Schulz, Kauder und dergleichen. Es gibt nur wenig Möglichkeiten, in die EU demokratisch einzuwirken, z.B. weil keine Wahlgleichheit und nur eine jeweils nationale Wahlfreiheit vorhanden ist. Eine konträre politische Diskussion findet nicht statt, wir haben europapolitisch eine große Koalition der “Volksparteien”, wo sich SPD und Grüne recht nahe sind.
Die Schweiz macht es vor: direkte Demokratie schafft hohe Tierschutz- und Lebensmittelstandards, die politische Klasse hätte sich gerne der EU angeschlossen, hatte schon alles “fertig” verhandelt.
Ob Deutschland überhaupt ein souveräner Staat ist, steht im Lichte der Snowden Sache, der Folterflüge und Drohnenangriffe ohnehin in Frage. Wahrscheinlich sind wir noch militärisch besetzt, lediglich an einer langen Leine.
Zumindest habe ich keine “Volkspartei” ins EU Parlament gewählt. Und ich trage keine “Jack Wolfskin” Jacke, denn diese Marke steht für schnöde Gier, wollte man doch von der TAZ Geld haben wegen der Tatze…
erik
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welche Demokratie?
wenn man bedenkt, dass 7,5 Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent des Vermögens auf sich vereinen können und im Gegensatz dazu immer mehr Bürger an den wirtschaftlichen und damit auch an den sozialen Abgrund gedrängt werden, kann man wohl kaum mehr von Demokratie sprechen!
https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverteilung_in_Deutschland#.C3.9Cberblick_Verm.C3.B6gensverteilung_2002_.E2.80.93_2007
Mr. T
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Was hat eine ungerechte Vermögensverteilung mit Demokratie zu tun?
Betonkopf
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Worum soll es denn nun gehen?
Erstens hat Demokratie an sich nichts mit der gerechter Verteilung der Güter zu tun. Es gibt auch einen demokratischen Kapitalismus, ob Sie es nun glauben wollen oder nicht. Aus der von Ihnen so gerühmten Epoche der griechischen Demokratie stammt übrigens auch der Begriff der Ökonomie. Die oikonomia ist ein klassisch kapitalistisches Lehrbuch darüber wie man ein Landgut bewirtschaftet. Geschrieben hat es Xenophon, so ungefähr 100 Jahre nach der Zeit des von Ihnen so gefeierten Kleisthenes.
Ihr ganzes Gerede von der Gier können Sie sich in diesem Zusammenhang also vollends sparen.
Wenn Sie aber nicht von der Demokratie sondern von Verteilungsfragen sprechen wollen, dann sind Sie bei der Gier schon wieder völlig falsch gewickelt. Sie können Unternehmen nicht vorwerfen, dass diese Gewinne machen möchten. Das ist eben der Kapitalismus und keine Frage individueller Verfehlungen in Form von Gier. Sie kommen ja daher wie mein Beichtvater. Stellen Sie doch lieber mal Systemfragen, wenn Sie schon den Klassenkampf anführen. Oder lässt sich der Klassenkampf bei Ihren eifrigen Unterstützern etwa nicht sonderlich gut an. Ich habe mich herzlich über Ihre letzte Demo amüsiert, bei der sich die Polizei bedankt hat, wie artig da alles ab lief. Nicht etwa, dass ich mir eine Krawalldemo gewünscht hätte, aber es war trotzdem ein wirklich schönes Bild und wenig überraschend, wenn man die versammelten Pensionsansprüche (nicht Rentenansprüche) mitdenkt.
Wenn Sie also mit dem Klassenkampf an traben, dann fordern Sie doch bitte nicht irgendeine Art von individuellem Wohlverhalten. Der Gier zu widerstehen, damit können Sie eher in ein Benediktinerkloster eintreten als Klassenkampf zu machen.
“Der Christ verhält sich zum Sozialisten wie der Benediktiner zum Jesuiten.” Ist meine ich sinngemäß Trotzki, kann mich aber täuschen.
Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, der soll von der Gier schweigen. – Betonkopf
Xaver
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Ich finde, bei TTIP (und allen anderen wichtigen Entscheidungen) sollte es Volksabstimmungen geben. So, wie es jetzt ist, kann man nicht wirklich von Demokratie sprechen.
Das wäre zwar vermutlich das AUS für TTIP und ein kleiner Verlust (der zu verschmerzen ist) für globale Konzerne, aber ein Gewinn für alle Menschen: Weniger schädliche Stoffe und genveränderte Pflanzen in Lebensmitteln, weniger Schadstoffe, weiterhin Trinkwasser aus dem Wasserhahn…
Gewisse Standards müssen schon bleiben. Und die Geheimgerichte gehen gar nicht!