Heimkommen#2: Alles Ansichtssache
Heimatstolz. Heimatsound. Sogar Heimatministerium. Kaum ein Begriff wurde in den vergangenen Jahren so sehr missbraucht wie das Dahoam. Flo Neumaier ist Nachwuchsautor, Humorazubi beim Fernsehen und Regensburger a.D. – Für regensburg-digital schreibt er ab sofort regelmäßig über seine Besuche, sein Heimweh, sein Regensburg.
Soll ich fahren? Soll ich nicht? München ist kein Hotspot und Stand jetzt hat die Stadt Regensburg einen der niedrigsten Inzidenzwerte im Freistaat. Trend positiv. Alles legal. Ich entscheide mich zu fahren. Regensburg ist nicht Tirschenreuth. Die erste große Erkenntnis des Tages.
Ich denke noch darüber nach, als ich beim Kreuz Holledau einmal kurz auf den Blinkerhebel tippe und rechts in Richtung Osten abbiege. Von der Strecke merke ich gar nichts mehr. Die läuft automatisch bis Ausfahrt Burgweinting. Das erste Bild, das ich von Regensburg sehe, ist der Fernsehturm, immer der Fernsehturm und dann: Daheim.
Um Bilder soll es gehen bei diesem Ausflug. So ein Text will online schön illustriert sein. Also flugs das Smartphone aufgeladen und alle drei Kameralinsen sanft poliert. Wofür drei Linsen? Keine Ahnung! Aber sie machen schöne Fotos und kaschieren bei Automatikeinstellung meine himmelschreiende Unfähigkeit eine richtige Kamera zu bedienen.
Daheim angekommen fällt mir als erstes die ehemalige Kaserne in der Bajuwarenstraße auf. Plötzlich bunt. Wie lange ist das wohl schon so? Noch nicht ganz fertig mit dem Gedanken, da bin ich auch schon vorbei. Schnitt 60 für die Grüne Welle auf der Landshuter Straße? Erwischt, Tschakka!
Mit Farben war‘s das allerdings für dieses Winterwochenende. Den restlichen Samstag wird ununterbrochen kaltes Wasser vom Himmel fallen. Die Donau steigt.
Ich parke am Unteren Wörth und gehe ein paar Schritte in Richtung Altstadt. Praktisch allein, ohne das regensburgtypische Gewurl. Einen Parkplatz gab‘s sofort. Im Stau stand ich schon lange nicht mehr. Seit einem Jahr wirkt die Stadt eher wie die Kulisse für eine mittelpreisige ZDF-History Doku: Ähnlich karg, wenige Statisten und die Ausleuchtung ist auch Mist. Zumindest für letzteres gibt es eine Lösung: Photoshop.
Nun. Wie Regensburg bebildern? Dom, Steinerne Brücke, Salzstadel, Wurstkuchel. Alles drüber. Alles Touri. Alles Kitsch. Trotzdem: Wenn ich die Domtürme über die Häuser spitzen sehe, dann geht es mir gut und das muss etwas bedeuten. Ich bin empfänglich dafür. Offensichtlich. Vielleicht auch der ein oder andere Leser? Also gehe ich spazieren. Etwas anderes bleibt mir auch nicht übrig. Vielleicht findet sich das perfekte Motiv ja irgendwo auf der Strecke. Hoffentlich.
Modell 1 – Der Klassiker. Von der eisernen Brücke in Richtung Altstadt. Ein bisserl kitschig ist das schon. Museum, Dom, Steinerne Brücke, etc. So simpel, so erwartbar. Mein erster Reflex: Umdrehen, absichtlich die Kehrseite schießen. Aber da liegt nur Schweigers Barefootboat. Um diesen pastellfarbene Spießeralbtraum mit Schwimmflügeln, der – und da bin ich mir ziemlich sicher – nach Rosmarin riecht, mache ich gedanklich einen großen Bogen. In diesem Sinne: Vielen Dank, aber wenn ich mich in Regensburg gruseln möchte, bleibe ich traditionell und schaue Richtung Schloss.
Modell 2 – Schwer philosophisch. Die Albertstraße. Sie steht symbolisch für: Der Weg ist das Ziel. Die Dialektik von Aufbruch und Ankommen und diesen ganzen pseudointellektuellen Kram. Alles sehr tiefgründig. Genau DAS brauche ich. Ich passe einen Moment ab, an dem ich eine Haltestelle für mich allein habe und schaue dann möglichst bedeutungsschwer in die Kamera. Meine Haare sind nass vom Eisregen. Perfekt.
Anmerkung: Ein bisserl Scham sei an dieser Stelle erlaubt. Die fremde, aber auch die eigene. Ich schäme mich jedenfalls kurz und ziehe weiter.
Modell 3 – Understatement…um jeden Preis. Ein x-beliebiges Baugerüst in der Maxstraße rundet meine Trilogie des Grauens mit leicht unscharfer Tristesse ab. Baustellen-Charme trifft Nostalgie, trifft Fortschritt, trifft irgendwas. Ich bin unzufrieden. Das krieg ich nicht mal ironisch hinargumentiert. Ich hätte dann doch gerne etwas mehr Stimmung, etwas mehr Regensburg. Ganz ohne Wahrzeichen komme ich wohl doch nicht aus.
Was habe ich mir vorgestellt? Volle Restaurants am Haidplatz oder kleine Grüppchen von Rauchern , vor den Bars irgendwo zwischen Pustet Passage und Römling. Menschen, die im Café ihre Zeitung lesen oder Stammtischbrüder im Hofbräuhaus? Pfeifenrauch? Sicher nicht. Corona hat Regensburg verändert. Es ist kälter geworden, zumindest vorübergehend. Nur auf den Postkartenmotiven ist alles wie immer. Da sind sowieso nie Leute drauf. Nur Fassaden und Zinnen, Brücken und Türme. Die mittelalterliche Architektur, die Skyline trotzt jedem noch so zähen Winterlockdown.
Das ist so tröstlich wie egal. Denn mir wird bewusst, dass in meinem Kopf zwar Pandemie angesagt ist, aber doch nicht in Regensburg. Ich kann das Regensburgbild, das ich mir vorgenommen habe, gar nicht machen. Die Stadt gibt das grade nicht her. Die zweite Erkenntnis des Tages.
Aber ich habe Bilder. Eins von denen wird’s tun. Schön sind sie sowieso. Idyllisch und erfrischend realitätsfern. Oder gerade nicht. Alles Ansichtssache.
Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich wieder das Regensburg sehen kann, das ich sehen möchte. Und das ist okay. Wenn das alles vorbei ist, wird der Dom noch da sein, die Steinerne Brücke, die Donau. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Menschen zurückkommen, sonst ist das alles nicht mal halb so schön. Ich komme auf jeden Fall und freue mich schon jetzt auf das erste Bier und die erste Zigarette mit Freunden in der Stadt.
So haben wir das immer genannt: „die Stadt“. „Wir gehen in die Stadt“. Das bedeutete in meinem Fall circa zehn Minuten Fußweg, vielleicht etwas mehr über die Nibelungenbrücke. Ich glaube, ich habe heute verstanden, dass mit „der Stadt“ nie eine geographisch umrissene Fläche gemeint war, etwa ab Hauptbahnhof, sondern etwas Soziales, das leider gerade Winterschlaf hält. Die dritte Erkenntnis. Und damit drei mehr als an einem gewöhnlichen Tag. Das muss reichen.
Ziemlich nass und verfroren, mit roten Backen und voller Speicherkarte mache ich mich auf den Rückweg. Die Donau hat ihren Scheitelpunkt überschritten, der Tag sowieso. Das Ergebnis meiner Bemühungen sehen Sie oben. Und?
Mr. T.
| #
Die Menschen werden zurück kommen, die, die Regensburg so schön machen, und die anderen. Spätestens mit dem Frühling lassen sie sich den Einzug nicht mehr nehmen.
Piedro
| #
“Das Ergebnis meiner Bemühungen sehen Sie oben. Und?”
Weniger Bein, mehr Turm!
Ein schöner Text. Melancholische Belanglosigkeit, auf der vergeblichen Suche nach intellektueller Bedeutung, sogar etwas Wehmut nach dem Unerwünchten (Touristen), verloren zwischen Wetter und Frust. Sehr passend. Dass Humor da auf der Strecke bleibt ist nicht verwunderlich. Wer in Regensburg lächelt ist suspekt, wer laut lacht ist ein Zyniker oder heißt Stein. Oder nicht?
Mr. T.
| #
Piedro, eher nicht. In Regensburg wird viel und laut gelacht. Weil so schön sein kann. Und weil sich manches nur so ertragen lässt.
Mathilde Vietze
| #
Ich ärgere mich auch über den “Heimat-Scheiß,” der aus lauter Unechtem
besteht und nur Klischees bedient. Und ebenso die selbsternannten “Heimat-
dichter,” die einen Blödsinn in einem sog. “Dialekt” zusammenschreiben
und damit auch noch Geld verdienen.
Bertold Brecht
| #
Wow, selten so einen tiefsinnigen und anspruchsvollen Text gelesen! Ich rätsle immer noch über die versteckten Ebenen und Botschaften. Würde mich nicht wundern wenn Sie mal den Literatur-Nobelpreis bekommen würden! Oder den für Philosophie (gibt es den überhaupt? Wenn nicht müsste man den für Sie einführen.). Oder noch besser beide zusammen.
Und dann auch noch dieses Hammer-Foto. Wenn es einen Nobelpreis für Fotografie geben würde, Sie hätten ihn wahrlich verdient!
Und auch Ihr 30-Sekunden-Auftritt beim “Ringlstetter” als “Humor-Azubi”. Einfach nur genial und super lustig. Ich hätte mir fast in die Hose ge… vor lauter lachen!
Ich werde gleich morgen früh bei dieser Schwedischen Alfred-Nobel-Akademie anrufen und vorschlagen, einen Nobelpreis für Humoristik einzuführen und Sie als ersten Preisträger nominieren. Sie stellen ja alles bisher Dagewesene in den Schatten, von Karl Valentin, Heinz Erhardt, Loriot, Gerhard Polt, Günter Grünwald bis Hannes Ringlstetter!
Solche Multi-Talente gibt es heutzutage leider nur noch sehr selten. Sie können Autor, sowohl Ernst als Humor, München, Holledau, Regensburg, Tirschenreuth, Stadt, Land, Fluss, Hund, Katze, Maus, Heimat, sowohl fremd als auch “dahoam”, Philosophie, Melancholie, Dialekt und Dialektik, Tiefsinn, Leichtsinn und offensichtlich ganz besonders gut Schwachsinn!
Ich bin fest davon überzeugt dass Sie mal ein ganz großer werden und dass wir noch viel von Ihnen hören werden. Nach dem Humor-Azubi folgt sicherlich der Geselle, dann der Meister und/oder Techniker, dann das Diplom bzw. Bachelor/Master. Dann die Doktorarbeit beim Polt, Grünwald, Auer Karl Rotthalmünster (BR) oder Mike Hager (“Studiotechniker Nullinger” Antenne Bayern).
Und Sie haben auch den Mut und die Ehrlichkeit zu sagen was Sie (leider) nicht so gut können, z. B. Kamera. Mit Blenden als Substantiv kennen Sie sich nicht so gut aus, dafür aber umso mehr mit dem gleichnamigen und kleingeschriebenen Verb.
Bleibt nur noch die Frage was der Unterschied zwischen einem Blender und einem Möchtegern ist: Der Blender weiß, dass er nichts kann, während der Möchtegern davon überzeugt ist, dass er was kann. Anscheinend sind Sie als Multitalent beides gleichzeitig.
R.G.
| #
Oha, Bertolt Brecht schreibt wieder. Kompetenter als.
Aus der DDR?