Gewöhnlich ungewöhnlich
Das 11. Tocotronic-Album verschreibt sich der Liebe und lehnt sich weit in den Pop hinein. Das ist ungewöhnlich. Auf gewöhnliche Weise.
Tocotronic sind ein ungewöhnliches Phänomen in der hiesigen Musiklandschaft. Von vielen verehrt, von anderen als belanglos und langweilig betrachtet, von wiederum anderen mit großer Antipathie bedacht. Nun, das wäre das an sich noch gar nicht so ungewöhnlich, schließlich verläuft die Skala der Zu- und Abneigung andernorts analog. Dennoch besteht in vielen Fragen ein ungewöhnlicher Konsens zwischen Wertschätzung und Verachtung. Tocotronic gelten hier wie dort als kopflastig, verschroben, lyrisch aufgeblasen, musikalisch unentschlossen, privat verschlossen, in der Öffentlichkeit großen Gesten zugeneigt, popkulturell versiert und – das ist vielleicht die größte Übereinstimmung – ein eigener Mythos. Tocotronic – eine Marke, ein Genre für sich. Doch wie viel davon ist Schein und wie viel Sein?
Was liefern Tocotronic denn eigentlich ab, wenn sie nach über 20 Jahren und 10 Studioalben ein weiteres, selbstbetiteltes und komplett in rot gehülltes Album ausgerechnet am 1. Mai auf den Markt bringen? Was soll das? Eine Band ist auch immer eine Projektion all der Zuschreibungen, mit denen sie belegt wird, deren entsprechende Bestätigung von ihr erwartet und stets auch bewertet, geliebt oder gehasst wird. Vielleicht sollten deshalb erst einmal ein paar Fragen gestellt werden. Nehmen wir exemplarisch die Kopflastigkeit bzw. Intellektualität. Seit jeher haftet dieses Label an Tocotronic, kein Bericht kommt ohne den Verweis darauf und den „Diskurscharakter“ der Band aus. So weit, so bekannt. Interessant wird es, wenn man diese Zuschreibung in Verhältnis zu den gewöhnlichen Erwartungen an Musiker_innen, die sich im Bereich der (deutschsprachigen) Pop/Rock-Musik bewegen, setzt.
Werden Tocotronic etwa deshalb als derart intellektuell gesehen, weil sie eben nicht so strunzdumm sind wie viele andere im Popbusiness? Weil sie sich zu Politik und Gesellschaft ebenso äußern können wie zu Pop, Kunst oder Literatur, ohne, dass man vor Fremdscham im Boden versinken möchte? Weil sie nicht aus jeder politischen Betätigung ein gigantisches Event machen? Gelten sie etwa deshalb als so verschroben, weil sie ihren Köpfe nicht reflexartig in jede RTL-Kamera halten und sich trotz deutschen Texten nicht in die Deutschtümelei hiesiger Marketingstrategien einspannen lassen? Offenbar bereitet es reichlich Unbehagen, wenn eine Band zugleich kommerziell erfolgreich und künstlerisch nicht beliebig ist und dazu noch eine unverkennbar reflektierte Haltung hat. Ungewöhnlich scheint das zumindest zu sein.
Die poppigsten Tocotronic aller Zeiten wagen sich nun also mit dem Roten Album auf den Pfad der Liebe, der so ausgelatscht ist wie kein anderer. Kein Thema wurde öfter besungen und hat so viel Peinlichkeiten hervorgebracht wie die Liebe. Das ist für Tocotronic natürlich noch lange kein Grund nicht eben ein Paket mit 13 Songs zu eben diesem Thema zu schnüren. Es ist vielleicht sogar Motivation und Herausforderung. Ein Wagnis ist es allemal. Letzteres zeigt sich bereits bei Prolog, dem ersten Song, der nicht nur vorbereitend Soundschema, Atmosphäre und eben Thematik („Liebe wird das Ereignis sein“) des gesamten Album definiert, sondern auch nicht wirklich zünden will. Zu eintönig und zerfahren, ja letztlich: viel zu langweilig.
Doch ist das zum Glück kein Omen. Hinter diesen Song fallen Tocotronic nicht zurück und schließen gar im Nachgang die stärkste Albumphase an. Die hymnische, in Gitarrenflackern gehüllte Ballade Ich Öffne Mich, das wunderbare Die Erwachsenen mit dem ebenso wunderbaren Verweigerungsslogan „Wir sind Babys“ und das pointiert refrainlastige Rebel Boy. Das Rote Album entwickelt sich doch differenzierter und vielseitiger als das wirklich überflüssige Prolog vermuten ließe. Der Popduktus ist Trumpf, gar keine Frage, aber diesseits dieser Grenzen werden die Winkel behutsam und doch entschlossen ausgeleuchtet. Beispielsweise mit zarten Streichermelodien bei Solidarität oder Haft, das überdies samt seinen The-Smiths-Anleihen so kitschig wie vortrefflich Klischeeromantik und Liebeskitsch persifliert. Oder mit gnadenlosem Hitpotential wie bei Zucker: „Du bist aus Zucker, du bist zart / Du schmilzt dahin, du wirst nicht hart / Darling, Candy Parzival / trinkst Cherry Cola aus dem Gral / mit spitzen Fingern – Nagellack / Du bist ganz sicher too crunk to fuck“. Herrlich. Zucker markiert jedoch auch schon den Höhepunkt des Albums. Die Jungfernfahrt schickt den Pfad der Liebe nämlich rasant den Abhang hinunter.
Außer einem Schmunzeln über das Eigendate von Dirk von Lowtzow passiert hinten raus nicht mehr viel. Tocotronic haben, wie gewöhnlich, eine ungewöhnliche Platte aufgenommen, die, wie gewöhnlich, nicht ohne Schwachstellen auskommt. Dafür weiß es überwiegend, in einigen Momenten sogar außerordentlich zu überzeugen und fügt dem Gesamtbild dieser Band ein weiteres, bemerkenswerteres Puzzleteil hinzu.
Wertung: 7/10 Anspieltipps: Ich Öffne Mich, Die Erwachsenen, Zucker
Tocotronic – Tocotronic (Das Rote Album) | Vertigo Berlin/Universal | VÖ: 01.05.15 | CD/LP/digital