Genug geschimpft
Ein Hoffnungsschimmer im kulturellen Wasteland: Ibrahim Lässing.
Man muss sich eine ganze Menge einfallen lassen, um als so-called Nachwuchskünstler die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gerade wenn man aus Regensburg kommt, dieser komischen Stadt, die seit Jahren alles dafür zu tun scheint, um abseits musealer Langeweile zum kulturellen Wasteland zu verkommen. Ibrahim Lässing ist das alles völlig egal. Zum Glück. Ohne diese Haltung wäre diese Sternstunde des juvenilen Punkrocks auch völlig unmöglich. Zwischen WIZO und Weezer würden sich die Stücke auf Kaugummiautomat nach eigener Aussage bewegen. Was natürlich Käse ist, auch wenn die ein oder andere Idee in Sachen Melodie recht ungeniert bei Rivers Cuomo entliehen wurde. Man höre nur Ich will nicht mehr schimpfen müssen, Baby.
Und obwohl man zugeben muss, dass diese spaßige Mir-doch-egal-Attitüde vielleicht nicht unbedingt für eine lange Halbwertszeit garantiert: Dieses Album macht unverschämt viel Spaß. In den richtigen Momenten, wohlverstanden. Der erste heiße Tag im Jahr nötigt nicht nur Thees Uhlmann 9 von 10 Punkten ab, sondern hat auch sonst das Zeug zu einem Instant-Hit. Der auch zu Beginn des nächsten Sommers wieder hervorgekramt werden wird. Jede Wette. Und wenn Kleiner Gatsby zu Beginn mit den Worten “Sportstudenten saufen und brüllen” präzise ein viel zu oft bedientes Klischee formuliert und auch das restliche Material mit Ausnahme des arg stumpfen Studentenmädchen nicht wirklich abfällt, darf man sich durchaus freuen. Auf das, was noch kommen mag, von Ibrahim Lässing. Schimpfen kann man anderweitig ja noch genug.
Wertung: 7/10
Anspieltipps: Der erste heiße Tag im Jahr, Badweiher, Ich will nicht mehr so viel schimpfen müssen, Baby
Ibrahim Lässing – Kaugummiautomat | Fett Music/Initiative Musik | VÖ: 08.05.2015 | CD/Digital
hf
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Warum habe ich immer, wenn ich was vom “kulturellen Wasteland” höre, das dumpfe Gefühl, dass da was aus unserer düstersten Vergangenheit mitklingt? Sowas kaiserzeitlich-kleinbürgerlich-Untertäniges? Als müsste man sich kollektiv dafür schämen, dass alles so ist wie es ist. Dass die Mälze, das W1, die Jzgendzentren, das Tiki-Beat oder neuerdings das Jag-Deine-Eltern_nicht-vom-Hof, dass das alles nichts taugt, fremdbeherrscht, infiziert, entartet ist… Dass man die verspätete Gesellschaft sei, als müsste uns jemand unseren Platz an der Sonne zeigen, uns ins gelobte Land der Pop-Leitkultur anführen?
Ab wann ist man denn angemessen kultiviert? Wie viele Konzerte, auf die man dann doch nicht geht, müssen denn an einem Wochenende sein, dass man wieder erhobenen Hauptes außer Haus gehen kann? Oder wie viele einheimische, eigenständige, völkische Platten müssen denn pro Woche erscheinen, damit man sich wieder mit seiner Stadt identifizieren darf?
Und wie schuldig sollte man sich fühlen, wenn man keine “museale Langeweile” empfindet, sondern im Gegenteil oft und gerne alte und neue Musik, Theater, bildende Künste, Literatur und Tanz erlebt? Schließlich verdrängt dieses vielseitige Interesse die wahre, die echte Live-Kultur: Bands die keiner kennt, obwohl sie doch so gut und so wichtig wären für … was eigentlich?
Trotzdem! Subvention! Auch wenn keiner hingeht, Bühnen müssen her! Für ein Publikum, das den Eintritt womöglich schon versoffen hat, bevor es die Kassen überhaupt erreicht! Für Bands, die alleine nicht hoch kommen, Viagra gegen schöpferische Impotenz. Kultur auf Rezept! Kultur-Eintopf-Sonntag!