Gelungener Aufbruch, geringes Wagnis
Das Stadttheater schafft mit „Ein großer Aufbruch“, nach dem gleichnamigen Fernsehfilm, einen echten Publikumserfolg.
IKEA-Möbel sind auf Theaterbühnen ja mindestens genauso oft zu finden wie in deutschen Wohnzimmern. Nicht immer wirken sie glücklich platziert, und manchmal scheinen sie Ergebnis bloßer bühnenbildnerischer Ideenlosigkeit zu sein.
Auch „Ein großer Aufbruch“ bietet dem Zuschauer am Theater Regensburg eine große Portion IKEA-„Style“ pur: Küchenblock, schmale Regale im Billy-Look, Schlafcouch, schreiend gelbe Küchenstühle. Ein Interieur, das in etwa so viel Lebensgeschichte, Esprit und Charakter versprüht wie ein T-Shirt-Dreierpack von H&M. Der Boden (man würde wohl Echtholzparkett oder Fusselteppich vermuten) ist hingegen mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt. Das klinische Massenmöbel fußt im Organischen, im Schmutz.
Die Bühne droht in den Zuschauerraum zu kippen
Noch ungewöhnlicher: Die ganze Bühne ist um ein paar Grad geneigt, die Wohnung droht also Richtung Zuschauerraum zu kippen; und das ganze hektische Treiben, das sich in gut eineinhalb Stunden auf ihr abspielt, samt all der menschlichen Absurditäten, gleich mit ihr.
Nun hat es Holm (gespielt von Gerhard Hermann), der hier wohnt, auch wirklich nicht nötig, seine Einrichtung zum Selbstverwirklichungsunterfangen umzudeuten. Er hat genug erlebt (und ge-lebt), ein Entwicklungshelfer im Ruhestand, der seine wilden Zeiten in Afrika verbrachte, wo er mindestens so viele Affären wie Brunnenbauvorhaben pflegte.
Eine merkwürdige Feier
Eben jener Holm lädt seine beiden Töchter Marie (Louisa Stroux) und Charlotte (Andine Pfrepper), seine Ex-Frau Ella (Franziska Sörensen) sowie das befreundetes Pärchen Adrian (Michael Haake) und Katharina (Silke Heise) ein, um mit ihnen zu feiern. Ungeladen, aber trotzdem willkommen ist auch Maries derzeitiger Freund und Vorgesetzter Heiko (Gunnar Blume), der sie gerade auf einer Geschäftsreise begleitet.
Genauso schief wie die Bühne am Bismarckplatz hängt auch der Haussegen. Adrian und Katharina zanken sich, weil letztere vermutet, dass mit Holm etwas nicht stimmt, während ersterer sich hauptsächlich um das Gelingen des Abendmahls sorgt. Die naive Charlotte ist zwar froh, ihren Vater zu sehen, hadert aber mit ihrem unsteten Leben. Und ihre Schwester Marie, zwar Karrieristin, aber in unüberbrückbarer Distanz zu ihren Eltern, die vom bürgerlichen Familienleben nie etwas gehalten haben, droht, die merkwürdige Feier platzen zu lassen.
Kein Stück über Sterbehilfe
Ja, was wird da eigentlich gefeiert? Holm lässt sich schließlich dazu hinreißen, den Grund für die Zusammenkunft preiszugeben. Er ist unheilbar krank und will in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen.
Nun ist „Ein großer Aufbruch“, von Drehbuchautor Magnus Vattrodt nach seinem gleichnamigen Fernsehfilm fürs Theater Regensburg adaptiert, kein Stück „über Sterbehilfe“. Dass die Inszenierung von Nicolai Sykosch und seinem Team dieser Lesart folgt, ist ein Segen für die Produktion. Die Gefahr eines bedeutungsgeschwängerten tonnenschweren Abends mit volkspädagogischem Auftrag wird gekonnt gebannt.
Dem Publikum gefällt’s
So ist „Ein großer Aufbruch“, vielleicht unerwarteterweise, vor allem eins: unfassbar komisch. Absurde Situationen im zwischenmenschlichen Chaos werden vom hervorragend aufspielenden Ensemble präzise und ungezwungen dargestellt; etwa, wenn es zwischen Krebsdiagnosen und Sexgeständnissen auch ums Dessert geht. Geschirr fürs Sorbet ist nämlich keines mehr da, man müsse aus der Schüssel essen, bemerkt Adrian. Dafür sei man sich in all dem Trubel wohl nah genug gekommen, stellt Heiko trocken fest.
Dabei geht nie der tragische Aspekt der Geschichte verloren: Da ist einer, der Angst vorm Tod hat, das aber niemandem – am wenigsten sich selbst – eingestehen will. Der nicht wirklich bereit ist für den Aufbruch aus seinem Dasein zwischen IKEA-Möbeln und “intensiv gelebtem Leben”.
Diese tragikomische Mixtur weiß das Publikum am Premierenabend zu goutieren, bedenkt Ensemble, Regieteam und Autor mit minutenlangem, frenetischem Applaus. „Ein großer Aufbruch“ bleibt letztlich geringes Wagnis für das Theater Regensburg, weil schon die Filmvorlage erfolgreich war und der Stoff in seiner Aufbereitung durchaus gefällig ist. Aber auch Gefälliges will eben gekonnt sein.