Furioser Saisonauftakt unter neuer Leitung
Premiere auf der Regensburger DEZ-Bühne. Nach dem Weggang von Undine Schneider bricht mit den „39 Stufen“ – angelehnt an Alfred Hitchcocks Thriller von 1935 – eine neue Zeit beim Turmtheater an.
Schräg: laut dem Duden „von einer [gedachten] senkrechten oder waagerechten Linie in einem spitzen oder stumpfen Winkel abweichend“. Schräg, das sind ohne Ausnahme Stufen. Das Hinaufsteigen würde sonst schwer fallen. Doch kommt es in jeder Situation auf die richtige Schräge an. Zu flach, und die Stufen ziehen sich in die Länge. Zu schräg, werden sie zum Kraftakt. Schräg geht es seit vergangenem Wochenende wieder einmal auf der Regensburger DEZ-Bühne zu. Dort feierten die „39 Stufen“ ihre Premiere.
Von London, über Lappersdorf, nach Edinburgh
Eigentlich beginnt alles völlig belanglos. Richard Hannay, gespielt von János Kapitány, grübelt in seiner Londoner Wohnung, was er denn heute Abend tun könne. „Irgendwas Triviales“ müsse es sein. „Etwas, wo man überhaupt nicht nachdenken muss. Irgendwas komplett Sinnloses.“ Hannay entscheidet sich fürs Theater. Das Londoner Palladium präsentiert an diesem Abend Mister Memory. Ein Mann, der täglich 50 neue Tatsachen in sein Gehirn speist und dem vor lauter Wissen über die Welt der Schweiß auf der Stirn steht.
Die Vorstellung endet abrupt, nachdem ein Schuss abgegeben wird. Panik bricht aus. Eine Unbekannte bittet Hannay, sie mit zu sich nachhause zu nehmen. Die Hitchcock-Kenner wissen bereits: Das ist der Beginn einer rasanten Jagd von London ins schottische Hochmoor und zurück ins Londoner Palladium.
Mit einem Messer im Rücken gelingt es Annabelle Smith, gespielt von Undine Schneider, gerade noch ihrem Gastgeber einen wichtigen Auftrag zu übertragen. Die elegante Spionin war auf der Spur eines Geheimbunds. Die „39 Stufen“ sollen im Besitz streng geheimer Informationen sein. Diese dürften niemals außer Landes gelangen, schickt Smith ihren Gastgeber auf eine Reise unbekannten Ausgangs.
139 Rollen – vier Schauspieler
Hannay wird bald wegen Mordes gesucht. Im Zug nach Edinburgh – mit Zwischenhalt in Lappersdorf – gelingt es ihm gerade noch seinen schmalen, aber markanten Oberlippenbart vor den Zeitung lesenden Mitreisenden zu verbergen.
Neben Schneider und Kapitány wippen lediglich Christopher von Lerchenfeld und Georg Lorenz in ihren durch drei schwarze Holzkisten angedeuteten Waggons auf und ab, im Takt der Musik. Unterlegt mit der passenden Geräuschkulisse von Martin Kubetz.
2005 hat Patrick Barlow Hitchcocks Spionagethriller (1935) als komödiantisches Theaterstück adaptiert. Das Besondere daran: Alle 139 Rollen, lebendige und unbelebte, werden ausschließlich von vier Personen gespielt. Manchmal mehrere zur selben Zeit. So wechseln Lerchenfeld und Lorenz während der Zugfahrt zwischen Zeitungsverkäufern, Schaffner, Polizei und Fahrgästen im Sekundentakt hin und her.
„Die DEZ-Bühne hat uns das Überleben gesichert.“
Auf dieses temporeiche Spiel, die schnellen Szenenwechsel und eine mitreisende Dynamik hat es Markus Bartl abgesehen. Er führt bei den 39 Stufen Regie und seit kurzem als künstlerischer Leiter das Turmtheater. Die Funktion hatte lange Jahre Undine Schneider inne, die im April allerdings bekannt gab, in die Schweiz zu ziehen.
Die Schauspielerin hat sich in Regensburg einen Namen gemacht, gilt vielen als Gesicht des Turmtheaters. Schneider war maßgeblich daran beteiligt, dass im Herbst 2020 die DEZ-Bühne eröffnen konnte. Als fast alle Kulturstätten der Stadt coronabedingt geschlossen bleiben mussten, schuf Schneider im ehemaligen Garten-Center die Überlebensgarantie, nicht nur für das beliebte Turmtheater.
„Die DEZ-Bühne hat uns das Überleben gesichert“, sagt auch Bartl. „Uns als Turmtheater und der Kulturszene generell.“ Dafür sei man sehr dankbar und man genieße die Zeit in Weichs. Doch bleibt es eine Liaison auf Zeit. Ein Jahr noch plane man mit dem DEZ. Bis dahin ist das Turmtheater in einer ungewohnten Situation.
Ende September wurde mit großem Erfolg die eigentliche Spielstätte im Turm am Watmarkt wieder eröffnet. „Die Veranstaltungen waren alle restlos ausverkauft“, freut sich Bartl noch immer. „Das hat uns gezeigt, wie groß das Bedürfnis ist, dass die alte Spielstätte wieder bespielt wird.“
Auch im Turmtheater wird wieder gespielt
Das kleine Ensemble will in den kommenden Wochen den Balanceakt wagen und beide Stätten nutzen. Das bedeute Arbeit, gesteht Bartl, bringe aber auch Vorteile. Beide Bühnen hätten ihre ganz eigene Atmosphäre und Möglichkeiten. Die DEZ-Bühne, sagt der Regisseur, sei zu groß für manche Stücke.
Im kommenden Jahr will Bartl mit Yasmina Rezas Komödie „Kunst“ in der Altstadt an die früheren Tage anknüpfen. „Wir wollen den Leuten endlich wieder auch das zeigen, was sie zwei Jahren nicht sehen konnten, hohe Literatur.“
Das sei auf der DEZ-Bühne etwas zu kurz gekommen. „Weil es da schwer ist, solche Stücke zu inszenieren“, erklärt der gebürtige Heidelberger. Bartl ist seit vielen Jahren als freier Regisseur im deutschsprachigen Raum unterwegs. Mit der Inszenierung von „Good Bye Lenin“ an der WLB Essing gelang ihm laut dem Theatertreffen Nachtkritik im vergangenen Jahr eine der sehenswertesten Produktionen.
Der „Neue“ will eher im Hintergrund bleiben
In Regensburg ist der 56-Jährige, neben seiner Lehrfunktion an der Akademie für darstellende Kunst, unter anderem in Die Comedian Harmonists in Erscheinung getreten. Im Turmtheater startet er nun mit den „39 Stufen“ in eine neue Epoche, auch wenn sich nicht allzu viel ändern werde, wie er erklärt.
Anders als Undine Schneider, die als Schauspielerin schon deshalb mehr in der Öffentlichkeit präsent war, werde Bartl als regieführende Person eher im Hintergrund stehen. Es gehe aber ja ohnehin nicht um seine Person, sondern um die „Wahrnehmung des Theaters als Kulturstätte“.
Die Hitchcock-Adaption sei eines jener Stücke, die im deutlich kleineren Turmtheater wohl kaum realisierbar wären. „Die Dynamik, Größe und Geschwindigkeit sind etwas überdimensioniert für den Turm“, meint Bartl. Der Regisseur musste selbst auf der DEZ-Bühne Kompromisse eingehen. So sieht das Original etwa ein Schattenspiel vor.
„Wir haben uns den Stoff etwas handhabbarer gemacht“, so der 56-Jährige. Dem Stück habe das letztlich sogar gut getan, noch mehr Tempo gegeben. Genau darauf sei es ihm angekommen. Keine Verschnaufpause für Schauspieler und Zuschauer.
Selbst das Bühnenbild sorgt für Lacher
Neben der überzeugenden Darbietung des Vier-Personen Ensembles, ist es gerade auch das schlichte Bühnenbild, das von der ersten Minute weg einen ganz eigenen Charme versprüht. Dem Publikum stellt sich immer wieder die Frage, wie die wenigen Elemente nun wieder zusammengewürfelt werden. Das sorgt auch für Lacher abseits der eigentlichen Handlung.
Nachdem Hannay und Co sich im Zug bis nach Edinburgh gewippt haben, kommt es im weiteren Verlauf zu einer Verfolgungsjagd über den Zug. Hannay gelingt die Flucht. Er findet Zuflucht bei einem Bauern, sich bald aber doch in Gefangenschaft.
Schließlich kommt es wohl zu einem der schrägsten Momente des kurzweiligen Stücks. Hannay kann sich befreien und trifft auf einen ominösen Spion mit fehlendem Fingerglied. Unerwartet schwadroniert der mit feuchter Aussprache von großdeutschen Allmachtsfantasien.
Standing Ovations nach 120 Minuten Witz und Tempo
Bereits bei Hitchcock sei der Geheimbund der 39 Stufen als Nazi-Ableger angelegt, wenn auch noch nicht so ausgeprägt, sagt Bartl und meint: „Eine gute Hitler-Karikatur hat denke ich immer ihre Berechtigung.“ Lorenz und Lerchenfeld meistern die Aufgabe mit Bravour und machen Bruno Ganz alle Ehre.
Und auch Hitchcock, dem Meister der Illusion, werden die vier Schauspieler mehr als gerecht. Da fallen auch fast 90 Jahre nach der Erstverfilmung die zahlreichen Plausibilitätslücken der Handlung nicht ins Gewicht.
Hitchcock schenkte in seinen Arbeiten einer in sich stimmigen Handlung nicht immer die volle Aufmerksamkeit. Er wollte lieber „eine Idee auf die andere folgen lassen und dabei alles der Schnelligkeit opfern“. So hatte es der Filmemacher einmal selbst gesagt. „Die Wahrscheinlichkeit interessiert mich nicht. Ein Kritiker, der mir etwas von Wahrscheinlichkeit erzählt, hat keine Fantasie.“
Mit reichlich Fantasie sorgt Bartl für eine schräge, aber gut ausbalancierte Inszenierung. Mit Witz, Tempo und Spiellust lassen aber auch die Schauspieler Hitchcocks Stoff nicht der Albernheit anheimfallen. Vom Publikum gibt es dafür Standing Ovations.