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Überlebende sprach in Regensburg

Fünf Jahre nach dem Attentat von Halle: „Einen Schlussstrich kann es nicht geben.“

Eine Überlebende des Anschlags von Halle sprach kürzlich in Regensburg über ihr Trauma – und darüber, warum sie das Vertrauen in den deutschen Staat, in Polizei und Gesellschaft weitgehend verloren hat.

„Als Überlebende musste ich erst einmal bezeugen, dass ich wirklich Hilfe brauchte.“ Christina Feist sprach auch über die Zeit nach dem Attentat. Foto: rd

Der 9. Oktober 2019 stand in jenem Jahr für den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Seitdem ist dieses Datum aber auch der Jahrestags des terroristischen Anschlags von Halle, das – wenige Jahre nach der Mordserie des NSU – eines der schlimmsten rassistisch-antisemitisch motivierten Attentate der bundesdeutschen Geschichte hätte werden können.

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Kürzlich sprach Christina Feist, eine der Überlebenden, auf Einladung der AG Input in Regensburg. Sie war zusammen mit 51 anderen Mitgliedern in der Synagoge, in die der Attentäter einzudringen versuchte, aber an der massiven Holztür scheiterte. Er ermordete dennoch zwei Menschen.

„Anschlechten Tagen ist es um mich herum so dunkel, dass ich vergesse, dass ich am Leben bin.“

„Wir sind Überlebende eines Terrorattentats“, sagt Feist. „Wir verdienen Respekt und Anerkennung. Wir verdienen, gehört zu werden.“ Es gebe ein Leben vor Halle und eines danach. Der 9. Oktober 2019 habe sie völlig aus der Bahn geworfen. Angst und Panikattacken bestimmten anschließend ihren Alltag.

„An guten Tagen kann ich mich überreden, rauszugehen. An schlechten Tagen ist es um mich herum so dunkel, dass ich vergesse, dass ich am Leben bin.“ Es hat Feist viel Kraft gekostet, über diesen Tag und die Zeit danach zu reden. Sie begann eine Therapie und fand Unterstützung bei ihrer Anwältin. „Die gab mir damals das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.“

Beim Prozess gegen den Attentäter, der im Juli 2020 begann, war Christina Feist Nebenklägerin. Über mehrere Monate hinweg fuhr sie fast wöchentlich nach Magdeburg. Dort saß sie dem dem Mann gegenüber, der auch sie töten wollte. Am 9. Oktober 2019 hatte er selbstgebaute Waffen und Sprengsätze dabei. Doch die Holztüre der Synagoge hielt Stand. Als der Täter begann, auf Passanten zu feuern, verfehlte er sie, oder die Waffe funktionierte nicht. Dennoch sollte es zwei Opfer geben: Jana Lange und Kevin Schwarze.

Taten live ins Netz gestreamt

Der Prozess in Magdeburg sei für sie ein wichtiger „Ort der Resilienz und Wehrhaftigkeit“ geworden, erzählt Feist. Sie nahm sich dort den Raum, um wütend zu sein, um ihre Stimme zu erheben und gesellschaftliches und politisches Versagen anzuprangern.

Im Sitzungssaal sah Feist auch Aufnahmen vom Attentat. Wie der Attentäter von Christchurch, der nur wenige Monat zuvor zwei Moscheen in Neuseeland angegriffen und über 50 Menschen getötet hatte, streamte auch der Mörder von Halle seine Taten mit einer Helmkamera live ins Internet. Wie der Attentäter von Christchurch, war auch der 27-jährige Deutsche getrieben von rechtsextremen, antisemitischen und rassistischen Verschwörungserzählungen. Parallelen finden sich auch zum OEZ-Attentat am 22. Juli 2016 in München und zum Rechtsextremisten Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete.

„Es war auch ein frauenfeindliches und rassistisches Attentat.“

Die Ermordung von Jana Lange auf offener Straße, flankiert von misogynen Beschimpfungen, zeige das frauenfeindliche Weltbild des Täters, so Feist. Anschließend fuhr der Attentäter zum nahegelegenen Kiez-Döner. Nun wollte er dort ein Blutbad anrichten – aus rassistischen Motiven, wie die spätere Vernehmung bei der Polizei offenbarte.

Er erschoss Kevin Schwarze, einen jungen Mann ohne Migrationshintergrund. Ja, Halle sei ein antisemitischer Anschlag gewesen, sagt Feist. Der Täter wollte möglichst viele Jüdinnen und Juden ermorden. „Es war aber auch ein frauenfeindliches und rassistisches Attentat.“

Nach dem Schuldspruch wollte sich Feist erholen, Kraft tanken, auch um ihr Studium doch noch fortzusetzen. Sie wollte Heilung finden, wie sie sagt. „Aber dafür braucht es Stabilität.“ Feist hält an dieser Stelle einen kurzen Exkurs – darüber wie in Deutschland mit Opfern von rechtsextremen Attentaten umgegangen werde. Eigentlich stehe diesen Menschen eine Entschädigung zu. Die Kosten für Therapien wird zum Beispiel übernommen. Im Fall von Feist war das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales zuständig. „Sechs Wochen nach dem Anschlag habe ich eine Traumatherapie begonnen“, erzählt sie.

Fünf Stunden Begutachtung durch den Amtsarzt

Während des Prozesses dann reichte sie den Antrag ein. Eher sei sie psychisch einfach nicht dazu in der Lage gewesen. Sie besuchte weiter die Therapie, bezahlte diese aus eigener Tasche – und hörte über ein Jahr lang nichts von der Behörde. Ende 2021 musste sie sich dann in Berlin begutachten lassen. „Als Überlebende musste ich erst einmal bezeugen, dass ich wirklich Hilfe brauchte.“ Fünf Stunden habe sie „Rede und Antwort stehen müssen“. Ohne Pause. Der Amtsarzt sei an „Unsensibilität kaum zu übertreffen gewesen“.

Feist: „Er wollte mir erst einmal die Psyche des Attentäters erklären.“ Er habe ihre Psychologin kritisiert und Widerworte nicht gelten lassen. „Absolut alles an dem Termin war retraumatisierend.“ Danach habe sie sechs Wochen psychosomatisch bedingte Schmerzen gehabt.

Im September 2022, zwei Jahre nach dem Antrag, kam der Bescheid zur Übernahme der Kosten. Feist erzählt das auch, weil sie kein Einzelfall sei. Opfer und Hinterbliebene anderer rechtsextremer Attentate – wie das vor dem OEZ in München 2016, in Hanau 2020 oder der NSU-Anschläge – hätten ähnliche Erfahrungen mit den Behörden gemacht.

Jedes Jahr kommt das „Trauma von Halle“ wieder

Feist gab nicht auf. Ihre Hilflosigkeit habe sie in Resilienz umgewandelt. „Meine Angst in Wut.“ Sie kämpfte sich zurück, lernte ihren eigenen Umgang mit Panikattacken, die bis heute kommen. Im Sommer 2023 schaffte sie ihre Dissertation. Kurz danach sei sie erstmals seit dem Attentat ohne eine Panikattacke durch die größte und unübersichtlichste Pariser U-Bahnstation gegangen. Schließlich ein Einkauf bei Ikea. Kleine Schritte, aber wichtige. Doch ganz weg sind die Angst und schlaflosen Nächte nach wie vor nicht. Gerade wenn Jom Kippur und damit der Jahrestag von Halle näher rückt.

Am 2. Oktober feierten Jüdinnen und Juden dieses Jahr Rosh Haschana, das jüdische Neujahrsfest. Zehn Tage später steht dann Jom Kippur an (dieses Jahr am 12. Oktober). Feist will sich ihr Judentum nicht nehmen lassen, wie sie sagt. Sie mag diese wichtigen Feiertage, diese besinnliche Zeit als Moment des Rückblicks und der Auseinandersetzung mit sich selbst. Gleichzeitig sei es eine Zeit, in der sie sehr verwundbar sei, eigentlich keine Kraft für Interviews und Feiertage habe. Und doch muss sie sich jedes Jahr wieder ihrem „Trauma von Halle“ stellen.

„Deutschland hat ein tiefsitzendes Antisemitismus- und Rassismusproblem.“

Für ihre Dissertation zog sie 2019 von Berlin nach Paris. Zurück nach Deutschland? Das ist für sie heute unvorstellbar. Nach Halle könne es keinen Schlussstrich geben. „Weil Deutschland ein tiefsitzendes Antisemitismus- und Rassismusproblem hat.“ Das zeige sich politisch in den Erfolgen von Rechtsaußen-Parteien – auch in ihrer Heimat Österreich.

Es werde offenkundig, wenn CDU-Politiker im Rahmen von Gedenkveranstaltungen unbedarft eine Versöhnung fordern. Es werde unübersehbar in allem, was seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 passiert. „Nicht mehr die Frage, ob wir gehen“, beschäftige Jüdinnen und Juden hierzulande, sagt Feist. Sondern nur noch: „wann und wohin“. Feist sagt, sie kenne keine jüdische Person mehr, die in Deutschland lebt und noch nicht antisemitisch beleidigt wurde.

Stadt hatte nicht auf Warnungen der Gemeinde reagiert

„Deutschland hat ein Problem“, und Christina Feist nur noch wenig Vertrauen in den Staat, die Gesellschaft und die Polizei. Jene Polizei, die ebenso wie die Stadt Halle nicht auf die Warnungen der jüdischen Gemeinde reagieren wollte.

Immer wieder habe man mehr Sicherheit eingefordert – vor dem Attentat. Schließlich wurde selbst Geld gesammelt und damit die Türe verstärkt. „Deshalb hat sie gehalten“, erklärt Feist und will damit einer Erzählung entschieden entgegentreten. Kurz nach der Tat sei die „deutsche Eichentür“ als Symbol des Deutschen Staates, der sich schützend vor jüdisches Leben stelle, stilisiert worden. Blödsinn sei das.

Während des Attentats harrten Feist und die anderen in der Synagoge aus, ohne zu wissen, was überhaupt los war. Dann kam eine bewaffnete Person in Vollmontur über einen Eingang herein. Der Polizist befahl die Räumung. Sensibilität? Fehlanzeige. Einer der Beamten habe sich über die jüdische Praxis an Jom Kippur lustig gemacht, sagt Feist. Sie kamen in einen Bus. „Das war der einsamste Moment in meinem Leben.“ Von dort ging es in ein christlich geführtes Krankenhaus.

Was für ein Gegensatz. Eigentlich, so Feist, hätten laut Protokoll auch sie als Jüdinnen und Juden in der Hauskapelle unterkommen sollen. „Aber weil sich der Leiter des Krankenhauses Gedanken gemacht hat, wurde dann für uns die Cafeteria geöffnet.“ Eine der Bediensteten gab Feist später ein Handy, damit sie ihre Familie anrufen konnte.

Viele Ungereimtheiten nach der Tat

Auch diese Erlebnisse lassen Feist bis heute nicht los. Das Verhalten der Polizei wirkt nach. Sie fragt sich bis heute, wie es dem Attentäter möglich war, in seiner Zelle Waffen zu bauen, mit denen er im Dezember 2022 zwei JVA-Bedienstete kurzzeitig als Geiseln nahm. Wieso wurde für seine zwei Fluchtversuche niemand zur Rechenschaft gezogen? Warum niemand dafür, dass die strengen Sicherheitsvorkehrungen zuvor entgegen einem Erlass des Justizministeriums gelockert wurden und das erst deshalb möglich war? Warum hatte eine Polizistin lange Zeit unentdeckt eine Brieffreundschaft mit dem Inhaftierten? Im Schriftverkehr drückte die Polizistin Bewunderung für die Taten aus.

Es gibt viele Gründe, weshalb Christina Feist auch fünf Jahre nach dem Attentat, sagt: „Einen Schlussstrich kann es nie geben.“ Doch es gab auch andere Momente. An jedem Prozesstag gab es vor dem Gericht in Magdeburg eine Kundgebung aus Solidarität mit den Überlebenden und Hinterbliebenen. „Wenn du völlig ermüdet zum Gericht gehst und du siehst zuerst die fünf Leute, die da bei Wind und Wetter ihre Demo abhalten, dann gibt dir das Kraft.“ Mittlerweile ist daraus eine Initiative entstanden, erzählt Feist.

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