Eine Familie wird verschleppt
Seit 2006 gibt es unter dem Dach von pax christi das Projekt Medizinische Hilfe für NS-Opfer auf der Krim. In Zusammenarbeit mit Hana Pfalzova, die das Projekt federführend betreut, veröffentlicht unsere Redaktion in loser Folge Porträts ehemaliger NS-Zwangsarbeiterinnen. Efrosinja Kirienko und ihre Tochter Iraida wurden 1944 nach Regensburg verschleppt, wo sie bei den Messerschmitt-Werken in der Prüfeninger Straße arbeiten mussten.
Als der Krieg ausbrach, war Efrosinja bereits verheiratet und hatte zwei kleine Töchter. Ihr Mann, ein Pilot, ist in den ersten Kriegswochen verschollen. Sevastopol´ wurde von schweren Kämpfen völlig zerstört und Efrosinja lebte mit ihren zwei Kindern in den Ruinen. Ende April 1944 ging Efrosinja auf den Markt, um Schuhe gegen etwas Essbares einzutauschen. Unterwegs wurde sie von den Deutschen aufgefordert, sie solle sofort zur Sammelstelle kommen und von dort nach Deutschland zur Arbeit fahren. Die zierliche Efrosinja wehrte sich gegen die Verhaftung, sie habe doch zwei kleine Kinder zu Hause. Sie wurde brutal zusammengeschlagen und auf eines der Schiffe im Sevastopoler Hafen gezerrt. Die Schiffe waren mit Tausenden von Zivilisten, künftigen Zwangsarbeitern, überladen. An diesem Tag tobte ein starker Sturm auf der See, und so wurde die Abfahrt der Schiffe auf den nächsten Tag verschoben. Nicht der Zwangsarbeiter wegen, sondern wegen der in den Unterdecks versteckten verwundeten deutschen Soldaten und solcher, die ihren Heimaturlaub antraten. Dank der Verzögerung konnte Efrosinja zusammen mit anderen Frauen ihre Töchter Anna und Iraida mitnehmen. Am nächsten Tag, dem 1. Mai 1944, trat die kleine Familie zusammen mit vielen Tausenden Zivilisten eine lange Schiffsfahrt nach Rumänien an. Eine Woche später wurden Sevastopol´ und die ganze Krim befreit. Insgesamt liefen damals zwanzig Schiffe aus, doch nur acht von ihnen kamen im rumänischen Constanza an. Alle anderen Schiffe wurden von sowjetischen Tieffliegern versenkt, während die Frauen mit ihren Kindern als lebende Schutzschilde gegen die Angriffe sowjetischer Flugzeugen dienten. „Ich erinnere mich ganz genau, wie sich die Flieger näherten, und wie die Schiffe um uns herum brannten,“ schildert Iraida den Transport, „ich dachte, vielleicht ist einer der Piloten mein Vater.“ In Rumänien wurden die Menschen in Viehwagons zusammengepfercht. „Wir wussten nicht, wo wir hingefahren werden,“ sagt Iraida heute. Nach einer tagelangen Fahrt ohne ausreichende Verpflegung kamen sie in Neumarkt in der Oberpfalz an. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Verteilungslager wurde die Familie zu Messerschmitt nach Regensburg verfrachtet. Efrosinja musste bei Messerschmitt in der Prüfeninger Straße zwangsarbeiten. „Zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht, dass die ganze Krim bereits befreit war. Gleichwohl mussten wir noch in dem Messerschmitt-Werk arbeiten und uns somit an der Produktion deutscher Kriegsflugzeuge beteiligen“, erinnert sich Iraida. Efrosinja arbeitete täglich zwölf Stunden in einer großen Werkhalle, stand abwechselnd in Tag- und Nachtschichten an der Werkbank, während ihre Kinder zusammen mit anderen in einer der russischen Baracken auf die Mutter warteten oder im Hof beim Spielen versuchten, den permanenten Hunger zu vergessen. „Ich war blond und lernte ein wenig Deutsch, wir hatten ja eine deutsche Aufseherin, die hieß Maria Köhler“, erinnert sich Iraida. Das kleine Mädchen grub sich manchmal unter dem Zaun hindurch und lief auf die Prüfeninger Straße, um deutsche Zivilisten um Brotmarken zu bitten. „Frauen hatten Mitgefühl, sie gaben mir manchmal Lebensmittelkarten“, denkt Iraida an ihre Kindheit hinter dem Stacheldraht zurück, „sie taten es aber sehr vorsichtig und wechselten mit mir nie ein Wort. Einmal, während eines Bombenalarms, versteckte ich mich in dem nahen Krankenhaus. Dort waren viele Nonnen, sie beteten alle. Als der Alarm zu Ende war, gaben sie mir Brot.“ Kurz vor der Befreiung wurde Iraidas Baracke von einer Bombe getroffen und Lilja, die fünfjährige Freundin Annas und Iraidas, kam dabei ums Leben. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Sevastopol´ zurück. Den Vater haben sie nie wieder gesehen. Sie verschwiegen, dass sie in Deutschland waren; Iraida durfte studieren und arbeitete später als Konstrukteurin im Schiffsbau. Efrosinja und Iraida besuchten mehr als 60 Jahre später Regensburg; sie kamen auf Einladung von pax christi und des Arbeitskreises ehemalige Zwangsarbeiter in Regensburg. Auch ich habe Efrosinja und Iraida bei jeder meiner Krim-Reisen besucht und durfte vor allem Efrosinja Spenden für Medikamente ausreichen. So konnte sie eine Laser-Augenoperation finanzieren und sich ein Hörgerät kaufen. Sie hörte nämlich sehr schlecht infolge der Schläge am Tag ihrer Verhaftung. Im Sommer 2008, kurz vor Iraidas 70. Geburtstag, starb die zierliche Efrosinja, von allen liebevoll Frosječka genannt. Bis dahin lebte sie zusammen mit Iraida, deren Tochter Tanja und der Enkelin Kristina in einer Plattenbauwohnung am Standrand von Sevastopol´. Iraida ist jetzt im Juli 71 Jahre alt geworden. Auch sie, eines dieser zahlreichen Messerschmitt-Kinder, ist auf Medikamente angewiesen.Info: „Medizinische Hilfe für NS-Opfer auf der Krim“ Das Projekt Medizinische Hilfe wurde im April 2006 von pax christi Regensburg gestartet. Initiiert wurde es 2003 von der „Arbeitsgemeinschaft für ehemalige ZwangsarbeiterInnen im Evangelischen Bildungswerk e.V.“. Mittlerweile besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Opferverband in Simferopol, über den 180 ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge unterstützt werden. 108 Personen sind älter als 75 Jahre. Alle drei Monate erhalten sie Pakete mit haltbaren Lebensmitteln. Seit 2003 wurden 22.000 Euro verteilt, vor allem für Medikamente und medizinische Behandlung. Das Geld stammt zum übergroßen Teil aus Spenden (Spendenkonto: pax christi, Liga Bank Regensburg, BLZ 75090300, Kontonummer 101167464, Betreff: Medizinische Hilfe – Krim).