14 Jun2008
Chronologie eines frühen Feierabends: Kroatien – Deutschland
Die Tische in der besten Lage zur Projektionswand füllen sich stetig. Wer es um diese Zeit nicht schafft, sich einen guten Platz zu sichern, der muss wohl später, beim Anpfiff, mit der zweiten oder dritten Reihe vorlieb nehmen. Im schlimmsten Fall sitzt man, versteckt vor der Leinwand oder schlimmer noch vorm Ober, hinter Kastanien. Eine guter Rat: Kleine Grüppchen oder einzelne Gäste sichern die nötigen Plätze für Nachzügler. Es ist gerade mal 16.15 Uhr. Das Wetter spielt mit, der Zirkus kann beginnen.
Vor der Leinwand vor dem Spiel
Am Nachbartisch nehmen zwei Herren platz. Seit etwa einer Woche sind die beiden Freunde aus der Gegend um Frankfurt nun mit dem Fahrrad unterwegs. Die Frage, die sie treibt: Wo wird die Nationalelf zu sehen sein? Hier, im großen Freiluftraucherzimmer Spitalgarten findet sich die Antwort. Zur linken der Dom, im Rücken die Steinerne Brücke, vor sich die Leinwand im wetterfesten Rahmen. Das ist die verdiente Belohnung nach 760 Kilometer auf dem Sattel. Jan, der Ober im Service, findet noch Zeit, sich seinen Gästen in tschechischer Eleganz zu widmen. Essen wird serviert und auf eine Halbe Bier muss niemand allzu lange warten. Das aber sollte sich bald ändern.
Eine halbe Stunde später. Die leeren Stühle an den bereits besetzen Tischen werden von den Nachzüglern freudig in Beschlag genommen: Die beiden 5er auf weißem Trikot – je ein ‘Der Kaiser’ samt Spielführerbinde – waren auch schon da. Ein Lehmann saß auf einem guten Platz. Auch ein Sigi war unter den Wartenden. Noch ahne ich nicht, dass sich in mir bald der Wunsch regen wird, diesen Sigi auf dem Platz zu sehen und nicht hier, am Bier, sich beim Zuschauen quälen. Vielleicht aber wäre dieser Sigi auch nicht besser. Das Heer der schwarz-rot-goldenen Fähnchen und Bändchen wächst unbekümmert an. Die ganz Jungen erwarten das Spiel fast andächtig auf ihren Stühlen.
Auf der Leinwand vor dem Spiel
Im Zweiten dreht sich alles um die Euro 2008! So vernimmt man es vom unsichtbaren Sprecher, noch bevor die Szene von den Experten in Bregenz bestimmt werden muss: Alle sind sie wieder da. Johannes B., der Koch, Ex-Fifa-Pfeife Urs Meier, der Sezierer Jürgen Klopp. Ähmm, alle? Nein, nicht alle! Einer fehlt noch, ER fehlt. Und wo ist ER? ER ist im Gespräch mit Frau Kathrin Müller-Hohenstein und warnt: „… vor allem im Mittelfeld vor einer rustikalen Gangart der Kroaten,“ weiß aber auch, dass diese „der Schiedsrichter schon unterbinden“ werde. Sein Fazit: „… also ich glaube nicht, dass wir heute irgendwie größere Probleme auf dem Platz sehen werden.“ Sein Tip: 2-0. ER meint einen Sieg für Deutschland, nicht anders rum. Das aber sollte sich bald ändern.
Auf der Leinwand, das Spiel
Klagenfurt: Endlich! Die Reporterstimme Béla Réthys aus den Lautsprechern neben der Leinwand kündigt den Beginn der Übertragung an. Jan reagierte seit dem Anpfiff auf jede Bestellung stets gleich mit freundlichen Akzent: „Nehmts lieber a Maß, geht schneller!“ Die Gäste im Biergarten klatschen zum Auftakt. Bedienungen laufen beherzt durch den Garten. Die hinter Krugkränzen versteckten Fäuste, natürlich nur noch Maßen, stemmen das Bier zu den Gästen. Und jeder dieser Gäste steckt genau in der Mitte der dichten Menge. Schwere Arbeit.
Anpfiff
Das Spiel läuft. Der Reporter umschmeichelt gerade die Spielszene auf der linken Seite der Deutschen. Er spricht vom „antizipierenden Spieler“ und meint wohl, dass da einer gut aufgepasst hat. Der Gegner sei nicht leicht zu spielen, schließlich habe er ein recht flexibles Mittelfeld. Klinsmann – wir erinnern uns, der vom Sommermärchen Teil 1, habe in solchem Zusammenhang auch schon mal von einem „Abmühungskampf“ gesprochen. Schnell wird auch Réthy klar: „Der Gegner ist schwieriger als Polen.“ Irgendwann, so ziemlich genau in den Sekunden zwischen der 23. und 24. Spielminute ist die 11 zur Stelle. Srna bringt die Kroaten mit 1:0 in Führung. Vier Minuten zuvor läuft Gomez ins Abseits, vier Minuten später vergibt er vor dem Tor. Eines wird immer deutlicher: Das Leben ist kein Streichelzoo, für niemanden, nirgendwo, schon gar nicht für Deutschland in Klagenfurt. Jetzt wird Metzelder durch Szenenapplaus an seinen Auftrag erinnert, Poldi gefoult und Torschütze Srna sieht auf kroatischer Seite gelb. Ballack und Frings „bringen keinen Groove rein“. Letzterer tritt einen Freistoß ohne Erfolg. Vor der Halbzeitpause wird vom belgischen Unparteiischen noch ein Vorteil abgepfiffen, ein Ball von Lehmann souverän auf der Linie am übertreten der selben gehindert, auf einen Jansen hingewiesen, der „nicht stattfindet“ und auf einen Pletikosa, der es „schön“ hat. Es wird Bier getrunken und kurz vor Abpfiff zur Halbzeitpause die Pole-Position für das Rennen um die besten Plätze auf dem Pissoir gesucht.
Halbzeitpause. Endlich
Neben den regen Diskussionsrunden der Experten vor Ort und auf dem Weg zum Klo gewinnt die Fernsehübertragung eine weitere Qualität: Eine Baumarkt-Kette lässt ihre „Mitarbeiter“ ein Liedchen trällern. Ein der guten Musik geneigter Zuhörer wäre wohl bereit, Freddie Mercury in seinem viel zu frühen Ableben posthum recht zu geben. Ein Kreditkartenunternehmen lässt vor laufender Kamera einem seiner beiden Bälle die Luft raus. Ein Telekommunikationsdienstleister – es ist der, der nicht bis 2 zählen will – wirbt um Neukunden.
Exkurs
Ich erinnere mich: Ich wollte es mit besagtem Telekommunikationsdienstleister versuchen. Der aber hat mir – nach Wochen der Hoffnung auf eine flotte Datenleitung – kleinlaut den Antrag storniert. Begründung: Technisch (für ihn) nicht machbar. Ich erinnere mich: Ich wohne nicht mehr hinter den sieben Bergen, ich wohne inmitten einer großen Stadt. Ich erinnere mich: Obwohl kein Vertrag zustande kommt – in der Kundendatenbank dieser Montabaur AG bin ich wohl unwiederlöschlich gelandet. Seitdem versucht man mich aus der Marketingzentrale heraus mit dem Hinweis auf die „so beliebten“ Produkte – halt nur nicht für mich, aus technischen Gründen versteht sich – als ProfiSeller zu gewinnen. Tja, könnte ich mich von der Leistungsfähigkeit der Herrschaften doch nur selber überzeugen. Was bleibt, ist nur die indifferente Angst, im Falle eines Vertragsabschlusses abgelauscht zu werden.
Wieder Anpfiff
Mertesacker mit Pass auf Klose. Die Hoffnung ist zurück auf den Gesichtern der Biergartenbesucher. Weniger optimistisch meinen andere in Richtung Spieler: „Mann, Mann, macht doch mal was“, gefolgt von einem „das gibt’s doch nicht.“ Nachzügler kommen zum Spektakel. Der Ton vor der Leinwand wird rauer, das Spiel nicht schöner: „Schau mal, wie der den an der Hose zieht, der will den unbedingt ficken.“ Zaungäste drängeln sich von der Donauseite her auf dem Betonsockel am Holzgatter zum Spitalgarten. Rakitić von rechts außen auf den Arm von Lehmann. Von dort auf den Pfosten – es sind jetzt 61 Minuten und 40 Sekunden gespielt – vom Pfosten auf Olić, von Olić zum 2:0. Unmutiges Schweigen. Jan trägt sein Bier und Lissi im Service ganz vorn an der Front beginnt damit, die ersten zahlungswilligen Gäste abzukassieren. Im Ausschank fängt man an, die Taktik zu ändern. Die abfallende Trinklaune zeigt Wirkung. Der Schankkellner schenkt das Bier wieder willig in den kleineren Krug. Dann dauert es 17 lange Minuten.
Endlich: Lahm-Ballack-abgefälscht auf Podolski-Tor! 2:1. Manche hält’s dann doch nicht auf den Sitzen. Die Kommentare einiger anderer Zuschauer am Donauufer werden nicht jugendfreier. Auf eine Wiedergabe wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Noch mehr Unmut zieht der „Schweini“ auf sich. In einer überflüssigen Szene lassen sich seine sportlichen Unterarme in der Verlängerung zu einer Unsportlichkeit hinreissen. Rot. Aus. Für ihn und kurz darauf für uns. War’s schön? Schön war’s nicht. Jetzt nur wieder schnell aufs Klo.
Vor der Leinwand nach dem Spiel
Der ruhigste Platz am Abend wär der hinter der Leinwand gewesen. Im leeren Nebenzimmer wirft ein einsam schnurrender Projektor seine Bilder spiegelverkehrt auf die Folie nach vorne. Und sonst? Das zweite Spiel, begleitet von viel Rechnerei über die anstehenden letzten Chancen für die Gruppe B und ihren möglichen Konsequenzen, ist abgepfiffen. Heim geht’s.
Einer erkennt die Zeichen der Zeit und wandelt anderen Pfaden: Den Polen gleich, sieht er sich schon als Sieger in einer motorisierten Disziplin. Vorm großen Tor zum Biergarten erwartet ihn – ich stell mir vor, es wär der unbekannte Sigi – mit neun Wimpeln bestückt und geschmückt seine zweite große Leidenschaft. Unter diesem Eindruck mache ich mich auf den Weg. Bei Diba kann ich nicht vorbei. Erst nach zwei Kugeln Eis trägt mich mein Radl Richtung Bett. Und dann bleibt doch noch etwas stärker in Erinnerung, als das gesehene Spiel der Deutschen. Am rechten Straßenrand stadtauswärts in Höhe Stöbäusplatz zwingt mich ein letzter enttäuschter Fan freundlich vom Rad. Lallend mit an mehreren Stellen gut gerötetem Gesicht entschuldigt er sich für seinen Zustand. Er sei trotz Brille mit dieser gegen einen Pfosten an der Bushaltestelle gelaufen. Unter diesem Eindruck stehend und sich bei mir mehrmals entschuldigend, bittet er mich um Hilfe bei der Suche nach der Sehhilfe. Die findet sich auch, wenngleich schwieriger als gedacht, weil weitaus weiter vom Hindernis entfernt, als zunächst vorstellbar. Muss ein ganz schöner Schlag gewesen sein. Seine Gesichtsblessuren verstehe ich jetzt viel viel besser, einen Finderlohn von zehn Euro lehne ich dankend ab. Er abschliessend: „Du weißt ja nicht, wie es als Brillenträger ohne Brille ist.“ Noch hat er recht. Trotzdem: Hätt’ ich doch einfach heute Nachmittag nur nicht gesehen, was ich gesehen hab. Gut’ Nacht.
Nachtrag
Sigi muss es mit dem Motorsport wohl wirklich ernst sein: Seine Trainingsschuhe hat er, für alle weithin sichtbar, wohl endgültig an die Ampel gehängt. Wer sich beeilt, wird sie da auch noch hängen sehen.