45 Minuten für ein Menschenleben
Fast täglich entscheidet das Regensburger Verwaltungsgericht über Menschen, die sich am ohnehin mageren Asylrecht der Bundesrepublik festhalten und in Deutschland bleiben möchten. Am Freitag geschah dies vor einem ungewöhnlich großen Publikum.
Schon, als sich die zahlreichen Zuhörer durch den Innenhof des Verwaltungsgerichts bis hinaus zum Haidplatz schlängeln, beschleicht einen das Gefühl: Man ist hier nicht darauf vorbereitet, öffentliche Verhandlungen auch tatsächlich vor einer großen Öffentlichkeit auszutragen. Fast 100 Menschen – darunter viele Flüchtlinge und Asylsuchende – warten nach einer einstimmenden Kundgebung darauf, eingelassen zu werden zu den vier Verhandlungen, bei denen gegen Abschiebungsbescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geklagt wird.
Doch zunächst muss man sich einer Sicherheitskontrolle unterziehen – dafür steht genau ein Wachmann bereit. Ehe dieser die Taschen kontrolliert, jeden einzelnen mit Metalldetektor überprüft und durch die Schleuse ins Verhandlungsgebäude eingelassen hat, ist die erste Verhandlungssache des Tages – für jede sind 45 Minuten bemessen – bereits abgehakt.
„Sie dürfen hier nicht fotografieren.“
In der Pause drängen sich schließlich immer mehr Menschen in den viel zu kleinen Saal. Man sitzt schon auf Fensterbänken und steht fast vorm Richterpult. Der Presse wird das Fotografieren von einem Wachmann scharf untersagt. „Sie dürfen hier im Verhandlungssaal nicht fotografieren!“ Irgendwie scheint man überfordert. Als immer mehr Zuhörer nachkommen und sich die Tür schon nicht mehr richtig öffnen lässt, wird schließlich umdisponiert: Die Sitzung wird im großen Bibliothekssaal des Verwaltungsgerichts fortgesetzt.
Doch auch der droht schon bald aus allen Nähten zu platzen. Stühle werden zugestellt, und trotzdem können einige der Aufforderung des Richters – „Sie dürfen sich setzen“ – aus ganz praktischen Gründen nicht nachkommen. Es gibt einfach keinen freien Sitzplatz mehr.
Zwei Anträge ohne Rechtsbeistand
Die ersten zwei Anträge des Tages, gestellt von Flüchtlingen aus Pakistan, die gegen den Bescheid des Bundesamtes klagen, werden ohne Rechtsbeistand verhandelt. Die Anwältin erscheint erst zum dritten Verfahren. Mutmaßlicher Grund: Die ersten beiden Mandanten konnten die Rechnungen nicht bezahlen. Auch nach der Verhandlung will sich die Juristin nicht dazu äußern, verweist auf ihre anwaltliche Schweigepflicht.
Doch man muss sich fragen, ob sich am Verlauf der Sitzung tatsächlich soviel ändern würde, wenn die Anwältin beispielsweise neben dem jungen Muhammad Q. platzgenommen hätte, der über Griechenland und Ungarn nach Deutschland gekommen ist.
Q. gibt an, Angst vor einem ehemaligen Freund zu haben, der in seinem Beisein einen Mord begangen hat und mittlerweile von der pakistanischen Polizei festgenommen wurde. Den Behörden traue er nicht. „Ich habe Angst um mein Leben“, lässt er über den Dolmetscher mitteilen, und, dass er auf seiner Flucht „viele Leichen“ gesehen habe.
„Es kann sein, dass ich einfach erschossen werde“
Der Vertreter des BAMF, der ihm gegenübersitzt, hört sich die Sache an. „Ich wundere mich aber, dass Sie so zurückhaltend sind“, sagt er dann. Er beginnt, nach Details des Sachverhalts zu fragen, hält schlussendlich fest, dass das Amt den Bescheid „unabhängig vom Wahrheitsgehalt“ der Geschichte erstellt habe und so auch für begründet halte. „Keiner verlässt sein Land ohne Probleme“, gibt Q. zu bedenken.
Auch von den Schilderungen von Ghlam V., der aus Angst vor seinem ehemaligen Arbeitgeber über den Seeweg nach Europa flüchtete, scheint der Beklagtenvertreter nicht überzeugt zu sein. V. hatte ein Verhältnis mit der Tochter eines Landbesitzers, der einer höheren Kaste angehörte als er und daher über viel Macht verfügte. Als die Tochter schwanger wurde, schlug der Vater sie tot. „In Pakistan gibt es kein Gesetz. Wer die Macht hat, entscheidet über das Gesetz“, urteilt V. „Es kann sein, dass ich bei meiner Rückkehr einfach erschossen werde – auch von der Polizei.“
Asylgründe liegen für das Bundesamt dennoch nicht vor. Auch das ärztliche Attest, das belegt, dass V. zahlreiche Tumore in seinem Körper hat, an Hepatitis B erkrankt ist und – auch in Folge der Hungerstreiks am Münchner Rindermarkt und in Berlin – einer „physischen und psychischen Erschöpfung“ unterliegt, überzeugt den Vertreter nicht.
Die nun anwesende Rechtsanwältin stellt dar, dass eine sichere medizinische Versorgung in Pakistan nicht gewährleistet sei, insbesondere, da ihr Mandant kein Geld habe und auch nicht fähig sei, einer körperlichen Arbeit nachzugehen.
Gesundheitliche Gefahr „nur eine Theorie“
Wieder wiegelt die Gegenseite ab. „Ich sehe keine akute Gefahr der Zustandsverschlechterung.“ Und: „Die Leberwerte sind ja nicht kritisch. Die könnten sich vielleicht verschlechtern, aber das ist nur eine Theorie.“ Er könne sich schon vorstellen, dass V. eine Arbeit finde. Dann lacht er ein bisschen auf. Humorig fügt er hinzu: „Er (V.) wirkt jetzt zumindest geistig auch in einem erfreulich guten Zustand und spricht ja auch weitaus mehr als der Kläger vorher.“ Während Q. also scheinbar zu „zurückhaltend“ war, ist V. dem gemütlich wirkenden Herrn vom Bundesamt zu gesprächsfreudig.
Auch, als sich der letzte Kläger des Tages, Sultan I., zwischen Dolmetscher und Rechtsanwältin setzt, ist das Auditorium des Bibliothekssaals noch unverändert gefüllt. I. flüchtete vor den Taliban, die ihn zwangsrekrutieren wollten. Mit „Kalaschnikow und Panzerfäusten“ habe man ihn und seine Freunde im nordpakistanischen Gebiet gefesselt, betäubt und entführt. „Wir sollten mit der Waffe trainieren“, erzählt I. Irgendwie sei ihnen dann die Flucht gelungen. Sein Vater und ein befreundeter Geschäftsmann hatten den Kontakt zu einem Schleuser hergestellt, der I. mit dem Flugzeug zuerst nach Russland und dann nach Deutschland brachte.
Was sinnvoll ist, entscheidet der Richter
„Bei einer Rückkehr werden mich die Taliban umbringen. Ich habe Angst vor einem Bombenanschlag. Auch die Polizei und die Behörden sind von den Taliban durchsetzt“, übersetzt der Dolmetscher. Als die Rechtsanwältin ihrem Mandanten einige gezielte Fragen zur Entführung stellen will, fährt der vorsitzende Richter dazwischen, unterstellt ihr Suggestion. Sie entgegnet, sie halte es für sinnvoll, Zwischenfragen zu stellen. „Was sinnvoll ist und was nicht, überlassen Sie mir“, antwortet der Richter bestimmt.
Der Vertreter des Bundesamtes zeigt sich einmal mehr nicht überzeugt von der Geschichte seines Gegenübers. „Warum gehen fünf junge Männer in ein von Taliban beherrschtes Gebiet?“, will er wissen. I. antwortet, er und seine Begleiter hätten nichts von der Gefahr gewusst. Auch die Flucht vor den Entführern findet der Beamte nicht plausibel. Und selbst wenn sich die Geschichte so abgespielt hätte, heiße das nicht, dass „ihm das im Falle einer Rückkehr erneut passiert.“ Wieder schmunzelt er. „Wenn er die gefährlichen Gebiete nicht aufsucht“, fügt er hinzu.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Nachhauseweg“
„Wer gibt mir die Garantie, dass ich bei einer Rückkehr nicht ermordet werde? Ich will friedlich in Deutschland bleiben. Mehr will ich nicht sagen“, äußert sich I. am Ende der Sitzung. Der Richter schließt diese, lässt den Blick noch einmal über die Zuhörer schweifen, unter denen nach wie vor auch viele Flüchtlinge sitzen (und stehen). „Ich wünsche Ihnen allen einen guten Nachhauseweg“, formuliert er dann – in diesem Kontext vielleicht nicht ganz günstig – und verlässt den Saal.
Nach den mehr als drei Stunden Verhandlung sammelt sich die bunte Gruppe aus Flüchtlingen und Solidarischen noch einmal vor dem Gerichtsgebäude. Sämtliche Entscheidungen der Sitzung werden den betreffenden Parteien schriftlich zugestellt. Das ist normal bei solchen Verhandlungen.
Hoffnungen brauche man sich nicht zu machen, sagt die Anwältin. „Die Klagen werden alle abgewiesen“, sagt sie. Solidaritätsaktionen wie der gemeinsame Besuch der öffentlichen Verhandlungen findet sie gut. „Meine Mandanten fühlen, dass sich jemand um sie und ihr Schicksal kümmert.” Das Gericht lasse sich freilich nicht davon beeindrucken.
Am späten Nachmittag trifft man sich noch zu einer Demonstration am Hauptbahnhof, unter dem Motto „We are here and we will fight“. Der Flüchtlingsprotest geht auch in Regensburg weiter.