Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XXV)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XXV.
Mittwoch, 31. August 2016: Beim Abendessen ist Ziad ganz ruhig und ernsthaft. Er fragt nach, wann der Termin mit dem Rechtsanwalt für Hamza wäre. Paul weiß es nicht genau, aber irgendwann im September. Wir gehen davon aus, dass Hamza den Flüchtlingsstatus bekommen kann, wenn gegen den subsidiären Schutz geklagt wird. Die Eltern sollen dieses Jahr oder nächstes Jahr nach Deutschland kommen können. Der Vater ist über die aktuellen Aktivitäten zur Familienzusammenführung informiert (Übersetzung des Personenstandsregisters, Klage gegen den Bescheid „subsidiärer Schutz“ für Hamza oder Anerkennung mit „Flüchtlingsstatus“ für Ziad), er fragt immer wieder nach. Ziad versucht seinem Vater in Damaskus Dinge zu erklären, die ich mir selber und ihm in Deutschland nicht erklären kann.
Ziad erzählt mir, dass Hala, seine kleine Schwester, an den Zähnen operiert werden musste. Es war kein Unfall, sondern eine Fehlstellung, die beseitigt werden musste. Als ich nachfrage, ob die Eltern die Operation bezahlen konnten sagt er: „Ich habe nicht gefragt.“
Morgen fahren wir noch einmal gemeinsam weg: Hamza und Ziad, Paul und ich und Blacky, unser Hund. Mit Michaela und Ronald und dem afrikanischem Pflegesohn Rahim. Wir treffen uns in Görlitz, in Sachsen an der polnischen Grenze zu einem Kulturfestival. Das andere Ehepaar war schon öfter dort und hat gefragt, ob wir heuer mit dabei sein wollen.
Ich habe seit langem nichts mehr aufgeschrieben. Die syrischen Jungs waren zwei Wochen mit Lukas daheim und es ist alles gut gegangen. Auch das Ferienprogramm in Buchhausen hat den beiden gefallen, es gab keine Schwierigkeiten. Beide sehen richtig gut erholt und gesund aus, als wir sie wieder begrüßt haben.
Geschichten aus den letzten Wochen
Wir spielen wieder einmal UNO ums Abspülen. Ich selbst und Ziad sind schon aus dem Rennen. Aber Hamza und Paul kämpfen noch mit Lukas um die Ehre des Spülens nach einem guten Pizza-Abendessen mit richtig viel Geschirr. Hamza hält seine Karten so, dass Ziad reinschauen kann. Hamza hält unglücklicherweise sehr viele Karten in der Hand und Lukas sitzt hinter ihm. Ziad gibt einen Tipp: „Nimm die acht!“ Paul sitzt nach Lukas, ärgert sich über die Hilfe und sagt zu Ziad: „Gib‘ die Tipps wenigstens auf Arabisch!“ Wir lachen uns fast unter den Tisch!
Ankerkind sucht Heimathafen
Irene und Paul sind in Meersburg in der Oberstadt und besuchen den Bus des Deutschen Bundestages. Wir wollen fragen, wie es sein kann, dass ein 12jähriger in Deutschland nicht mit seinen Eltern zusammen sein kann. Zuerst sprechen wir einen ausländisch aussehenden jungen Mann im Bus an, er verweist uns an eine Kollegin. Die zückt ihr Smartphone und stellt fest, dass sie keine Aktualisierung des Asylverfahrensgesetzes hat. Auch das neue Integrationsgesetz hat sie nicht auf dem Bildschirm. Aber sie versteht unser Anliegen und will uns an den Bundestagsabgeordneten Riebsamen weiterleiten. Nach einigen Minuten sitzen wir im Abteil des Busses zusammen mit dem Abgeordneten. Er hört zu und erklärt uns seine Sorge über das bevorstehende gute Wahlergebnis der AfD. Er sagt dann zu uns, dass er gar nichts mehr hören will, weil ihm das Schicksal des Jungen schon nahegeht. Aber er muss unter anderen Prioritäten entscheiden. Persönliche Härten gäbe es wohl… Wir bekommen beim Hinausgehen eine Tasche überreicht mit besten Grüßen für die Jungs daheim.
Und daheim? Wir erzählen, dass wir mit einem Bundestagsabgeordneten über die Familienzusammenführung gesprochen haben und wir haben… eine Tasche bekommen mit verschiedenen Geschenken. Hamza packt aus und sagt dazu: „Eine Tasse. Wer hat keine Tasse und braucht eine Tasse? Ein Lineal, ein Stift. Wer hat keinen Stift und braucht einen Stift und ein Lineal? Und eine Tasche. Die Tasche stinkt.“ Die Tasche riecht nach Kunstleder und hat den Aufdruck „Deutscher Bundestag“. Hamza spricht Wahrheiten. Ich könnte ergänzen: „Eltern. Wer hat keine Eltern und braucht Vater und Mutter?“
Mit Hamza bin ich auf einem Berg zum Wandern gewesen. Es gefiel ihm sehr gut. Das Wasser aus der Quelle dort schmeckt wie das Wasser in Syrien. Ich füllte eine Flasche ab. Ziad daheim: „Das Wasser schmeckt wirklich gut.“ Ich finde: Das Wasser schmeckt nach nichts.
Bevor wir aus dem Urlaub zurückkamen haben Lukas, Hamza und Ziad im arabischen Laden in Hochstadt eingekauft. Allerdings hat Hamza die Plastiktüte mit den Lebensmitteln (Kaffee!) im Drogeriemarkt stehen gelassen. Natürlich gibt es Kommentare: „Eine Tüte mit arabischer Schrift!! Alarm! Evakuiert den Drogeriemarkt!“ Wir hören die Story aus der Familie in Syrien: In Damaskus sagte die Mutter zu den Jungs, die in die Schule gehen sollten: „Nehmt den Müllbeutel mit!“ Dieser Müllbeutel wurde von Hamzas Bruder bis in die Schule getragen. Er hatte ihn einfach vergessen.
Anhörungstermin in der Beiruter Botschaft
Donnerstag, 1. September 2016: Wir sitzen nach dem Einkauf im Wohnmobil auf dem Weg nach Görlitz. Gemeinsames Einkaufen im großen Supermarkt ist immer wieder interessant. Beide äußern Wünsche sehr bescheiden und immer noch nur dann, wenn man gezielt nachfragt: „Was möchtest du trinken? Welche Chips möchtest du mitnehmen?“
Gestern Abend habe ich mit Ziad nach längerer Zeit wieder einmal einen Abschnitt englische Literatur gelesen. Er ärgert sich sehr über sich selbst, wenn er etwas falsch ausspricht. Der deutsche Text (eine Personenbeschreibung) war dagegen schon fast perfekt in Rechtschreibung und Satzbau. Ich lerne arabisch. Einige Buchstaben, Fragewörter und ein paar Redewendungen kann ich schon.
Hamza hat das arabische Buch „Der kleine Prinz“ in seinem Bett liegen, er hat es zusammen mit der deutschen Ausgabe von Hannes Freundin geschenkt bekommen. Ich habe im Urlaub wieder einmal die französische Ausgabe gelesen und festgestellt: Es gibt Bücher, die man in seinem Leben öfter lesen sollte, so alle 20 Jahre mal wieder. Die Erkenntnisse öffnen die Augen und das Herz.
Ich bin auf der 50. Seite meiner Aufzeichnungen angelangt. (Hier bei regensburg-digital wurde es die 25. Folge). Unser gemeinsames Leben ist Alltag geworden, aber es beschäftigt mich immer noch sehr. Mein Alltag ist verbunden mit dem Alltag einer syrischen Familie, die in einem Krieg lebt. Ein Krieg, der seit über sechs Jahren ein Land verwüstet. Ein Land, in dem diese Familie mit ihren Kindern glücklich leben könnte.
Sprung in die Gegenwart: Sommerferien 2017. Hamza und Ziad leben immer noch bei uns und ohne ihre Eltern. Die Pflegeeltern sind inzwischen Vormünder geworden, haben einen Antrag auf humanitäre Aufnahme gestellt und die Eltern waren zu einem Anhörungstermin in der Beiruter Botschaft. Das Leben ist spannend.
R.G.
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Kommt hier keine Fortsetzung mehr?
Wäre schade.