Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XXIV)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XXIV.
Donnerstag, 11. August 2016: Ich habe bei Frau Filipski vom DRK Suchdienst angerufen. Es ist einfach traurig. Den Termin bei der Botschaft können die Eltern von Hamza zwar beantragen und wenn die Klage auf den Flüchtlingsstatus nicht abgelehnt wird, können wir zwar den Familiennachzug beantragen, aber die Geschwister dürfen nicht mit nach Deutschland kommen. Die deutschen Gesetze stehen dem entgegen. Falls die Klage abgelehnt wird, müssen wir sowieso zwei Jahre warten. Wie kann es sein, dass ein Kind durch ein deutsches Gesetz für zwei Jahre von seinen Eltern getrennt werden soll?
Paul, mein Mann, sagt, dass ich unrealistisch wäre. Ich soll doch nicht mit dem Kopf gegen die Mauer laufen, nur um zu sehen, dass da eine Mauer stehen würde. Man könne die Mauer schon aus der Entfernung sehen und sie als real nehmen. Ich mag keine Mauern. Ich will sie auch nicht anschauen. Wir sollten mit Ziad darüber in aller Deutlichkeit reden. Aber irgendwie geht mir solch hoffnungsloses Zeugs nicht über die Lippen. Ziad ist mit seinem Freund Mohammed aus Wilster bei uns angekommen. Mohammed ist ein schweigsamer, ruhiger Mensch, der sich nur wenig bei uns blicken lässt. Aber auch wir machen vermutlich keinen sehr kommunikativen Eindruck in den wenigen Tagen, die er bei uns ist.
Wie man als Zwölfjähriger einen Fernseher schrottet
Am Donnerstagabend ist Pflegeelterntreff in Hochstadt in einer Gastwirtschaft. Es ist so gut, mit anderen Pflegeeltern in einer Gemeinschaft zu sein und über Probleme sprechen zu können. Der Abend ist überschattet von einem Ereignis, über das ihr herzlich lachen solltet, so wie wir es das wir nur nachträglich lachen konnten: Hamza hat seinen Fernseher geschrottet! Aber wie er das geschafft hat, das ist so charmant, dass es auch nur einem Zwölfjährigen passieren kann.
Es begann damit, dass ich beim Wecken am Donnerstag festgestellt habe, dass drei Bleistifte unter dem Schreibtisch liegen. Ansonsten ist das Zimmer gut aufgeräumt. Beim Aufheben ziehen die Bleistifte eine Staubfahne mit sich und so zeige ich Hamza den Staubsauger. Er hat ihn noch nicht benutzt und ich zeige ihm, wo das Kabel sich versteckt. Nach wenigen Minuten meldet er sein Missgeschick: Eine Socke ist im Staubsaugerbeutel. Paul entfernt sie. Nach dem Saugen bringe ich Hamza einen kleinen Eimer mit Wasser und einen Lappen und sage, dass er Fensterbrett und Schreibtisch und das Regal mit dem Fernseher saubermachen soll. Er zeigt auf den Fernseher. Ich sage: „Nein, den nicht damit.“ Er macht eine Bewegung wie mit einer Pistole und spitzt die Lippen: „Pst, pst, pst!“ Ich darauf: „Ja, mit einem besonderen Glasreiniger macht man den Fernseher sauber.“ Dann verlasse ich das Zimmer und sehe Hamza später in der Küche, wie er Eimer und Lappen aufräumt und ich freue mich über den fleißigen Pflegesohn. Der wiederum freut sich auch, denn sein Bruder kommt heute nach viertägiger Abwesenheit wieder.
Am Spätnachmittag, eine Stunde vor dem Pflegeelterntreff sind Paul und Hamza mit dem Fernseher beschäftigt, der nur noch seltsame Bilder und Bild-Kombinationen mit Rauschen, Flimmern und Streifen von sich gibt. Blöd, denn Hamza hat die Erlaubnis zum Fernsehen bekommen, während wir weg sind. Ich werde in alarmierendem Ton von Paul gerufen. Er hält den Fernseher diagonal und aus dem Fernseher kommt Wasser. Es tröpfelt nicht, nein, es fließt heraus, so dass ich schnell Eimer und Lappen hole. Ich schwöre Stein und Bein, dass ich Hamza nicht angewiesen habe, den Fernseher „zu waschen“. Aber die Tatsachen sprechen gegen mich.
Übrigens lasse ich Hamza am nächsten Tag einen Spiegel mit dem Glasreiniger putzen. Es wurden mir die Augen geöffnet, da Hamza mir gezeigt hat, wie er das mit dem Fernseher gemacht hatte. Er hat wohl aus der „Glasreinigerpistole“ eine Kalashnikow gemacht und dann noch mit dem tropfnassen Lappen aus dem Wassereimer den Schaum gut verteilt. Paul hatte schon Recht: Ein Zwölfjähriger im Haus, das ist eine Herausforderung!
Ziad wird Ferienbetreuer
Freitag, 12. August 2016: Ich muss Hamza und Ziad wecken, denn ich möchte mit den beiden zur Ferienbetreuung nach Buchhausen gehen. Hamza soll in der übernächsten Woche als „Ferieninselkind“ wenigstens tagsüber betreut werden, wenn wir nicht da sind. Ziad kann sich als „Betreuer“ etwas Geld verdienen und außerdem gute Dienste leisten für die Buchhausener Ferienbetreuung, die einige Kinder aus Syrien aufgenommen hat, die noch nicht gut deutsch sprechen können. Ziad soll übersetzen, aber auch die Kinder dazu anleiten, möglichst viel deutsch zu sprechen. Es geht heute darum, dass sich Ziad bei der Leitung in Buchhausen vorstellt und die beiden Brüder sich die äußeren Bedingungen schon mal anschauen können. Ziad wird vor allem von Chef der Betreuung immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es anstrengend werden wird. Am Abend soll immer noch das ganze Haus und Gelände gesäubert werden, bevor alle nach Hause dürfen.
Paul hat sich aus einem Elektrogeschäft einen gebrauchten Fernseher als Leihgerät geholt mit der Option, dass unser Fernseher wieder repariert werden kann. Hamza ist sichtlich erleichtert. Er freut sich vor allem auf Samstagabend, denn da kommt ein Fernsehfilm über das „Sams“. Ich lese ihm seit einigen Tagen die Geschichte vom Sams in unregelmäßigen Abständen vor. Jeden Tag wird außerdem englisch geübt (er muss ein Stück vorlesen oder auch z.B. die Zahlen bis 20 auswendig schreiben lernen) und wir üben mit einem Rechtschreibprogramm.
Ankerkind sucht Heimathafen
Paul und ich möchten morgen zusammen mit dem Womo wegfahren und Lukas soll mit Hamza weiter lernen. Ziad lernt immer noch mit dem „Berliner Platz“-Buch. Er arbeitet sich auch durch Zeitschriften-Artikel. Schwierig sind Texte mit Nebensätzen, die – vor allem wenn es mehrere sind – nicht so leicht zu verstehen sind. Habe ich eigentlich schon geschrieben, dass ich mit ihm die ersten Seiten des Altflöte-Lehrwerks begonnen habe? Ziad spielt Altflöte und kann schon einige Noten lesen und ein paar leichte Stücke aus dem Buch flöten. Im Saal ist das besonders schön, weil die Akustik dazu passt. Ich hoffe, dass er auch alleine übt und versucht im Lehrwerk weiter zu kommen, denn ich spiele eigentlich zu selten und zu unregelmäßig mit ihm. Auch unsere Deutsch-Stunden sind noch zu selten. Aber es ist nicht einfach für Paul, zu sehen, wie viel Zeit ich dafür verwende.
Als Jugendlicher allein übers Mittelmeer
Heute Abend war die Familie Müller da, die Pflegeeltern von Rahim aus Somalia. Rahim hat über das Mittelmeer Italien erreicht. Dabei ist er schwimmend aus dem Wasser geholt worden und hat miterleben müssen, wie viele Menschen neben ihm ertrunken sind. Er war in Libyen lange Zeit im Gefängnis und hat dort so viel erlebt, dass er einmal einen Wärter gebeten hat, ihn zu erschießen, weil er sein Leben nicht mehr aushalten würde. Rahim ist der ruhigste und freundlichste 17jährige, den ich kenne. Er ist übrigens derjenige, dessen Schlüsselbein es ausgehalten hat, dass Hamzas Handknochen bei dem Fest im Februar gebrochen ist. Rahims Pflegeeltern werden mit uns im September nach Görlitz fahren, wo wir bei einem Kulturfestival teilnehmen werden. Sie selbst waren schon oft dort zu Gast. Bei einem Glas Wein haben wir besprochen, wann wir fahren und welche Bedingungen uns dort erwarten.
Samstag, 13. August 2016: Hamza war gestern ziemlich sauer, als ich ihn aus dem Bett geholt habe. Er hat sich mit seinem Kuscheltier in die Bettecke gedrückt und mir das Gleiche gesagt, was er auch schon Ziad auf Arabisch sagte: „Die Ferien sind gar nicht schön. Nie darf ich so lange schlafen, wie ich will. Das sind keine Ferien, wenn ich nicht schlafen kann, wie ich will.“ Ich klebe ein Schild an seine Zimmertüre: „Am Samstag und Sonntag in den Ferien darf Hamza so lange schlafen, wie er will.“ Und so kommt es, dass an diesem Tag erst kurz vor zwölf Uhr Hamza und erst nach halb drei Uhr Ziad zu sehen ist. Wir haben unser Womo gepackt und nach den üblichen Ermahnungen und guten Wünschen geht es für uns los und auf der Terrasse bleiben Hamza, Ziad und Lukas, unser 20jähriger Sohn, zurück.