Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XXIII)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XXIII.
Sonntag, 31. Juli 2016: Gestern Abend beim Fest im Nachbardorf macht mich Ziad auf etwas aufmerksam: Da sitzt die Besitzerin des I-Phones, welches er nach dem Schulfest gefunden hatte, am Nachbartisch. Sie sieht ihn auch und bezahlt Ziads Essen, ihre Mutter kommt etwas später noch zu uns an den Tisch und bedankt sich überschwänglich bei Ziad. Ziad und Hamza finden Jugendliche in ihrem Alter, die sie kennen und es wird ein schöner warmer Sommerabend mit vielen netten Begegnungen. So geht Integration auf dem Dorf!
Donnerstag, 11. August 2016: Ferienzeit! Hamza wollte vor einigen Tagen wissen, wie es am Nordpol ist und ich habe bei seiner Frage an Pauls und meinen Besuch im „Klimahaus“ in Bremerhaven von einigen Jahren gedacht. Da sollten wir mal hin. Ziemlich kurzentschlossen sind wir vor einer Woche mit dem Wohnmobil losgefahren. Ziad wollte eigentlich einen Freund zu uns einladen, der in der Nähe von Hamburg untergekommen ist. Nun eröffnete sich die Möglichkeit, dass er seinen Freund besuchen könnte.
Die folgenden Tage sind aus meinem Womo-Reisebuch abgeschrieben.
Donnerstag, 4. August 2016: Lukas bleibt daheim und hütet Haus und Hof. Mit Hamza, Ziad und Blacky fahren wir los. Zuerst wird im großen Supermarkt eingekauft. Wieder einmal merken wir, dass Hamza und Ziad aus dem Überangebot wohlüberlegt auswählen und nur das nehmen, wovon sie überzeugt sind, dass wir es brauchen. Und wenn sich jeder auch „seine“ Süßigkeit aussuchen kann, dann nehmen sie diese auch. Ziad fällt beim Anschauen der verschiedenen Nudelsorten seine Mutter ein. Wenn die das sehen würde…
Dann geht es los. Ziad sitzt hinten und lernt Deutsch. Durch Bayern und Thüringen fahren wir bis an die sachsen-anhaltinisch-hessische Grenze. Dort laufen Paul und ich mit Hamza und Blacky zu einem alten Steinbruch. Ausführliche Pause im Wohnmobil und davor. Das Wetter ist nur mäßig warm. Danach geht es weiter bis nach Bremerhaven.
Hamza sieht zum ersten Mal, dass ich auch das Wohnmobil fahren kann und staunt darüber. Gegen 11 Uhr abends sind wir am Stellplatz und machen noch einen nächtlichen Rundgang mit Blick über den Deich zur Elbmündung. Ziad betet außerhalb des Wohnmobils, für Hamza reicht der Raum über dem Womobett, wenn er steht, sich verbeugt und niederkniet.
Ankerkind sucht Heimathafen
Freitag: Frühstück im Freien, danach der geplante Besuch im Klimahaus. Es gefällt allen, sogar „Mister Langweilig“ (Hamza ist eben zwölf Jahre, da gehört das dazu!) gefällt es, auch wenn er sein Lieblingswort ab und zu anbringen muss. Auf der Dachterrasse dieses Gebäudes liegen wir bei schönstem Sonnenschein und lassen die vielen Eindrücke der Reise um die Welt auf uns wirken. Beim Womo befreien wir Blacky aus ihrer langen Mittagspause und gehen dann gemeinsam zum Fischereihafen, wo wir im Fischrestaurant UNO spielen und ein besonders gutes Abendessen bekommen. Paul schenkt jedem nach dem Essen ein Los von der Hafenlotterie. Ziad gewinnt eine Freikarte für einen Kinobesuch. Beim Womo angekommen sind wir alle müde, weil wir an diesem Tag sehr viel gelaufen sind.
Samstag: Die Nachtruhe wird von würgenden Geräuschen unterbrochen. Hamza muss die wunderbare Fischmahlzeit im Bett verteilen. Bis alle wieder ruhig einschlafen können dauert es eine ganze Weile. Ab Morgen tobt Hamza mit Blacky auf der Wiese vor dem Womo herum, als ob nichts gewesen wäre. Paul fährt in die Innenstadt, um Bettwäsche zu kaufen. Wir laufen noch einmal zum Hafen. Unser Ziel ist das Auswandererhaus. Am Eingang werden wir nach den Postleitzahlen gefragt und nach dem Alter von Hamza. Ein freundlicher Palästinenser, der an der Kasse sitzt, begrüßt die syrischen Brüder. Im Museum fällt auch Hamza sein Lieblingswort für unsere Unternehmungen („langweilig“) nicht mehr ein. Paul und ich freuen uns über die erweiterte Abteilung zur Einwanderung, die wir noch nicht kennen. Am Ende des Museums steht der Museumsshop und hier wartet der Araber vom Ticketverkauf. Es folgt ein langes Gespräch, eine wunderbare Unterhaltung über Einwanderung mit vielen Ratschlägen und Ermahnungen für Ziad: „Gib Gas!“ Der Mann hat vor allem auch mit Hamza getestet, ob er alle Tricks kann, die üblich sind. „Arabisches Kuscheln!“
Krasse Scherze
Ich möchte ein Buch kaufen und wünsche mir eine Widmung. Diese bekomme ich nicht, aber zuerst mal zwei Traubenzucker mit dem Aufdruck „Gegen Heimweh“. Dann fragt er noch einmal: „Und die Eltern? Haben sie noch Eltern in Syrien?“ Nach meiner Antwort folgen noch einmal ein paar Stückchen dazu. „Geschwister?“ Nach meiner Antwort greift er mit der Hand noch einmal voll ins Glas und gibt mir zehn Stück. Danach gab es ein schnelles Essen im Wohnmobil und wir spielten das Wikingerspiel. Ziad beendete den Tag mit einer Shisha und zum Schluss genossen wir einen herrlichen Monduntergang über dem anderen Elbufer.
Sonntag: War es gestern sonnig und warm, so ist es heute kühl und windig. Keine Sonne, viele Wolken. Wir brechen auf in Richtung Nordsee. Zuerst sind wir in Wremen (Strandfest, alles voll, keine Parkplätze) dann in Dorum (Strandfest, alles voll, keine Parkplätze). In Dorum gibt es einen Womo-Stellplatz. Am Deich bei Wremen hat sich Hamza beim Fußballspielen den Zeigefinger der linken Hand verletzt. Das Gelenk schmerzt und ist angeschwollen. Trotzdem geht das Autoscooter-Fahren am Nachmittag und auch der Schwimmbadbesuch im Watt’n Bad ist ohne Probleme möglich. Im Schwimmbad ist den Beiden (und uns auch) alles zu kalt.
Nach dem Schwimmbad gibt es Pommes, Makrele, Lachs und Krabben. Eine ganze Zeit sind wir mit dem Krabbenpulen beschäftigt. Ziad: „Das ist wie bei IS: Kopf ab!“ Manche Scherze von ihm finde ich zu krass und das Lachen bleibt mir tief unten stecken.
Mit einem arabischen Kaffee geht der Tag für uns zu Ende und die Syrer erfüllen noch die muslimischen Pflichten mit Waschung und Gebeten.In der Nacht gibt es lauten Hubschrauberlärm. Am Morgen wusste ich schon, dass Ziad das auch gehört hat. Hamza verschläft solche Störungen. Allerdings höre ich ihn in einer der Womo-Nächte im Schlaf Dutsch reden. Zuerst hat er „Ernsthaft?“ gesagt. Ziad sagt am nächsten Morgen, dass er ein Wort mit „Haft“ gehört hat und sich sehr wunderte. Noch deutlicher war aber: „Nein, nein, nein! Lass mich los!“ zu hören. Wir sprechen – nicht zum ersten Mal – darüber, dass Ziad darauf achten soll, dass Hamza die arabische Sprache nicht vergisst. Inzwischen denkt Hamza auch selbst darüber nach und sagt, dass er manchmal deutsch denkt.
Montag: Es stürmt und regnet, als wir aufwachen, zum Frühstück ist die Sonne aber wieder da. Wir fahren bis Cuxhaven, wo die Fähre vor fünf Minuten ohne uns abgefahren ist. Die Wartezeit verbringen wir mit Spielen und Essen. Dann sind auch wir auf der Fähre von Cuxhaven nach Brunsbüttel. Trotz starken Winds geht es ganz ruhig die Elbe entlang. Von Brunsbüttel ist es nicht mehr weit bis zum Wohnheim, wo Ziad ganz begeistert seinen Freund Ahmad umarmt, den er seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hat. Wir bekommen in der Wohnheimküche einen Kaffee und verabschieden uns von Ziad. Mit Hamza geht es für uns zurück nach Bacheiden.