Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XXII)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XXII.
Mittwoch, 20. Juli 2016: Gestern waren wir im Gymnasium und haben mit der Englisch-Förderlehrerin und dem Klassenleiter von Ziad eine Dreiviertelstunde gesprochen. Ziad sollte die zehnte Klasse wiederholen statt aufzugeben. In Musik, Ethik, Geschichte und Sozialkunde könnte auch auf eine Notengebung verzichtet werden, wenn der Direktor einverstanden wäre. Ziad hört zu, antwortet aber irgendwie sehr niedergeschlagen, er wirkt erschöpft. Nach dem Gespräch will er mit uns heimfahren statt noch Englisch und Mathematikunterricht zu bekommen. Ach ja… Wo ist die Zuversicht und der Ehrgeiz geblieben?
Die Zukunft wird immer unklarer
Samstag, 30. Juli 2016: Ziad schläft seit er gestern von der Schule kam, jetzt ist es Samstagmittag. Vielleicht war er in der Nacht wach? Der Familiennachzug wird immer problematischer, seine Schullaufbahn schwieriger, die Zukunftsperspektive unklarer.
Hamzas Zeugnis habe ich drei Mal unterschrieben: Als Schulleiterin, als Klassenleiterin, als Erziehungsberechtigte. Es ist höchste Zeit geworden, dass ich nicht mehr seine Lehrerin bin. Wir kennen uns inzwischen recht gut. Und meine Rolle als Mutter und als Lehrerin liefen parallel für mich und für ihn. Wir haben beide zwar die Lebensbereiche getrennt, aber gerade diese Trennung bedeutet auch Anstrengung für beide Seiten. Woher ich das weiß?
Meine Geschichte dazu: Hamza besuchte, wie alle Kinder der Schule in der letzten Schulwoche, das Freilichttheater. Ich bin nicht mit dabei, es waren genügend Lehrkräfte dabei und ich habe im Schulhaus noch viel zu tun. Am nächsten Tag machen Hamza und ich uns für die Schule fertig. Es soll ein sehr heißer Tag werden und wir sprechen darüber, dass man keine Jacke braucht. Hamza: „Irene? Wie heißt das?“ Er streicht über seinen Arm von oben nach unten. Ich: „Arm.“ Hamza: „Nein. Ich meine das, mit Kleidung.“ Er zeigt noch einmal auf seinen Arm. Ich: „Meinst du: Ärmel?“ Hamza: „Ja. Also gestern im Theater, da war eine Muslima mit Hidschab (Anmerkung: Kopftuch) und lange Ärmel. Da haben Jungen gelacht und so Sachen gesagt, nicht freundlich.“ Ich: „Oh! Das ist wirklich nicht gut. Aber das muss man den Kindern erklären, wie das ist im Islam.“ Hamza: „Ich habe das gemacht, erklärt. Für Jakob und…“
Er nennt noch einige andere Namen von Jungs seiner Klasse, mit denen er gut auskommt. Ich überlege mir noch, dass ich mir die Geschichte merken will, weil ich finde, dass Hamza es ganz schlau macht. Er fragt erst nach einem Begriff, der ihm fehlt und erzählt dann die Geschichte, von der er berichten will. Dann sind meine Gedanken dabei, wie ich den Vorfall wohl in der Klasse erläutern könnte, damit die Kinder verstehen, dass man sich nicht lustig machen muss, wenn Kleidervorschriften unseren Vorstellungen nicht entsprechen, von wegen Freiheit und so…Wir beide gehen zum Auto. Vor dem Auto dreht Hamza sich zu mir um, bleibt stehen, schweigt, schaut mich an und sagt: „Irene? Du musst nicht in der Klasse erklären für alle!“ Woher kennt er meine Gedanken? Woher weiß er, wie ich als Lehrerin und als Mensch denke? Wir kennen uns und unsere Rollen eben schon zu gut. Natürlich habe ich in der Klasse nicht über den Vorfall gesprochen.
Wir stellen nicht zur Schau, was selbstverständlich ist
Was außerdem noch geschah: Eine Journalistin war hier, eigentlich wollte sie an dem Freitag über uns berichten, als Hamza ins Krankenhaus kam. Sie kam dann am Donnerstag darauf. Die Journalistin wollte gerne wissen, was den Beiden in Deutschland seltsam vorkam, als sie hier ankamen. Ziad und Hamza war nicht klar, was sie hören wollte. Ziad kam auf ein Thema, das gänzlich unverfänglich war und immer wieder für Gespräche auf der ganzen Welt taugt: das Wetter! Dieser Sommer 2016 hat einfach noch keine stabile Wetterlage ausgebildet. Dann wollte die Frau gerne wissen, ob die Flüchtlinge denn auch im Haushalt helfen, ob sie ihr Zimmer immer gut aufräumen, welche Pflichten sie bei uns erfüllen.
Ankerkind sucht Heimathafen
Unsere Antwort hat sie vermutlich enttäuscht. Und den Wunsch danach, ein Bild beim Abspülen oder Abtrocknen oder mit dem Staubsauger in der Hand zu machen, diesen Wunsch haben wir ihr nicht erfüllt. Wir stellen nicht zur Schau, was selbstverständlich erledigt wird. Wir machen nicht zum Thema, was kein Thema sein sollte. Wir wissen aus einigen Pflegefamilien, dass diese Sache Beziehungen vergiftet. Das Fotoshooting sollte lieber draußen stattfinden. Hamza auf dem Fahrrad? Er hat doch hier Fahrradfahren gelernt? Nein, Hamza will das nicht. Warum soll es etwas Besonderes für die Zeitung sein, wenn ein Junge Fahrrad fährt? Hamza: „Aber das machen doch alle.“ Dann eben die beiden Jungs mit der Gießkanne, beim Gartengießen! Ihre Vorschläge werden immer seltsamer. Lukas soll seine beiden Pflegebrüder umarmen für das Foto! Nein, auch das geht nicht. Wir leben seit einem halben Jahr gut zusammen, aber wir werden uns nicht umarmend auf ein Foto für die Öffentlichkeit stellen.
Wichtigeres Thema: Das Personenstandsregister aus Syrien ist beim Übersetzungsbüro. Dazu auch noch die Kopien von allen Pässen der Familienmitglieder. Die Übersetzung mit Beglaubigung kostet über 100 Euro. Auch wichtig: Ziad hat sich entschlossen doch die 10. Klasse noch einmal am Gymnasium zu machen. Er wird bis Februar noch ohne Notengebung arbeiten können. Dann muss er eine Prüfung bestehen und danach mit Notengebung in der 10. Klasse weiterarbeiten. Am Ende des Schuljahres hat er dann, wenn alles gut geht, einen Abschluss für die Mittlere Reife. Damit könnte er sich dann z.B auch für die Fachoberschule einschreiben. Wenn er ein technisches Studium anstreben würde, wäre das kein schlechter Weg.
Am Samstag danach war dann bei uns das „Halbjahres-Fest“. Ein halbes Jahr sind nun Hamza (12 Jahre) und Ziad (18 Jahre) bei uns. Wir feiern mit gemeinsamen Freunden und mit unserer Familie. Die Familie in Syrien bekommt alles per WhatsApp mit.
Ein Dolmetscher, der viel zu wenig übersetzt
Hamza hat in der Schule in den letzten Wochen noch ein besonderes Kapitel des Heimat-und Sachunterrichts mitbekommen: Aufklärungsunterricht. Ziad fragt, ob das für seinen kleinen Bruder denn wirklich sein muss. Als ich sage „Ja, das ist so“, ist die Sache erledigt. Integration heißt manchmal einfach auch „Zustimmen müssen“.
Ziad spielt Altflöte. Im Saal klingt das besonders gut, auch wenn man die Töne noch sucht. Er ist geschickt mit den Fingern, kann sich die Melodiefolgen gut merken. Schon bei unserer dritten gemeinsamen Einheit beginne ich mit dem Lehrgang und fange an, ihm die Noten beizubringen. Vielleicht ist die Musik sogar als Ausgleich geeigneter als Sport? Musik hilft der Seele.
Für Ziad war in diesem letzten Abschnitt noch ein Termin wichtig: Die Anhörung in Bayreuth. Am Dienstag, 26. Juli war es soweit. Er ist mit Paul im Wohnmobil hingefahren. Der Dolmetscher war nach seiner Auskunft ein Marokkaner, der viel zu wenig übersetzt hat. Da hat Ziad dann doch lieber gleich deutsch gesprochen. Schlimm findet er auch, dass der Herkunftsort seines Vaters (Golanhöhen) in Israel liegen soll. Das ist von Israel annektiert, das ist syrisches Land. Über seine Chancen, den Flüchtlingsstatus und nicht nur subsidiären Schutz zu bekommen, äußert er sich eher hoffnungslos.
Hamzas Klage gegen diesen Status läuft. Wir bekamen einen Brief vom Anwalt, der das Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland beschreibt und einen mehrseitigen Antrag auf Prozesskostenhilfeunterstützung oder wie das heißt… Paul macht einen Termin mit Frau Faber, als Vormund ist sie immer noch für die finanziellen Angelegenheiten und für die Klage verantwortlich.
“Für Asylanten ist immer das Landratsamt zuständig”
Und noch ein Brief mit Kostenforderungen kam zu uns. Nachdem die Krankentransportfahrer (Hamza nach seinem Zusammenbruch) überzeugt waren, dass für „Asylanten immer das Landratsamt“ zuständig ist, haben wir die Aufforderung vom Landratsamt bekommen, für die Kosten des Krankentransports aufzukommen. Die Sanitäter konnten einfach nicht glauben, dass es Syrer gibt, die privat krankenversichert sind.
Vorgestern hatte Ziad Schulfest. Seine Aufgabe war vor allem das Aufräumen am Ende der Veranstaltung. Wir waren am Anfang beim Schulfest und sind mit Hamza durch das Gelände gelaufen. Es ist so schwer, sich vorzustellen, dass er Gymnasiast werden soll und trotzdem weiß ich, dass der schlaue Syrer das schaffen wird.
Spät an diesem Tag sehen wir von draußen, wie Hamza in Ziads Zimmer herumalbert.
Als wir dann später auch im Zimmer sind, werden wir beide von der Stimmung ergriffen. Hamza hat die Selfie-Stange mit dem Handy von Ziad und telefoniert mit Damaskus. Die ganze Familie ist guter Stimmung und wir grüßen hin und her. Wie schön, dass es allen gut geht. Vor allem Lihn und Hala, die kleinen Schwestern unserer Jungs im Kindergartenalter, sind ganz entzückend. Die Stimmung wird noch besser, als Ziad ins Zimmer kommt. Er hat ein schwarzes Handy in der Hand und meint: „Ich habe mir ein neues Handy gekauft.“ Ich nehme natürlich alles ernst. Solche Späße bin ich nicht gewohnt.
Paul nimmt das schwarze Teil und sagt halb fragend, halb anerkennend: „Ein I-Phone 6? Wie das?“ Ziad klärt uns lachend auf: Er hat es auf dem Schulgelände gefunden. Er weiß, wem es gehört und er wird es natürlich morgen wieder zurückgeben. Am Freitag erzählt er, wie froh die Besitzerin war, dass sie ihr Gerät wieder hat. Er wollte – natürlich! – keinen Finderlohn.