Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XX)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XX.
Montag, 18. Juli 2016: Ein sehr aufregendes Wochenende liegt hinter uns. Ziad ist heute in Bayreuth im Botanischen Garten, eine Fahrt des Biologieunterrichts der 10. Klasse. Hamza ist jetzt irgendwo im Dorf unterwegs mit seinem Fahrrad. Paul liegt auf der Terrasse im Schatten und liest. Es ist heute mal wieder ein Sommertag, einer der wenigen richtig warmen bis jetzt.
Am Freitagmorgen war Ziad sehr müde, er plante, die letzte Stunde Englisch nicht zu besuchen. Am Abend vorher hatte er in der Küche gestanden und meinte, dass die Schule wohl zu schwer für ihn sei. Er denke daran, eine Lehre zu machen, Geld zu verdienen und „… ich schaffe das alles nicht.“ war ein deutliches Gefühl. Im Schulleitungsbüro vereinbarte ich per Mail und Telefon ein Gespräch mit seinem Klassenlehrer und einer weiteren Lehrerin, die sich vor allem im Englischen um ihn kümmert.
Hamza bricht zusammen
Ich war gerade damit fertig und wollte mich weiteren dienstlichen Mails zuwenden, da brachten zwei Kinder Hamza aus dem Sportunterricht zu mir und meinten, dass er am Boden gelegen war und komisch atmen würde. Ich nahm ihn mit ins Lehrerzimmer ans offene Fenster und stellte fest, dass er sehr kurz und heftig atmete. Auf meine Aufforderung zum Atmen mit Lippenbremse reagierte er nicht. Er sagte nur, dass er wieder zum Sport wollte. Ich brachte ihn wieder in die Turnhalle und sagte der Lehrerin, dass er nicht mitturnen sollte. Dann rief ich Paul an und sagte, er solle mal einen Termin beim Kinderarzt machen, damit wir das mal abklären könnten.
Ankerkind sucht Heimathafen
Doch schon nach einigen Minuten kamen Mitschüler und sagten, ich solle wiederkommen, Hamza sei wieder am Boden gelegen. Ich ging mit ihm in die Umkleidekabine, wo er saß und heftig schnaufte. Er wollte wieder zurück zu den anderen, doch ich meinte, dass er seine Sachen packen müsste, ich würde ihn mit heimnehmen. Hamza stand auf und schwankte in den Waschraum. Die anderen Jungs kamen herein und wollten sich umziehen. Ich wollte zum Büro gehen und Paul anrufen. Doch schon im Rausgehen sagten mir die Kinder, dass Hamza im Waschraum liegen würde. Nun packte ich wirklich schnell alles Notwendige zusammen und wollte mit Hamza zum Auto gehen. Doch der schwankte die Treppe hinunter, hielt sich am Geländer fest, über das er sich zeitweise beugte und sagte immer wieder: „Ich fahre mit dem Bus! Ich fahre nicht mit dem Auto.“
An der Schulbushaltestelle bat ich den Hausmeister, meinen syrischen Buben zu packen und ihn in mein Auto zu verfrachten. Im Auto wollte er sich von mir nicht anfassen lassen und zog immer wieder seinen Arm weg oder schob mich zur Seite. Ich rief Paul auf dem Handy an. Alarm! Was ist mit Hamza los? Daheim wollte Hamza in sein Bett. Nun waren Paul und Ziad für ihn zuständig. Ich war in der Küche und sortierte meine Gedanken.
Unklare Diagnose
Der Spinat und die Kartoffeln blieben ungekocht. An das vereinbarte Telefonat mit der Englisch-Lehrerin dachte ich nicht mehr. Für den Freitagnachmittag war eigentlich ein Interview vereinbart worden mit einer Journalistin, die über eine Pflegefamilie mit Flüchtlingen schreiben wollte. Im seinem Zimmer saß Hamza derweil auf seinem Bett, hielt sich die Ohren zu und sagte deutlich: „Der Fernseher ist viel zu laut.“ Natürlich war der Fernseher war nicht angeschaltet.
Die Sanitäter kamen und stellten erst mal fest, dass er zu wenig getrunken hatte. Danach wurde die Diagnose aber unklarer: Keine erhöhte Temperatur, kein unregelmäßiger Puls, Fragezeichen über Fragezeichen, der Junge sollte durchgecheckt werden und ins Krankenhaus.
Paul und Lukas fuhren mit dem Auto und Ziad im Krankenwagen. Ich blieb daheim und als die Journalistin kam, habe ich sie erst mal abwimmeln wollen. Dann aber festgestellt, dass diese „Gesprächstherapie“ gar nicht so schlecht ist, wenn man aufgeregt ist und sowieso außer abwarten nichts tun kann.
Paul kam zurück und dann rief die Lehrerin von Ziad an: Sie meinte, dass es vielleicht eine Aussicht wäre, dass er die 10. Klasse noch einmal mit Notengebung machen würde. Wenn er dann die Klasse besteht, hätte er wenigstens eine mittlere Reife, mit der er dann entweder eine Lehre mit einem besseren Beruf machen könnte oder vielleicht auch die Möglichkeit, an der Fachoberschule sein Abitur zu machen für einen technischen Beruf.
Nun fuhr ich mit Paul ins Krankenhaus. Hamza saß auf dem Bett, Fernseher, Abendessen, Technik zum Bettverstellen, alle Leute kümmerten sich um ihn… er machte einen äußerst zufriedenen und fröhlichen Eindruck. Nur die Überwachung der Herztöne und des Blutdrucks zeigten, dass er im Krankenhaus war.
Die Nacht sollte er auf jeden Fall zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Sein Bruder saß am Bettende und hatte mehr Kummer als Hamza mit dieser Situation. Er fuhr nur ungern mit uns nach Hause und Hamza blieb in der Nacht alleine im Krankenhaus.
Am nächsten Tag konnten wir Hamza wieder abholen. Alles in Ordnung. Er war extrem schwer zu wecken, wurde erzählt… drei Krankenschwestern wären am Morgen damit beschäftigt gewesen. Wenigstens ein Grund zum Lachen, denn ich schaffe das jeden Tag alleine und Paul auch.