Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XVIII)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XVII.
Samstag, 18. Juni 2016: Paul geht schon bald los, er hat in der Gemeinde zu tun. Ich spüle die Reste vom Abend ab und merke, dass ich keinen Frühstückshunger habe. Zuerst denke ich mir, dass ich schon sehr lange nicht mehr so viel Wein getrunken hatte, wie am Abend zuvor und ich deshalb keinen Hunger habe. Dann aber überlege ich mir, dass es ganz interessant wäre, diesen Tag mit Fasten zu verbringen.
Ein paar Mal am Tag merke ich, dass ich Hunger oder Durst habe, aber dieses Gefühl vergeht wieder. Ich habe nicht viel zu tun und mache einen langsamen Tag. Beim Kartenspiel mit Lukas und Hamza merke ich, dass meine Konzentration nicht die allerbeste ist. Einige Gelegenheiten zum Kartenablegen hatte ich verpasst. Die Kreativität aber ist voll in Ordnung, sogar in einem guten Zustand: Ich finde Musik für die Schulfest-Tänze und passende Bewegungen dazu. Ziad schläft an diesem Tag viel. Am Abend sind wir zum Iftar (Essen zum nächtlichen Fastenbrechen) in die türkische Ditib-Moschee eingeladen.
„…du kannst mit den Frauen nach oben gehen.“
Wir holen wir zuerst Rahim ab und dann lenke ich das Auto nach Aberdorf. Die Stimmung im Wagen ist gut, obwohl schnell klar wird, dass wir nicht wissen, wo in Aberdorf die Moschee ist. Auch die Informationstafel am Ortseingang gibt keine Hinweise. Ich sage, dass ich den Nächsten fragen werde, den ich treffen werde. Nach der nächsten Kurve sitzen einige Leute draußen an Tischen und feiern den schönen Samstagabend nach dem langen Regenwetter. Sie sitzen genau vor dem Aberdorfer evangelischen Gemeindehaus und sind sehr lustig drauf. Sofort bekommen wir die richtige Antwort auf unsere Frage: „Die Moschee? Nächste links und dann immer geradeaus, wir kommen später auch noch dort hin.“ Aha! Mühelos finden wir den Parkplatz und laufen zum Eingang. Dort werden wir empfangen und ziehen die Schuhe aus. Ziad sagt noch: „Irene, du kannst mit den Frauen nach oben gehen.“ Wie? Nicht zusammenbleiben? Natürlich nicht, wie dumm von mir!
Es zieht sich in meinem Hals ein Kloß zusammen und merke, dass ich am liebsten losheulen möchte. Warum nur? Darüber denke ich nicht nach. Hier bleibe ich nicht! „Ich muss noch mal zum Auto gehen“ und bin auch schon wieder weg. Im Auto sitze ich und weiß nicht, was mit mir ist. Ich fühle mich überhaupt nicht gut, weiß aber nicht, warum. Unbeheimatet in einer Situation, die ich nicht einschätzen kann. Ganz und gar nicht daheim fühle ich mich und möchte mich gerne zu Hause fühlen. Die evangelische Gemeinde!
Ankerkind sucht Heimathafen
Ohne lange Nachzudenken fahre ich los, ein paar hundert Meter weiter, die Leute sind noch dort. Und schon sitze ich dort am Tisch. Ich bitte um ein Glas Wasser und gute Worte. Natürlich geht sofort eine der Frauen los und holt ein Glas und eine Flasche Wasser. Die andere setzt sich neben mich und sagt: „Mir fällt jetzt nur das ein: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herren immerdar.“
Das war richtig gut! Ich habe dann noch ein Glas Sekt (ich weiß nicht mehr, was sie feierten…) und ein Stück Kuchen gegessen. Nach einiger Zeit bin ich dann wieder mit einem gestärkten Heimatgefühl (und damit meine ich nicht „Deutschland“ oder so etwas) zurück zur Moschee. Leider, leider habe ich erst in dem Moment auf mein Handy geschaut. Mehrere Nachrichten von Ziad: „Ist alles in Ordnung? Wie geht es dir?“ Natürlich haben sich alle Sorgen gemacht. Daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Ich ärgerte mich sehr über mich und habe mich mehrfach entschuldigt. Natürlich bekam ich noch ein gutes Essen und gute Gespräche mit vielen Frauen. Erst nach Mitternacht haben wir uns verabschiedet und sind nach Bachheiden gefahren.
Tränen bei der „erfahrenen Einzelfallentscheiderin“
Mittwoch, 22. Juni 2016: Anhörungstag von Hamza! Was soll ich schreiben von diesem Tag? Hamza und Paul, der Pflegevater, fuhren mit Frau Faber, dem Vormund, weg und als ich am Nachmittag von der Schule kam, lag Hamza in seinem Bett in der Ecke mit den Kuscheltieren und hat tief und fest geschlafen. Über seinem Kopf hängt seit einigen Tagen an der Wand ein Zettel, auf dem grün unterstrichen etwas Arabisches steht, was böse Träume verhindern soll. – Ich frage nicht näher nach – Paul erzählt, dass Hamza erst erkennungsdienstlich behandelt wurde (Foto, Pass, Fingerabdrücke – nein, die nicht, da er noch keine 14 Jahre ist, Frau Faber kennt die Vorschriften).
Als sie zur Anhörung kommen, ist Paul erstaunt, dass die „erfahrene Einzelfallentscheiderin“ (so steht das in den Vorschriften für die Anhörung von Minderjährigen) noch keine 25 Jahre alt ist. Aber sie macht einen offenen und freundlichen Eindruck und auch der Übersetzer scheint kein Bürokrat zu sein. „Was hat Hamza gesagt?“ ich will wissen, wie es war. Viel hat Hamza gesagt und viel in deutscher Sprache. Erst als es schwieriger wurde, hat Paul ihn aufgefordert, arabisch zu sprechen. Und dann? Was hat Hamza gesagt? Paul: „Wir kennen ihn ein halbes Jahr. Hat er schon einmal geweint? Er war wütend, ja! Er wurde richtig ärgerlich, ja! Bei der Anhörung heute hat er geweint, geweint und geweint. Weißt du noch, wie damals das kosovarische Mädchen im Schullandheim? Die mit dem mehrstündigen Heulkrampf? So ähnlich… Die ‘erfahrene Einzelfallentscheiderin’ hat etwas vom Sommerschnupfen gesagt, als sie zum Taschentuch griff.“
“Du willst es nicht wissen.”
Und dann hat Paul, mein Mann, Tränen in den Augen und sagt: „Du willst es nicht wissen, du willst es nicht wissen.“ Ich gehe zum schlafenden Hamza ins Zimmer, nehme ihn in den Arm, küsse ihn (hab‘ ich bisher noch nie gemacht) und sage ihm, wie lieb ich ihn habe. Er schläft tief und fest und schnappt sich im Traum seinen kleinen Teddy mit den langen Kuschelarmen.
Als später Ziad auf der Terrasse sitzt und Hamza vor ihm mit glasigen Augen, fragt Ziad arabisch, bekommt Antworten und sagt dann leicht genervt zu uns: „Er weiß nichts. Er sagt, er weiß nichts.“ Paul sitzt hinter Hamza und macht abwehrende Handbewegungen und ein Gesicht, das deutlicher spricht als deutsch mit arabischer Übersetzung: Frag‘ ihn nicht noch einmal! Frag bitte nicht weiter! Hamza geht ins Haus und Paul sagt zu Ziad: „Du weißt, was er erzählt hat.“
Paul wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln. Ich höre zu und dann sage ich, dass ich mich so fühle wie damals, als Paul dabei war, als unser Sohn Benny gestorben ist. Ich weiß nicht alles über dessen Tod, ich war damals nicht dabei. Aber ich muss nicht alles wissen, ich will auch nicht alles wissen. Denn ich weiß, dass es bei Paul gut aufgehoben ist. Zugeschlossen wie in einem Safe, in dem etwas Wichtiges liegt. Nun liegt noch einiges Schwere daneben, tief drin, in Pauls innerem Schließfach.
Reiner Wehpunkt
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Die “Es zieht sich in meinem Hals ein Kloß zusammen und merke….”-Reaktion finde ich sehr authentisch und gut nachzuempfinden.
Das “Ich ärgerte mich sehr über mich und habe mich mehrfach entschuldigt” klingt wie jemand, dessen Hypermoral nun schuldgeplagt die eigenen Gefühle niedermachen will.
Klappt aber nicht, hier nicht und sonst auch nicht.