Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XVI)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XVI.
Ankerkind sucht Heimathafen
Dienstag, 14. Juni 2016: Ziad, den 18jährigen syrischen Pflegesohn, fahre ich auf dem Weg zur Arbeit manchmal zum Bahnhof, wenn ich zur gleichen Zeit wie er aus dem Haus gehe. So auch heute. Nach 200 Metern fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Hamza, seinen zwölfjährigen Bruder, zu wecken. Paul, mein Mann, und Lukas (der Sohn) schlafen auch noch. Wie kann das sein, dass ich einfach nicht daran gedacht habe, Hamza aus dem Bett zu holen? Vor einer Woche bin ich sauer, dass Ziad das nicht zum Nachtmahl gemacht hatte und heute geht es mir selbst so. Ich fahre zurück und hole Hamza aus dem Bett. Ziad hat mir noch gesagt, dass er Hamza in der Nacht nicht geweckt hat. Er hat den Grießauflauf noch nicht einmal probiert. Er selbst hat gegen halb vier (zu spät!) davon gegessen. Die Beiden nehmen den Ramadan sehr ernst. Am Nachmittag hole ich Ziad von der VHS ab. Der Kurs war anscheinend gut, er ist guter Dinge, als er davon erzählt.
Am Abend zum Fastenbrechen, ist beim Essen eine seltsame Stimmung. Es fängt schon damit an, dass Ziad nicht weiß, was er kochen soll. Es gibt dann doch Fisch, Reis und Tomatensoße, rohe Karotten und zum Abschluss Banane mit Nutella und Nüssen. Aber es bleibt sehr schweigsam. Wir sprechen noch einmal über schlimme Erlebnisse. Ziad meint, dass Hamza gar nicht alles wissen kann. Er musste erleben, wie jemand erschossen wurde, weil er dem Soldaten sagte, dass der Mensch den er suchte, schon geköpft ist und der Kopf aufgehängt wurde, so dass es jeder sehen konnte.
Ziad bietet mir Kaffee an, er macht welchen und erzählt dabei (siehe oben). Danach holt er sich eine Zigarette und geht zum Kaffeetrinken nach draußen. Er zeigt mir ein Bild von Hamza in Adra und danach dieses Bild:
Das war die erste Flucht. Wer in Google-Maps nach Hajar al Aswad (südwestlich von Damaskus-City) reist und dann die süd-westliche Ecke der Bebauung nimmt und von dort einem der Wege nach Süden folgt, sieht die Strecke, die oben auf dem Foto ist. „Hier sind wir aus unserem Haus in unserer Stadt ausgezogen. Es war kein Umzug, nur Essen und Kleidung. Mein Vater macht dieses Bild – Ziad zieht die Personengruppe heran – Meine Mutter (links) mit der kleinen Schwester auf dem Arm, mein Onkel, meine Tante, vorne das ist Hamza. Wir mussten laufen, viel laufen. Und dann kam ein Helikopter. Wir sind unter einen Baum, damit er uns nicht sehen kann.“
„Was ist mit eurem Haus jetzt?“ „Ich weiß das nicht. Keiner weiß das. Mein Vater vielleicht, aber er sagt darüber nichts.“
Ziad fährt mit den Fingern immer wieder auf dem Bild herum, wie wenn er die Menschengruppe zu sich herholen wollte, alle wieder nahe bei ihm und alle wieder beisammen. Dann zieht er es wieder auseinander, die Menschen, die man gerade noch meinte zu erkennen, laufen im Bild nach vorne und die trostlose Umgebung wird zur trostlosen Situation eines Jungen, der seine Zigarette verglühen lässt und sich an seinem Handy festhält.
Paul kommt dazu und ich bitte Ziad, ihm auch das Bild zu zeigen. Er erzählt noch einmal, wischt sich dabei über die Augen und trinkt den letzten Schluck Kaffee.