Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XV)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XV.
Sonntag, 11. Juni 2016: Hamza steht alleine auf und macht seine Hausaufgaben. Er schreibt am liebsten mit Bleistift und inzwischen sehr zügige Druckbuchstaben. Die Sätze für die Deutschhausaufgabe versteht er komplett. Nach der Erledigung überprüft er anhand der Vorlage gewissenhaft, ob alles richtig ist. Bei der Mathematiküberprüfung sehe ich, dass er als einziger Schüler der Klasse alle Divisionsaufgaben beim Unterricht mit dem Tablet richtiggemacht hat. Der Junge war in Syrien in der sechsten Klasse und hatte gute Bewertungen.
Mit Paul spielen Hamza und ich Halma. Hamza lernt solche Spiele schnell und spielt mit Begeisterung und vollem Einsatz. Natürlich gewinnt Paul, im Halma hat ihn noch keiner geschlagen. Hamza erzählt, dass in Syrien die Kinder draußen gespielt haben: Fangen, Murmeln, Wettrennen. Wenn er drinnen gespielt hat, dann mit dem Computer oder der Spielkonsole. Brettspiele und Kartenspiele hat er in Deutschland kennengelernt.
Ankerkind sucht Heimathafen
Um 13 Uhr wecke ich Ziad. Ich möchte die Beiden mit nach Ostheimingen nehmen. Dort ist ein Gospelkonzert vom Chor, in dem ich seit über 25 Jahren singe. Ziad und Hamza sitzen mir gegenüber und ich fühle mich wohl dabei, die beiden ab und zu „anzusingen“. Danach fahren wir gemeinsam nach Neustadt und holen Ahmad und Ismail ab. Die beiden sind ähnlich alt wie „unsere“ Flüchtlinge und die Brüderpaare sind seit dem Ankommen in Deutschland befreundet. Sie können heute bei uns übernachten, damit sie das Fastenbrechen in der Nacht gemeinsam begehen können. Eigentlich wäre das gemeinsame Fastenbrechen ein Familienerlebnis.
Auf der Heimfahrt fragt Hamza wieder einmal im Auto: „Irene?“ „Ja.“ „Irene, wem gehört diese Straße?“ „Das ist die Staatsstraße, die gehört dem Freistaat Bayern.“ Hamza: „Ja. Und diese hier“ – wir biegen nach Bachheiden ab, „Diese hier gehört unserer Gemeinde, oder?.“ „Ja, Hamza.“ Ziad sagt (leicht genervt): „Er fragt das immer wieder. Immer wieder das mit den Straßen. Er wird noch etwas werden wie… wie heißt das? … wie eine Regierung in einer Stadt.“ „Bürgermeister.“ Ziad: „Ja, Hamza wird so wie Bürgermeister werden.“ Tja, Ziad, wer weiß?
Mir fällt folgende Geschichte ein, die ich gelesen habe: Die Grundschullehrerin vom Bundespräsidenten wird gefragt, wie er in der Schule gewesen war. Die Lehrerin sagt: Ja, gut. Aber wenn ich gewusst hätte, dass er Bundespräsident wird, hätte ich ihn mehr gefördert.
Erfahrungen mit dem Anhörungsbogen
Mit Hamza habe ich am Freitagnachmittag den Anhörungsbogen durchgesprochen. Nachdem er sich an diesem Tag nicht mehr mit Müdigkeit wegen des Fastens beschäftigen musste, war er wirklich fit. Alle 42 Fragen haben wir durchgesprochen. Hamza hatte die arabische Version und ich hatte den deutschen Bogen. Hamza las und übersetzte. Bei einigen Fragen hat er es wortwörtlich getroffen. Wir staunten aber auch über die Unfähigkeit des arabischen Übersetzers. Hamza sagt: „Schreibe den letzten Wohnung auf in deinem Land.“ Bei mir steht: Nennen Sie den letzten Wohnort in Ihrem Heimatland. Ist da nicht ein Unterschied zwischen aufschreiben und „nennen“. Wir lachen gemeinsam herzlich darüber, dass wir nicht nur wissen sollten, wie seine Ehefrau heißt, sondern auch, wo sie jetzt wohnt und wie viele Geschwister sie hat. Als es darum geht, was im schlimmsten Fall passiert wäre, wenn er in seinem Heimatland geblieben wäre, sagt Hamza: „Da kommt eine Bombe, bumm, bin ich tot.“ Er lacht dabei. Frage 35.
Nachtrag Mai 2017: Das ist mir noch öfter begegnet. Wenn es um die tatsächlichen Gefahren, um die lebensbedrohliche Realität in Syrien geht, dann werden die beiden Jungs lustig. Am Anfang denke ich noch: „Die nehmen das mit Humor.“ Später aber ändern sich meine Gedanken. Es kommt mir ein wenig vor wie selbstverletzendes Verhalten. Weil die Kinder die Realität nicht aushalten können, brauchen sie ein starkes anderes Gefühl.
Als es aber bei Frage 39 darum geht, wie er die Idee bekommen hat, aus seinem Heimatland wegzugehen, da kommen wir ins Gespräch. Natürlich hatte er keine Idee dazu. Aber dass es gefährlich war und welche Situationen gefährlich waren, das weiß er. Er nimmt den Bleistift und zeichnet auf das Papier ein Haus mit Hochdach, Fenstern oben und Schraffur unten. Unten wird gearbeitet. Das ist eine Fabrik. Irgendwann war es wohl so, dass Soldaten die Männer der Familie holen wollten, sie waren aber im Keller. Dann sind sie weg und waren auf einem Fahrübungsgelände (Fahrschule?), wo sie bleiben mussten und nicht raus konnten wegen der Soldaten. Ein Freund (oder Verwandter?) vom Vater hat dann wohl ein Papier besorgt, dass der Vater und Hamza aus dem Gelände wieder rauskonnten. Der Vater musste auch zur Arbeit. Die anderen der Familie waren aber wohl noch länger dort und konnten nicht raus. Ich weiß nicht, ob ich alles verstanden habe. Ohne Dolmetscher kann Hamza solche Erlebnisse nur unvollständig schildern. Er spricht sehr sachlich, scheint aber genau zu wissen, was eine bedrohliche Situation ist.
Nachtrag: Einige Tage später erzählt Ziad, was er dort in Adra gesehen hat. Ein Soldat kommt und fragt einen Menschen nach jemandem. Er sagt den Namen und ob dieser Mensch gesehen worden sei. Der Gefragte sagt, dass er ihn nicht gesehen hat, aber der Kopf dieses Menschen ist aufgehängt einige Straßen weiter. Der Soldat erschießt den Menschen, der das erzählt hat.
Deutsche Vorstellungen treffen auf muslimische Gewohnheiten
Mit Ziad besprechen wir noch mehr am Freitagabend am Küchentisch. Danach und viel ausführlicher wird der Hilfeplan besprochen, den Hamza und Ziad vom Landratsamt bekommen haben. Das Protokoll ist zum Teil in seltsamen Amtsdeutsch abgefasst. Es wird die Integration der „jungen Menschen“ gelobt, zum anderen Teil aber ihre Hilfsbedürftigkeit festgestellt. Nicht leicht zu verstehen… nicht nur die Sprache, sondern auch die Absicht, die dahintersteht. Das Pflegegeld für den Volljährigen wird nur bezahlt, wenn klar wird, dass er alleine nicht zurechtkommt. Dabei wird aber gerade seine Selbstständigkeit und seine Eigeninitiative die Ursache dafür sein, dass er in Deutschland ist.
Ich liege hier im Wohnzimmer und schreibe. Nebenan in der Küche klingen die arabischen Stimmen schon sehr vertraut, obwohl ich natürlich immer noch nichts verstehe. Ziad kocht wieder. Ahmad hat mit seinem Vater geskypt, der in der Türkei ist. Die beiden „Kleinen“ sind hinten im Zimmer und vergnügen sich vermutlich mit der X-Box. Es ist tatsächlich eine Stimmung an diesen Ramadan-Abenden in der Küche, die auch ich als besonders spüre. Gegen halb neun taucht Ziad in der Küche auf und fängt an zu kochen. Da wird viel gerochen und gelacht und gewartet und wenn Hamza dazu kommt, merkt man die Spannung, die Hunger und Durst mit sich bringen. Bis zum „Bismillah“ (im Namen Gottes), mit dem der erste Bissen begrüßt wird, ist es noch über eine halbe Stunde, aber der Tisch wird gedeckt. Jeden Tag so ein bisschen wie Bescherung am Heiligabend. Hat schon was…
Hannes, mein ältester Sohn hat heute Morgen angerufen. Wir haben uns eine Stunde am Telefon unterhalten. Es ist lange her, dass ich so ausdauernd mit jemandem am Telefon gesprochen habe. Er hat von seiner Arbeit erzählt und hat sich nach Hamzas Anhörung erkundigt. Seine Freundin hat ebenfalls nicht nur freundliche Worte sondern auch praktische Hinweise für den Umgang mit der Anhörung von Flüchtlingen.
Montag, 13. Juni 2016: Mit Ismail und Hamza haben Lukas und ich über eine Stunde Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt am Wochenende. Leider hatte ich beim Abholen am Samstagnachmittag nicht genau mit Familie Blücher besprochen, wann und wie Ismail und Ahmad wieder zu ihrer Pflegefamilie zurückkommen (hier geht mir das „nach Hause kommen“ einfach nicht in die Tasten!). Der Pflegevater ruft an und sagt, dass er auf jeden Fall möchte, dass der jüngere der beiden Brüder bis halb neun abgeholt wird.
Deutsche Vorstellungen davon, wann ein Kind ins Bett soll treffen auf die muslimischen Gewohnheiten des Fastenbrechens. Schade, aber wenigstens haben die Freunde ein gemeinsames Fastenessen miteinander verbringen können.
Ziad macht mit Hamza am Sonntag eine Pizza, die gut gelingt. In der Nacht stehen beide auf und essen und trinken noch einmal. Am Montag gibt es mit Ofenkartoffeln (demokratisch durcheinander, nicht so diktatorisch gerade, wie auf dem Bild von seinem Freund (Tiefkühlfritten!)) und einen Grießauflauf mit Pistazien. Über solch alltägliche Dinge, wie das Aussehen von Pommes frites kommen wir an Gespräche über Politik und Gesellschaft.
Montagnachmittag: Frau Faber ist von halb fünf bis halb sieben bei uns und wir sprechen über den Anhörungsbogen und über die Erlebnisse von Hamza und Ziad.
Für nicht so zartbesaitete Gemüter und Neugierige: „Adra Syrien Massaker“ googlen. Wenn der Bericht dann vom Dezember 2013 ist, ist man auf der richtigen Spur. Adra liegt nördlich von Damaskus. Eigentlich stammt die Familie aber aus „Hajar al Aswad“, einer südlichen Vorstadt von Damaskus, auf google maps kann man dorthin reisen.