Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (VIII)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil VIII.
9. April 2016: Paul setzt die Fensterumrahmung im Saal ein, Ziad streicht die Balken an der Außenseite vom Saal und Lukas ist beim Fußballspielen. Auch Hamza ist beim Fußballspielen, allerdings auf dem Bolzplatz von Bachheiden. Ich muss von den Schularbeiten, die ich eigentlich korrigieren sollte, Abstand bekommen. Ich nehme mir einen Bericht für das Schulamt vor. Es ist schön, auf der Terrasse zu sitzen und zu arbeiten. Jeder arbeitet auf seine Weise, mich stören die Geräusche der Umgebung nicht. Ganz im Gegenteil: Vogelgezwitscher und „Heute im Stadion“, die Samstagsstimmung im Frühling…
Nun ist es aber so, dass ich einen sehr gut formulierten Teil des Berichtes durch einen blöden Fehler statt kopiert gelöscht hatte. Ich brauche Abstand von dem Berichtschreiben. Ich schwinge mich aufs Fahrrad und fahre zum Bolzplatz, um nach Hamza zu schauen. Blacky rennt neben mir her und hat gleich seinen nachmittäglichen Auslauf. Hamza sitzt im Gras hinter dem Tor und sieben Bachheidener Buben rennen auf dem Platz. Ich frage ihn: „Lassen sie dich nicht mitspielen, Hamza?“ Da antworten gleich mehrere von den Kindern: Doch! Aber klar! Er ist schon qualifiziert, er hat schon ein Tor geschossen. Später kommt er zurück und erzählt, dass er Sieger bei der WM auf dem Bolzplatz geworden ist.
Ziad ist wirklich gut im Malern, er hat die Terrassenseite vom Saal gestrichen. Paul hat die Fensterumrahmung auch toll hingekriegt. Und mein Bericht ist auch fertig um Abschicken ans Schulamt, als es schließlich zu kalt geworden war auf der Terrasse.
Wenn der Gefrierschrank klickt…
10. April 2016: Mit Ziad und Hamza beim Abendessen. Hamza sagt plötzlich ganz kurz etwas in arabischer Sprache, Ziad wiederholt es und beide lachen. Ich frage bei solchen Sachen nicht nach, aber nach ein paar Sekunden erklärt es mir Ziad: „Irene, hast du das Geräusch vom Kühlschrank gehört?“ (Sein Deutsch ist bei solchen Sätzen perfekt, er denkt nach und spricht.) Es war das Geräusch, wenn das Thermostat klickt und der Gefrierschrank dann anfängt zu arbeiten. „Dieses Geräusch war immer, wenn es wieder Strom gab. Alle sind sofort aufgestanden. Hamza und mein Bruder zum Fernseher, ich zum Handy-Ladegerät, meine Mutter zum – wie heißt das?“ – zeigt auf den Herd… „Strom gab es dann für zwei Stunden oder für kürzer oder länger und dann wieder fünf Stunden oder länger nicht.“ Ich werde beim nächsten Mal sicher ganz bewusst hinhören, wenn mein Gefrierschrank sich einschaltet.
Heute Nachmittag war der dritte Tag des internationalen Filmfestes im Dorfkulturzentrum. Ziad war ab zwölf Uhr mit mir drüben, Hamza kam dann – von Paul gebracht auch nach. Wir haben „Die Götter müssen verrückt sein“ mit arabischen Untertiteln angeschaut. Der Film hat Spaß gemacht und Ziad konnte sich mit einigen Besuchern unterhalten. Hamza kann die arabischen Untertitel ohne Probleme lesen. Es war ein schöner Nachmittag für uns drei.
Ein Telefonat mit der Familie in Syrien
11. April 2016: Ich war mit Ziad in Hochstadt und während ich meine kaputten Armbanduhren zum Uhrmacher brachte, schickte ich ihn ins Geschäft des örtlichen „Outdoor-Handels“, damit er sich eine Sommerjacke aussuchen kann. Die Jacken, die er – als ich wieder komme – anprobiert hat, zeigt er mir. Seine Kommentare dazu verwundern mich aber: Die Jacken sind entweder zu klein (seine Meinung) oder in der falschen Farbe (blau statt schwarz; die blaue Jacke stand ihm aber ganz hervorragend!). Ich vermute, er hat auf das Preisschild geschaut und dann sich schnell entschlossen, dass ihm hier gar keine gefällt. Er braucht aber eine Sommerjacke, die auch einen Regentag aushält.
Auf dem Heimweg hat er eine Whatsapp-Nachricht von seinen kleinen Schwestern bekommen, die z.B. „Ischliebedisch-Irene“ ins Handy lachen. Wenn man dann noch weiß, wie niedlich die zwei Mädchen auf den Fotos aussehen…
Dann ergibt es sich zwischen Hochstadt und Bayersheim, dass ein Telefonat mit seinem Vater zustande kommt. Dann auch mit der Mutter und schließlich kommt auch noch der Bruder dazu. Die Stimmen kommen in glasklarer Technik rüber, als ob Damaskus gleich hinter Hochstadt liegen würde. Ziad Vater bedankt sich: „Thank you, Madame Irene, Thank you, thank you, thank you…“ und auch im Gespräch mit Ziad höre ich immer wieder „shukran“. Das Geld ist angekommen.
Aber es geht beim Danke nicht nur um die übermittelten Euro, sondern auch um die Aufnahme und die Fürsorge für die beiden Söhne. Es wird ein sehr emotionales Gespräch. Ich fahre an die Seite. Ich kann nicht nach Syrien telefonieren und mich auf das Autofahren konzentrieren. Warnblinkanlage an und an den Straßenrand gestellt. Manchmal fehlen Worte, obwohl man vieles fragen und sagen will. Dann hilft Einfaches und die normalen menschlichen Bedürfnisse: Was gibt es heute zu essen? Reis und … hmm… was? Das Smartphone kann auch arabische Worte während des Gesprächs übersetzen. Bohnen! Das gibt es jeden Tag. Nudeln oder Reis. Im Hintergrund quietschen die kleinen Schwestern fröhlich. Daheim stelle ich mich an den Herd und koche Reis.
Endlich Aufenthaltsgenehmigungen
12. April 2016: Hamza will „Zoomania“ im Kino ansehen. Er fragte mich am Wochenende, ob wir in der nächsten Woche gehen können. Ich habe am Dienstag Zeit. Ziad hat auch Interesse, aber am Dienstag seinen langen Schultag mit dem unbeliebten Sportunterricht. Am Montag seht im Familienkalender in der Spalte von Hamza: KINO, bei Ziad steht: „filaeicht Kino?“
Also heute wieder ein Film: Zoomania. Mit Hamza, Ziad und Lukas im Kino. Der Film ist sehr sehenswert und bis auf den österreichischen Verkäufer haben sich Ziad und Hamza sprachlich zurechtgefunden. Vor allem die Faultiere haben sich sprachlich hervorragend rücksichtsvoll verhalten ;-)
Frau Faber war heute Nachmittag bei uns hat zwei Papiere vorbeigebracht „Aufenthaltsgenehmigungen“, das sind ausweisähnliche Blätter, die besagen, dass der Inhaber als asylsuchend gemeldet ist. Also eigentlich nichts anderes als die Bestätigung dafür, dass sie seit Oktober nicht illegal in Deutschland sind. Ich sage Hamza, dass er mit diesem Papier nun in Deutschland bleiben kann. Er sagt, dass er, wenn er groß ist nach Syria gehen will. Ich sage: „Wenn dort Frieden ist und kein Krieg.“ Er nickt.
Ein Brief der Hochstadter Justizbehörden kommt am gleichen Tag. Ziad ist aus der Vormundschaft entlassen. „Ich kann nun alleine entscheiden.“, sagt er mit leicht ironischem Unterton. Hamza setzt eine sehr gönnerhafte Miene auf, fasst von unten seinem Bruder an die Schulter und spricht einige beruhigende arabische Worte. Wir sehen es und grinsen: „Das ist aber schön, dass du für deinen Bruder sorgen willst.“
Hamza hat einen neuen Erziehungsberechtigten
Beim Abendessen sitzen sich Ziad und Paul, mein Mann, als „Erziehungsberechtigte“ von Hamza gegenüber. Es geht um die große Portion Nudeln mit Rindfleisch (aus dem türkischen Supermarkt), die sich Hamza auf den Teller geladen hat. Muss er sie essen (Ziad) oder kann er die Reste zum Hühnerfutter geben (Paul)? Am Schluss kommt ein Kompromiss heraus: Hamza isst alles Fleisch und gibt am Schluss ganz wenig zermatschte Nudeln (Einigkeit bei der Regel: Mit dem Essen nicht spielen.) in den Hühnereimer. Es ist zu wenig, um zu sagen, wer von den beiden nun der ausschlaggebende „Erziehungsberechtigte“ für ihn ist.
17. April 2016: Paul übt mit Hamza für die Probearbeit im Heimat- und Sachunterricht, Thema: „Müllvermeidung, Mülltrennung, Müllverwertung“ Sie haben Materialien gemeinsam gelesen, diskutiert (Warum nicht den Müll einfach vergraben?) und nun schauen sie gemeinsam die Sachgeschichten von der Maus. Da merkt man erst, ob bei den Filmen langsam und deutlich gesprochen wird, oder ob alles zu schnell und oberflächlich gesagt wird. Hamza ist interessiert, geduldig und konzentriert.
Akzeptable Noten…
Gestern habe ich die Mathematikprobe korrigiert. Bei den Aufgaben, die nicht textbasiert sind, ist er am Anfang fehlerfrei, erst gegen Ende hat der einzelne Fehler. Wenn ich nur die bearbeiteten Aufgaben berechne, ist das Note 2. Ansonsten kommt er auch noch auf Note 4. Bei einem Klassendurchschnitt von 3,4 (die Arbeit war lang und schwer) ist das immer noch eine akzeptable Note für einen Viertklässler, der erst seit Februar in der Klasse lernt.
Gestern war Jakob aus Hamzas Klasse bei uns, der gerne mit Hamza spielt. Hamza war auch schon bei Jakob. Außerdem waren Ahmad und Nazar bei uns, Ahmad hat auch hier übernachtet. Außerdem hat auch noch Jonas hier übernachtet. Jonas ist ein Freund von Lukas. Es ist wieder richtig war los bei uns in Bachheiden. Und es stört mich viel weniger als ich dachte, wenn die Freunde „meiner“ Kinder vormittags im Unterricht und nachmittags bei uns daheim sind.
Ankerkind sucht Heimathafen
Ziad hat zusammen mit Ahmad und dessen Wasserpfeife den „Jugendraum“ auf der Bühne unseres alten Tanzsaals auf dem Grundstück entdeckt. Dort waren vor einigen Jahren meine eigenen Söhne. Und nun sind zwei syrische Jungs zugange. Sie haben den Raum gekehrt und dann „eingenebelt“ mit dem aromatischen Tabak der Wasserpfeife. Hamza beim Lernen und Einsortieren der vielen Arbeitsblätter: „Es gibt viel Papier in Deutschland.“
Mit Ziad habe ich in dieser Woche seine Englisch-Hausaufgabe angesehen. Er bekommt inzwischen statt Französisch noch Englisch bzw. zusätzlichen Deutsch-Unterricht. Es fällt ihm gar nicht so leicht, Argumente in der englischen Sprache zu formulieren. Sehr erstaunlich: Die deutsche Sprache geht dazwischen! Sowohl bei der Aussprache, Rechtschreibung als auch beim Wortschatz ist Deutsch inzwischen deutlich besser als Englisch. Wenn ich zurückdenke, dass vor nicht einmal drei Monaten die Verständigung oft mit Englisch laufen musste, weil deutsch noch nicht ging.
Der Saal wird renoviert, bei uns in der Wohnung macht der Umbau meines Arbeitszimmers zum Bad deutliche Fortschritte: Die Wand ist gefliest, die Elektroeinrichtungen sind vorbereitet und nun kommt als nächster Schritt der Boden dran, der gefliest wird. Markus hat uns gestern eine tolle Idee für die Decke gegeben. Hier wird nun der alte Mittelbalken frei gelegt und aus seitlichen Kästen wird die Beleuchtung für den Raum gestaltet.
Hilfsangebote unkoordiniert nebeneinander
Am Donnerstagabend war ich bei der Diskussionsveranstaltung von unserer SPD-Landtagsabgeordneten. Es ging darum, dass viele Hilfsangebote unkoordiniert nebeneinander existieren. Die Wirtschaft ist daran interessiert, dass möglichst viele Flüchtlinge eine Ausbildung machen, überall fehlen Lehrlinge. Auch unser Fliesenleger hätte gerne Nachwuchs in der Firma. Es wird klar, dass viele Lehrer fehlen und dass Hamza und Ziad sich bei uns in einer wirklich guten Situation befinden.
Sonntagabend Gasthaus Linde beim Kartenhausbauen mit Bierfilz-Karten… Hamza: „Mein Vater macht das mit Rauchpaket.“ Erklärung: Zigarettenschachteln waren es.
18. April 2016: Mitte April, aber der Frühling kommt noch nicht so richtig. Morgens ist es hell, aber eiskalt und nun am Abend sitze ich neben dem Feuer und freue mich über die Wärme im Wohnzimmer. Hamza hat am Nachmittag neben mir am Küchentisch gelernt: Die Verbesserung der Matheprobe, der Lesetext über das „Salz im Meer“, die Aufgabe im Englisch-Arbeitsheft zu „Jack and the Beanstalk“. Eigentlich sollte er auch noch einmal HSU ansehen, aber wir sind dann doch raus und haben mit dem Fahrrad und dem Hund an der Leine eine Runde durch das Dorf gedreht. Die Müllproblematik (von dem HSU-Thema) beschäftigt ihn: „Ich habe hier gesehen ein… wie heißt das, wenn kleines Kind nicht in Toilette gehen kann?“ Tja, liebe Leser, was ist wohl gemeint?
Gestern Nachmittag waren Ziad, Hamza und ich im Weißhausener Heimatmuseum mit vielen Glasobjekten. Ziemlich mutig mit dem kleinen Syrer in ein solches Museum zu gehen. Aber er fragt gleich beim ersten Objekt: „Darf man das anfassen?“ Nein, man darf natürlich nicht! Ziad ist fasziniert von den Farben und Formen, vom Licht und dem künstlerischen Können. Es macht ihm sichtlich Freude, die Objekte anzusehen oder auf Besonderheiten aufmerksam gemacht zu werden. Erst kurz vor Museumsschluss, um 17 Uhr beenden wir unsere Runde. Am Schluss steht er vor einem filigranen Glas, das 1.300 Euro wert sein soll und staunt. Hamza darf sich eine Glasmurmel aussuchen, die er dann sogar noch vom Mann an der Kasse geschenkt bekommt.
Ein „Arschloch-Bruder“, der Asylbewerber-Heime anzünden will.
Danach gibt es noch einen kurzen Besuch in Weißhausen, im Wohnheim der UMFs (Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge). Der alte Kindergarten ist renoviert, es gibt ein ordentliches Büro für die Betreuer und wir sind in der Küche, im Aufenthaltsraum und im Wohnzimmer. Brigitte arbeitet immer noch mit den jungen Ausländern aus Afghanistan und Syrien. Sie begrüßt uns mit ihrer einmaligen Art. Brigitte aus Spremberg, die mit dem „Arschloch-Bruder“(ihre Worte), der Asylbewerber-Heime anzünden will.
Birgit, die Pashtuni lernt und zu den jungen Männern sagt: „Kinder, seid doschn bissn lieb heute, ja?“ Während Ziad sich mit ihr unterhält, ist Hamza schon draußen und spielt Fußball und hat dabei den Grill umgeschossen. Den Buben kann man nicht alleine lassen! Ich verstehe die Eltern, die das Kind aus dem Kriegsgebiet heraus haben wollten. Brigitte meint, dass die Küche noch ein paar Vierkant-Reiben und Sparschäler brauchen könnte, damit dem Kochdienst noch Helfer zugeteilt werden können.
Hamza und Ziad haben ihre Portrait-Bilder an der Wand gesehen und Brigitte schwört, dass sie am 29. September 2015 aus dem Bus ausgestiegen sind, der von München kam. Sie habe geweint, als sie die Kinder gesehen hat. Außer Hamza und Ismail, die 11 und 12 Jahre waren, war auch noch ein ca. 7jähriger dabei, der allerdings inzwischen wieder bei seinen Eltern ist, von denen er auf der Flucht getrennt wurde. Wir verabschieden uns wieder vom „UmFn-Heim“ und freuen uns gemeinsam darüber, dass sich Ziad und Hamza bei uns wohlfühlen.