Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (VII)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil VII.
23. März 2016: Hamza hat mitgeholfen unser Wohnmobil sauber zu machen, weil wir morgen Mittag losfahren wollen. Ziad war bei Blüchers zum Übernachten. Schön war ein Waldspaziergang mit Hamza, die Kirchbergrunde, es wird langsam Frühling, sehr langsam heuer. Immer noch geht man mit Mütze und überlegt sich, ob Handschuhe mitgenommen werden müssen. Hamza fährt so gut mit dem Fahrrad, dass man ihn zum Briefkasten schicken kann.
Heute ein langes Telefonat mit der Freundin meines ältesten Sohnes Hannes. Wäre es vielleicht doch besser, einen Anwalt zu beauftragen, der mit zur Anhörung geht? Oder soll man auf den Vormund von der Caritas vertrauen und einfach abwarten? Das Gespräch hat mich in vieler Hinsicht beruhigt. Es gibt ein gutes Gefühl, wenn man merkt, dass fachkundiger Rat und gute Überlegungen nur einen Anruf weit entfernt sind.
Darf am Karfreitag Fußball gespielt werden?
Etwas Aufregung gab der Anruf von Herrn Hammerwies, der mir sagte, dass eine förmliche Vorladung für Ziad in Weißhausen im Ausländerheim angekommen sei. Er würde sie vorbeibringen. Aber es war ein anderer Name auf dem Umschlag gestanden. Zum Glück hatte ich Ziad nichts davon erzählt. Das wäre bestimmt nicht gut gewesen.
Beim Abendessen saß die ganze Familie mit Pflegekindern zusammen. Es gab es eine lange Diskussion darüber, welche Bedeutung christliche Feiertage in Deutschland haben. Der Gegensatz zu muslimischen Feiertagen in muslimisch geprägten Ländern wird ausführlich besprochen. Es wird diskutiert, ob am Karfreitag Fußball gespielt werden soll oder nicht. Auch Ziad beteiligt sich mit einigen Anfragen.
30. März 2016: Vom 24. März bis heute waren wir mit dem Wohnmobil im Ruhrgebiet. Ziad und Hamza waren bei Cousine Jasmina. Wir haben sie am Donnerstagabend dort hingebracht. Die junge Frau kam mit ihren zwei Töchtern nach Deutschland. Sham (das ist der syrische Name von Damaskus, ja, das Mädchen hat sie so genannt) ist vier Jahre alt und ihre Schwester acht Jahre. Natürlich bekommen wir Kaffee gereicht. Auch als wir unsere zwei Pflegekinder wieder von ihrer Zweizimmer-Wohnung abholen.
Ankerkind sucht Heimathafen
Paul und ich hatten fünf Tage im Ruhrgebiet voll mit Kultur und Erholung (Nichtstun und Niederrhein-Therme, Gasometer Oberhausen und Folkwang-Museum, Red-Dot-Design-Ausstellung und Rad-Tour von Oberhausen nach Duisburg. Zwei Mal waren wir zum Abendessen und zwei Mal zum Shoppen (Haltern am See und CentrO). Hamza und Ziad waren auch beim Einkaufen. Allerdings hat es die Cousine tatsächlich geschafft, das Geld, das ich Ziad für sie aufgenötigt hatte, nicht zu verwenden. Sie hat es einfach wieder in seine Tasche gesteckt. Einfach unglaublich, diese arabische Familien-Kultur ;-) Sie wollte es weder für ihre zwei Kinder noch dafür, dass sie die Cousins für fünf Tage beherbergt und verköstigt hat. Dafür!! Schon gleich gar nicht. Schließlich ist das Familie! Sie meinte, Ziad solle es für seine Familie in Syrien verwenden.
Ein “Aussetzer”…
Leider gab es bei dem Aufenthalt wieder einen „Aussetzer“ von Hamza. Er hat im Saturn-Markt nicht das Spiel für die X-Box bekommen, das er wollte (es war ab 16 Jahre) und hat sich dort und dann auch noch auf der Straße so aufgeführt, dass andere Leute aufmerksam wurden. Ziad meinte, dass Hamza – zum Glück – sagte, dass Ziad sein Bruder sei, als er danach gefragt wurde. Ich kann es mir lebhaft vorstellen: Ein erzürnter, tobender Zwölfjähriger auf der Straße, ein Ziad daneben (der durchaus auch laut werden kann und dann auch bedrohlich aussieht) und die Cousine dabei. Hamza tobend, weinend, ich traue es ihm zu, dass er sich auch auf die Straße gelegt hat! Ziad fragt, was gewesen wäre, wenn er gesagt hätte, das ist nicht mein Bruder! Ich stelle mir vor, wie aufmerksame Passanten das Jugendamt verständigen.
Als ich Ziad frage, wie das war auf der Reise von Damaskus nach Hochstadt, sagt Ziad: „Ich war sehr vorsichtig mit Hamza.“ – Ich frage weiter…
Zwischenbemerkung auf einer anderen Ebene: Ich lerne fragen und nachfragen. Neugierig nachfragen war für mich bisher negativ besetzt. Ich schätzte es bisher als Tugend ein, nicht viel gefragt zu haben. Nachfragen oder auf eine Antwort warten oder gar darauf drängen fand ich bisher als Eingriff in das Leben des Anderen. Richtungswechsel erforderlich! Zwischenbemerkung beendet. …
ich frage also weiter, wie das in Syrien war mit Hamza und seinem Verhalten. Ziad sagt, dass er dort auch so war. Und seine Eltern, was haben die getan? Sie haben ihn in Ruhe gelassen und weggeschickt, aber wenn es so schlimm war wie da auf der Straße, da habe sein Vater ihn auch geschlagen. Ich erzähle, dass wir mit unseren eigenen Kindern wohl auch so gehandelt hätten. Während sich Hamza bestimmt auf die X-Box bei uns daheim in seinem Zimmer freut, sagt Ziad, dass er es lieber ruhig hat. In Bochum sind so viele Menschen, es wäre dort so laut und er freut sich auf sein eigenes, stilles Zimmer.
Kein Konto ohne Aufenthaltsbescheinigung
2. April 2016: Wir waren in Hochstadt auf der Raiffeisenbank. Paul dachte, dass es sinnvoll ist, ein Konto bei der „Kartoffelbank“ zu eröffnen, weil es viele Geldautomaten in der Gegend gibt. Aber es wird für die Eröffnung eines Kontos ein Aufenthaltstitel verlangt. Wir haben aber außer der Bestallungsurkunde des Vormunds und der Meldung des Einwohnermeldeamtes unserer Gemeinde noch kein Papier, dass offiziell bestätigt, dass Ziad legal im Land ist. Es fehlt noch eine Aufenthaltsbescheinigung, die eigentlich für jeden ausgestellt wird, der einen Asylantrag in Deutschland stellt. Nicht einmal ein einfaches Guthabenkonto ohne Möglichkeit zum Dispo-Kredit darf eröffnet werden. Daheim ruft Paul bei der Postbank an, wo wir selbst Kunden sind. Dort macht uns eine freundliche Frau Hoffnung auf die mögliche Kontoeröffnung sogar mit Prämie für die Kundenwerbung.
6. April 2016: Hamza steht heute an der Markierung hinter der Küchentür. Seit dem 20. Februar ist er schon einen Zentimeter gewachsen. Am Nachmittag ist er mit Jungs aus dem Dorf oft beim Bolzplatz. Gerne fährt er mit dem Fahrrad beim Hundespaziergang mit. Mit dem Fahrrad sind wir am Wochenende nach Hochstadt zum Versuch der Kontoeröffnung gefahren. Hamza war nach acht Kilometern richtig kaputt. Er saß bzw. lag in der Raiffeisenbank ziemlich fertig und war auch erst nach einem Eis im Stadtcafe wieder etwas besser drauf. Auf der Rückfahrt haben wir ihn zwischendurch immer wieder unterstützt beim Fahren.
Ziad ist mit seinem Deutschlernen schon beim Konjunktiv angelangt. Warum folgt nach „würde“ der Infinitiv des Verbs und nach „hätte“ nicht? Na, wer weiß das? Mit solchen Fragen beschäftigen wir uns. Wir freuen uns über „neudeutsch“: Boulevard-Magazine, Jackpot-Gewinn und ähnliche Konstruktionen aus verschiedenen Sprachen. Composita, also zusammengesetzte Namenwörter funktionieren mit englisch-deutsch, oder französisch-deutsch. Ziad überlegt, wie sie wohl in arabisch-deutsch aussehen würden. Wir überlegen, ob das dann wohl von rechts nach links oder von links nach rechts zu lesen ist.
Zahnarzt: Der Arbeitgeber zahlt, die Versicherung nicht
Es ist Frühling geworden, auf der Terrasse haben wir Kaffee getrunken, Ziad und Ahmad haben Shisha geraucht und die Pflanzen stehen wieder draußen. Ziad trägt das schwarze T-Shirt, das er auf dem Video trägt, welches ihn bei der Ankunft auf Lesbos zeigt. Er sagt mir, dass er es von einem Freund in Syrien bekommen hat. Ziad war zum zweiten Mal beim Zahnarzt, gleich drei Zähne im Oberkiefer wurden saniert. Die private Kranken-Versicherung legt sich quer wegen der Anerkennung der Zahlungen von 20 Prozent zur Krankenversicherung. Mein Arbeitgeber zahlt die 80 Prozent ohne Nachweis der Aufenthaltserlaubnis.
Paul und ich sitzen mit Ziad auf dem Sofa in seinem Zimmer und schauen uns an: „Das Haus, das Verrückte macht.“ Wie komme ich an Passagierschein A38 (von Asterix und Obelix). Aber eigentlich interessiert uns die Krankenversicherung und die Kontoeröffnung nicht so sehr wie die Möglichkeit endlich an einen Aufenthaltstitel zu kommen. Immer wieder merken wir, wenn die Rede darauf kommt, dass der Ausweis und die Anhörung wichtig sind und als nächste Schritte unbedingt in nächster Nähe kommen sollten. Morgen ist erst mal Frau Faber (Vormund) bei uns zum Entwicklungsgespräch und der Erstellung des weiteren Hilfeplans.
7. April 2016: Heute war das Hilfeplangespräch. Ich habe heute erst verstanden, dass Ziad keinen Vormund mehr hat, aber einen Hilfeplan vom Jugendamt braucht, in dem klar aufgeschrieben wird, warum er noch Unterstützung braucht und nicht selbstständig leben kann. Frau Leusenink ist mit einer protokollierenden Praktikantin da und bespricht diesen Hilfeplan. Er bekommt ein Dokument, auf dem der Aufenthaltstitel „Duldung eines Asylbewerbers“ aufgeschrieben ist.
Bei Hamza ist noch Vormund Frau Faber da und außerdem auch noch ein junger Mann, der Übersetzungshilfe leistet. Hamza ist am Anfang sehr schüchtern und zurückhaltend. Seine gebrochene Hand hätten wir beim Vormund melden müssen. Frau Leusenink ist wie Paul der Meinung, dass man sich nicht nur um die berufliche Zukunft von Ziad kümmern darf. Wichtig für Hamza sind auch Kontakte zu Klassenkameraden und Freizeitaktivitäten. Bei Ziad sprechen wir außerdem noch über Fitnessstudio (das nicht mehr in Frage kommt), Ramadan und Schlafgewohnheiten.
Aber auch für uns neue Aspekte des Zusammenlebens kommen zur Sprache. Hamza spricht zum Beispiel nur sehr wenig mit den Eltern. Ziad meint, dass ihm außer „Hallo, wie geht es euch? Mir geht es gut.“ nichts weiter einfallen würde. Mir liegt schon seit langem in meinen Gedanken etwas quer und mit einem sehr seltsamen Gefühl im Bauch freue ich mich: Es ist „positiv“, dass Hamza bei uns nie nach seinen Eltern oder Geschwistern fragt. Ich habe von mir aus nicht daran gedacht, das zum Thema zu machen.
Wie drastisch kann eine Anhörung sein?
Hamza wird wenige Minuten nach dem Gesprächsende von Toni zum Fußball abgeholt. Paul hat den Kunststoff-Gips mit einem Seitenschneider geöffnet. Hamzas Haut sieht ziemlich mitgenommen aus. Er kratzt beim Gespräch daran herum. Als er später vom Fußballspielen wiederkommt, hat sich der Zustand schon normalisiert. Erst nach über zweieinhalb Stunden verabschiedet sich Frau Leusenink. Wir finden, dass sie ihre Arbeit sehr gut macht und melden ihr das auch zurück.
Frau Faber hat sehr drastisch ausgemalt, wie eine Anhörung stattfinden kann. Sie meinte, dass es sein kann, dass man zwei Stunden wartet und dann nur fünf Minuten befragt wird, es kann aber auch sein, dass man zehn Minuten wartet und danach über eine Stunde genauestens ausgequetscht wird. Sie meinte, dass die Fragen durchaus auch unangenehm sein können. Es kann sein, dass man gefragt wird, in welcher Grundschule man war und wie die Statue an der dritten Straßenecke ausgesehen hat. Es kann sein, dass man genau befragt wird, wie viele Menschen man hat sterben sehen. Es kann sogar gefragt werden, welche Farbe das Auto hatte, das die Bombe trug, welche die Menschen zerfetzt hat. Es kann sein, dass die Fragen richtig tief gehen.
Es kann aber auch sein, dass alles erschreckend oberflächlich bleibt und trotzdem entschieden wird. Man sollte glaubwürdig, selbstbewusst und zuversichtlich und wahrhaftig in das Gespräch gehen. Von uns kann jemand mitgehen, es kann aber sein, dass wir dann trotzdem draußen warten müssen. Was wird da noch auf uns zukommen?
Mathilde Vietze
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Lieber Stefan, ich finde es wirkiich prima, daß Du diese Serie an Land
gezogen hast. Auch wenn ich oft ganz anderer Meinung bin als Du:
Hier zeigst Du g l a u b w ü r d i g e n Journalismus! Weiter so!